25. KAPITEL
Das Musikzimmer

 

Susan blieb erneut am Rand des Lichtkegels stehen und betrachtete die Rückseite des Hauses. Sie ließ den Blick langsam von der entferntesten Ecke über die weithin sichtbare gewöhnliche Gartentür wandern und von dort bis zum anderen Ende des Hauses. Genau wie zuvor ihr Bruder, registrierte sie den Kies unter den Fenstern und die dornigen Büsche rund ums Erdgeschoss. Mit Ausnahme einer einzigen, etwa einen Meter breiten Lücke direkt ihr gegenüber bildeten sie einen dicht ineinander verwachsenen, undurchdringlichen, lebendigen Kordon.

Ihr war augenblicklich klar, dass die Lücke in dieser Barriere direkt auf den Pfad durch den Wald führen musste und von dort zu der versteckten Garage, an der Diana geduldig warten würde, bis etwas geschah.

Eine Sekunde starrte Susan auf diese Stelle. Sie wirkte wie ein Versehen bei der Gartenplanung oder als ob eine einzelne Pflanze abgestorben und entfernt worden wäre, und dann wurde ihr klar, was es tatsächlich war: die geheime Tür.

Aus dieser Entfernung konnte sie weder Gestalt noch Größe dieses Eingangs erkennen. Die Wand des Hauses schien nahtlos weiterzugehen. Ohne die Auskunft des Bauunternehmers hätte sie dort nie eine Tür vermutet. Sie konnte nicht sagen, wo die Klinke oder ein Schloss versteckt war, und ihr war auch bewusst, dass man sie vielleicht von außen gar nicht öffnen konnte. Doch Susan hielt es für wesentlich wahrscheinlicher, dass es irgendeine versteckte Schließvorrichtung gab.

Und dass sie nicht verriegelt war.

Mir bleibt keine Zeit, dachte sie.

Susan warf einen letzten Blick auf die Fenster, um drinnen ihren Bruder oder sonst etwas auszumachen und irgendeinen Hinweis zu finden, was im Haus vor sich ging, doch es rührte sich nichts. Sie spannte die Muskeln ihrer Arme, dann der Beine, sprach mit ihrem Körper wie mit einem Freund und sagte: »Mach schnell, bitte. Nicht zögern, immer weitergehen, egal, was passiert.« Sie holte tief Luft, packte ihre Maschinenpistole fest mit beiden Händen und merkte im nächsten Moment, wie sie aufstand, vortrat und in halb gebückter Stellung über die erleuchtete Grasfläche rannte. In dieser Sekunde war sie sich nur dieser schrecklichen Helligkeit bewusst; das Gras zu ihrem Füßen schien mit scharfen Klingen gespickt; statt der kühlen Luft des Waldes blieb nur ihr dampfender, keuchender Atem. Ihre Beine fühlten sich bleischwer an, und jedes Mal, wenn ihre Sohlen mit einem leisen Geräusch auf dem feuchten Rasen wegrutschten, klang es ihr wie ein Alarmsignal in den Ohren. Sie bildete sich ein, Sirenen aufheulen zu hören. Ein Dutzend Mal hörte sie das Knallen von Schüssen, und ein Dutzend Mal rechnete sie jeden Moment damit, von Kugeln getroffen zu werden. Sie rannte auf des Messers Schneide zwischen Realität und Halluzination. Wie ein Schwimmer, der keine Luft mehr bekommt, verzweifelt ans rettende Ufer will, strebte sie mit letzter Kraft zu der Wand am Ende ihres rasanten Laufs.

Und so schnell, wie sie losgelaufen war, hatte sie plötzlich ihr Ziel erreicht.

Susan warf sich an eine Stelle, die ein wenig im Schatten lag, und kauerte sich an die Holzverkleidung. Nachdem sie bei ihrem Sprint so auffällig, groß und laut gewesen war, versuchte sie jetzt, sich ganz klein zu machen. Ihre Brust hob und senkte sich heftig von der Anstrengung, ihr Gesicht war heiß, und sie schnappte gierig nach der Nacht, um sich zu beruhigen.

Sie wartete einen Moment, bis das Trommeln des Adrenalins in ihren Ohren nachließ, und als sie sich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte, drehte sie sich um und tastete kniend die Wand nach der Tür ab, von der sie wusste, dass sie dort sein musste.

Susan fühlte die rauhe Oberfläche des Holzes unter den Fingern, staunte, wie kalt es war, und stieß auf einen winzigen Wulst, den die Schindeln perfekt kaschierten. Sie suchte weiter und entdeckte zwei Metallscharniere unter dem Holz. Hoffnungsvoll tastete sie jede Platte einzeln ab, um eine zu finden, die sich anheben ließ, um darunter einen Griff oder Knauf zu ergreifen. Sie hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was sie tun würde, falls die Tür abgeschlossen war; das kleine Brecheisen steckte immer noch in ihrem Gürtel, doch was es ihr bringen würde, war fraglich.

Sie überprüfte jede Schindel, fand jedoch keinen Knauf oder Knopf. »Verdammt noch mal«, zischte sie. »Ich weiß, dass es dich hier irgendwo gibt.«

Vergeblich zog sie weiter an jedem Paneel.

»Bitte«, flehte sie. Sie bückte sich weiter nach unten und strich mit den Händen über die Kante der Holzverkleidung, wo sie auf den Betonsockel traf. Dort, unter dem Rand des Holzes, ertastete sie etwas Metallenes, ähnlich einem Pistolenabzug. Sie befingerte es eine Weile, schloss dann die Augen, als rechnete sie damit, das Ding könne jeden Moment eine Bombe zünden, wenn sie daran zog, wusste andererseits jedoch, dass ihr keine Wahl blieb.

»Sesam öffne dich«, flüsterte sie.

Der Riegelmechanismus machte ein leichtes ratschendes Geräusch, und die Tür sprang auf.

Sie verharrte wieder, eben lang genug, um noch einmal in Ruhe und in Freiheit Luft zu holen, vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben. Dann schob sie die Tür behutsam auf. Sie bewegte sich mit einem unangenehmen Schaben, als ob Holz absplitterte. Als sie einen vielleicht zwanzig Zentimeter breiten Spalt geöffnet hatte, spähte sie um die Ecke ins Haus. Vor ihr war es schwarz. Das einzige Licht, das es gab, drang mit ihr von draußen ein. Sie trat auf einen kleinen Treppenabsatz, dann führten wenige Stufen zu einem spiegelglatten Boden hinunter, der wie Plastik schimmerte – ein leicht zu reinigendes Material. Die Wände des Raums waren kahl und weiß.

Susan öffnete die Tür noch ein Stück, so dass sie hineinschlüpfen konnte, und das zusätzliche Licht reichte bis in die hintersten Winkel des Raums. Sie hörte die Stimme nur eine Sekunde, bevor sie die Gestalt sah, die an der Wand kauerte.

»Bitte«, hörte Susan. »Töten Sie mich nicht.«

»Kimberly?«, fragte Susan. »Kimberly Lewis?«

Das abgewandte Gesicht drehte sich augenblicklich zu ihr um und sah sie hoffnungsvoll an. »Ja, ja, helfen Sie mir, bitte, helfen Sie mir!«

Susan sah, dass die junge Frau mit Hand- und Fußschellen gefesselt war, die mit einer Stahlkette an einem Ring in der Wand befestigt waren. Es gab zwei weitere, noch nicht benutzte Ringe in Schulterhöhe, in einigem Abstand voneinander. Kimberly war nackt. So wie sich ein Hund aus Angst vor Schlägen an den Boden duckte, kauerte sie da; ihre Rippen traten hervor, als wäre sie ausgezehrt.

Susan kam vollends herein, so dass sie einen Moment das schwache Licht blockierte, dann stieg sie die Stufen hinunter und schlich zu dem Mädchen.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie und merkte im selben Moment, wie dumm die Frage war. »Ich meine, bist du verletzt?«

Die junge Frau versuchte, Susans Knie zu fassen, doch die Kette hinderte sie daran, sich mehr als vielleicht fünfzig Zentimeter in jede Richtung zu bewegen. Ihre Beine waren mit getrocknetem Blut und Kot verschmiert. Sie roch nach Durchfall und Angst.

»Retten Sie mich, bitte, retten Sie mich«, wiederholte das Mädchen in Panik.

Susan blieb außerhalb der Reichweite ihrer Hände. Manchmal, wurde ihr bewusst, musste man dem Ertrinkenden die Hand reichen. Ein anderes Mal ging man besser auf Distanz, damit er einen nicht mit in die Tiefe zog.

»Bist du verletzt?«, fragte sie in scharfem Ton.

Der Teenager schluchzte und schüttelte den Kopf.

»Ich werde versuchen, dich zu retten«, versprach Susan und staunte selbst über ihren kalten Ton. »Gibt es hier drinnen Licht?«

»Ja, das heißt, nein. Der Schalter ist draußen in dem anderen Zimmer«, erwiderte das Mädchen und deutete mit dem Kopf auf eine Tür an der gegenüberliegenden Wand.

Susan nickte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. An einer Wand lehnte etwas, das wie eine Rolle Plastikfolie aussah. Die Decke war reichlich mit Schalldämmung versehen. Drei Meter von der Stelle entfernt, an der Kimberly angekettet lag, sah Susan einen Holzstuhl sowie einen blitzenden Notenständer aus Stahlrohr mit mehreren aufgeschlagenen Heften darauf.

Susan ging langsam durch das Zimmer. Behutsam legte sie die Hand an die Tür, die zum Hauptteil des Hauses führte. Der Griff ließ sich nicht drehen. Die Tür war abgeschlossen. Sie sah einen einzigen Schließriegel, doch es gab keinen Schlüssel, um ihn von innen zu öffnen.

Der Schlüssel steckt von außen, dachte sie. Niemand soll diesen Raum verlassen können. In diesem Moment war sie unsicher, weshalb ihr Vater die Geheimtür nach draußen offen gelassen hatte. Plötzlich kroch ihr ein Verdacht eiskalt den Rücken hoch: Er hatte ihr Eindringen von dieser Seite geplant.

In einem Anflug von Panik schnappte sie nach Luft.

Er weiß, dass ich hier bin. Er hat mich über den Rasen laufen sehen. Und jetzt sitze ich genau da, wo er mich haben will, in der Falle.

Sie fuhr hastig herum und blickte sehnsüchtig zum Ausgang, während ihr eine innere Stimme zuflüsterte, sie sollte schnellstens die Flucht ergreifen, ehe es zu spät sei.

Sie kämpfte gegen ihre Emotionen an. Sie schüttelte innerlich den Kopf und schärfte sich ein: Nein. Es ist alles in Ordnung. Du bist gerannt, und niemand hat dich gesehen. Vorerst ist es sicher.

Susan blickte zu Kimberly hinüber und erkannte, dass an Flucht nicht zu denken war. Ihr kam der Gedanke, ob das vielleicht das letzte Spiel war, das ihr Vater sich für sie ausgedacht hatte: ein einfaches, tödliches Spiel mit einer einfachen tödlichen Wahl. Rette dich selbst und überlasse sie ihrem Tod. Oder bleib und stelle dich dem, was durch die verschlossene Tür dort kommt.

Susan merkte, wie ihre Unterlippe unter der Wucht ihrer Zweifel zu zittern begann.

Noch einmal sah sie das Mädchen an. Der Blick, den ihre weit aufgerissenen Augen in sie bohrten, war zum Erbarmen. »Keine Angst«, versuchte Susan, sie zu beruhigen, und staunte selbst über die Zuversicht in ihrem Ton, die sie für ziemlich unangebracht hielt. »Wir schaffen das schon.« Noch während sie sprach, sah sie etwas kleines Schwarzes etwa ein, zwei Meter von den Beinen des Mädchens entfernt, so dass sie es nicht erreichen konnte, am Boden liegen.

»Was ist das?«, fragte sie.

Die junge Frau drehte sich, durch die Handschellen behindert, mühsam um und sah in die Richtung. »Ein Babyphone«, flüsterte sie. »Er hört mich gerne.«

Susan riss vor Angst die Augen auf. »Sag nichts!«, flüsterte sie hastig. »Er darf nicht wissen, dass ich hier bin!«

Das Mädchen wollte gerade etwas antworten, doch Susan sprang mit einem Satz zu ihr hinüber und hielt ihr die Hand auf den Mund. Als sie sich zu der Gefesselten hinunterbeugte, wurde ihr von dem Geruch fast übel, und sie wisperte Kimberly ins Ohr: »Das Einzige, was ich habe, ist das Überraschungsmoment!«

Hoffe ich jedenfalls, fügte sie in Gedanken hinzu.

Sie nahm die Hand erst weg, als Kimberly nickte, um zu zeigen, dass sie begriffen hatte. Susan beugte sich vor und flüsterte ihr zu: »Wie viele sind oben?«

Kimberly hielt zwei Finger hoch.

Susan dachte: zwei plus Jeffrey.

Sie hoffte, dass er noch am Leben war. Sie hoffte, dass ihr Vater nicht über das Babyphone gehört hatte, wie sie zur Tür hereinkam. Sie hoffte, dass er ihrem Bruder seine Trophäe zeigen wollte, denn sie wusste sich keinen anderen Rat, als einfach abzuwarten.

Sie richtete sich auf und prägte sich ein, wo sich die Tür zum übrigen Haus befand. Dann lief sie zu der Treppe und zählte die Schritte, die sie brauchte, bis sie den Aufgang erreicht hatte. Es waren sechs Stufen bis zum Absatz. Sie legte die Hand an die Wand und stieg die Treppe hoch.

Das war für das in Panik aufgelöste Mädchen zu viel.

»Gehen Sie nicht weg!«, weinte sie.

Susan schoss herum und schickte ihr einen wütenden Blick, der das Mädchen sofort zum Verstummen brachte. Dann streckte Susan die Hand aus und schob die Tür nach draußen zu, so dass der Raum vollständig im Dunkel lag. Sie drehte sich behutsam auf der Treppe um, indem sie sich wieder an der Wand abstützte. Sie zählte zuerst die Stufen und dann die Schritte quer durch den Raum. Der Geruch, der von dem Mädchen ausging, half ihr, sie zu lokalisieren. Kimberly Lewis stieß einen kurzen schluchzenden Schrei aus, in dem sich Angst und Erleichterung mischten, als sie merkte, dass Susan wieder an ihrer Seite war.

Susan ließ sich neben dem gefesselten Mädchen nieder.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, so dass sie mit dem Gesicht zum Musikzimmer saß. Sie hielt einen Moment die Maschinenpistole in der Hand und erkannte, dass sie ihr in dieser Nacht nicht viel nützen würde. Sie war dazu konzipiert, eine breite Feuergarbe abzugeben und jeden zu töten, der in ihren Radius kam. Das brachte ihr nichts, wenn sie nicht riskieren wollte, neben ihrem Vater und der Frau, mit der er jetzt zusammen war, auch ihren Bruder zu töten. Eine halbe Sekunde lang wog sie das Risiko ab, war sich aber augenblicklich darüber im Klaren, dass sie, wären ihre Rollen vertauscht, von ihrem Bruder erwarten würde, sie dieser Gefahr nicht auszusetzen. Deshalb legte sie die tödliche Waffe neben sich auf den Boden, nahe genug, um sie zu finden, falls sie darauf angewiesen war, und auch nahe genug an Kimberlys Händen, damit sie vielleicht das Mädchen retten konnte. Dann griff sie nach der Neun-Millimeter-Pistole in ihrem Schulterholster unter ihrer Weste. Es war heiß; sie zog die Mütze vom Kopf und schüttelte ihr Haar. Kimberly zuckte zusammen und schob sich so nah an Susan heran, wie es ihre Fesseln erlaubten. Das völlig verängstigte Mädchen schnappte nach Luft und entspannte sich ein wenig, von Susans Gegenwart getröstet. Susan legte ihr die Hand auf den Arm und versuchte, ihrer beider Nerven zu beruhigen. Dann entsicherte sie ihre Pistole, schob Munition in die Kammer und richtete die Waffe auf den schwarzen Raum vor ihnen, so genau wie möglich in Richtung der Tür. Als wäre Susan mit einem Schlag erschöpft, wog die Pistole schwer in ihren Händen. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie, zielte geradeaus und wartete in dieser Stellung wie der Jäger in der Deckung auf das Wild, indem sie sich zu Geduld, zu Umsicht und Wachsamkeit ermahnte. Sie hoffte, dass sie das Richtige tat. Sie sah keine Alternative.

 

Jeffrey setzte sich mit dem schleppenden Gang eines Mannes auf dem Weg zur Hinrichtung in Bewegung.

Caril Ann Curtin war unmittelbar hinter ihm, und der Druck ihrer Maschinenpistole in der Mulde hinter seinem rechten Ohr vertrieb jeden Gedanken daran, etwas Unvernünftiges zu tun, wie etwa herumzuwirbeln und zu kämpfen. Die Nachhut bildete sein Vater wie ein Priester in der Prozession, nur dass er nicht die Bibel in der Hand hielt, sondern ein Messer. Caril Ann tippte jeweils mit dem Lauf gegen seinen Schädel, wenn er die Richtung ändern sollte.

Das Haus und seine Einrichtung nahm er wie von fern wahr. Er spürte, dass Angst vor dem, was bevorstand, ihn mit einem Gefühl der Ohnmacht überschwemmte, so dass er alle Kraft zusammennehmen musste, um einen einzigen vernünftigen Gedanken fassen zu können.

Nichts war so gelaufen, wie er es erwartet hatte.

Er hatte mit einer einzigen Konfrontation zwischen ihm und seinem Vater gerechnet, doch dazu war es nicht gekommen. Alles war verworren. Diffus. Kein Gefühl, keine Richtung war klar zu fassen. Es war wie die lähmende Angst des kleinen Kindes am ersten Schultag, an dem es aus der Haustür und damit aus dem vertrauten, sicheren Hort geschubst wird, den es für selbstverständlich genommen hatte. Er atmete einmal heftig ein und suchte nach dem Erwachsenen in ihm, um den Kampf mit dem Kind aufzunehmen.

Sie erreichten die Tür zum Keller.

»Da runter, wenn ich bitten darf, mein Sohn«, befahl Curtin. Der Abstieg in die Hölle, dachte Jeffrey.

Caril Ann drückte ihm den Pistolenlauf fest an den Schädel.

»Es gibt eine berühmte Geschichte, Jeffrey«, fuhr Curtin auf der Treppe fort. »›The Lady or the Tiger‹ – ›Die Lady oder der Tiger?‹. Was befindet sich hinter der Tür? Der sofortige Tod oder die augenblickliche Wonne? Und hast du gewusst, dass es zu der Geschichte eine Fortsetzung gibt? Mit dem Titel ›The Discourager of Hesitency‹ – frei übertragen: ›Die Frau, die einem das Zaudern austreibt‹. Diesen Part übernimmt meine wunderbare Caril Ann. Denn Unentschlossenheit kommt einen in dieser Welt teuer zu stehen. Menschen, die nicht die Gelegenheit beim Schopfe packen, haben schnell das Nachsehen.«

Sie hatten das Kellergeschoss erreicht und standen in einem modern eingerichteter Hobby- und Fitnessraum. An einer Wand befand sich ein Großbildfernseher, in einigem Abstand davor ein bequemes Ledersofa. Sein Vater blieb stehen und nahm die Fernbedienung von einem Beistelltisch. Er hielt sie in Richtung des Apparats, und auf dem Bildschirm erschien ein grauschwarzes Rauschen.

»Amateurfilme«, sagte sein Vater.

Er klickte ein zweites Mal auf die Fernbedienung, und ein verblasstes Video erschien. Sein Vater musste den Ton ausgeschaltet haben, denn die Bilder waren stumm – und umso grauenvoller. Auf der Leinwand sah Jeffrey eine nackte junge Frau, die mit den Handgelenken an Ringen hing, welche in die Wand eingelassen waren. Sie flehte denjenigen, der die Kamera hielt, an, und die Tränen strömten ihr über das angstverzerrte Gesicht. Die Kamera zoomte dicht an ihre Augen heran, aus denen das letzte Stadium der Erschöpfung, Angst und Verzweiflung sprach. Jeffrey verschlug es den Atem, als er das lebendige Gesicht des letzten Opfers wiedererkannte, das er nur nach ihrem Tod gesehen hatte. Sein Vater drückte auf einen anderen Knopf, und der Bildschirm erstarrte zum Standbild.

»Es erscheint immer noch weit weg, nicht wahr?«, fragte sein Vater, in dessen Stimme sich freudige Erregung schlich. »Weit weg und unmöglich. Nicht real, obwohl wir beide wissen, dass es einmal sehr real und sehr intensiv gewesen ist. Hyperreal geradezu.«

Sein Vater drückte wieder auf die Fernbedienung, und das Bild verschwand.

Caril Ann drückte Jeffrey den Pistolenlauf schmerzhaft gegen den Kopf und schob ihn quer durch den Hobbyraum in Richtung einer Tür, die, wie Jeffrey wusste, zum Musikzimmer führte.

Curtin lächelte. »Von jetzt an liegen sämtliche Entscheidungen bei dir. Du hast die Wahl, du verfügst über sämtliche Informationen. Du hast alles über Mord gelernt, was es zu lernen gibt, bis auf eins: Wie es ist, jemandem eigenhändig das Leben zu nehmen.«

Curtin trat neben die Tür und drückte auf einen Lichtschalter. Dann drehte er den Schlüssel im Schnappschloss. Wie der Assistent eines Chirurgen nahm er Jeffreys rechte Hand und drückte ihm den Griff des Messers hinein. Jetzt, da er immerhin bewaffnet war, bohrte Caril Ann ihm den Lauf ihrer Pistole noch tiefer ins Fleisch. Curtin sah sich noch einmal grinsend zu Jeffrey um und weidete sich an den Qualen, die er ihm bereitete.

Sein Gesicht glühte von der Erregung, mit der er diesen Augenblick genoss, und Jeffrey erkannte, dass er vor Jahren von seiner Mutter gerettet worden war, doch wie ein uneinsichtiges Kind, das nicht wahr haben will, was alle ihm sagen, hatte er nie ganz begriffen, dass er befreit, dass er gerettet worden war. Durch seine eigene Widerspenstigkeit, gepaart mit Pech und Unentschlossenheit, hatte er sich genau zu dem Moment zurückkatapultiert, als er neun Jahre alt war und über die Schulter noch einmal den Mann anstarrte, der jetzt neben ihm stand. Er hätte nie zurückblicken sollen. Nicht ein einziges Mal in fünfundzwanzig Jahren. Stattdessen hatte er dieses ganze Vierteljahrhundert seines Lebens mit dem Blick über die Schulter verbracht. Jetzt hatte ihn das, was die ganze Zeit in seinem Rücken gelauert hatte, eingeholt, und es versuchte, seine Zukunft zu zerstören.

Er wollte sich wehren, wusste jedoch nicht, wie.

»Caril Ann«, versprach Curtin in scharfem Ton, »wird dir jede Zögerlichkeit austreiben.« Wieder begegneten sich die Augen von Vater und Sohn über die Kluft der Jahre und der Verzweiflung hinweg.

»Willkommen daheim, Jeffrey«, sagte er, und die Tür zum Musikzimmer schwang auf.

 

Die Schalldämmung war wirkungsvoll; weder Susan noch das wimmernde, in Panik aufgelöste Mädchen, das neben ihr kauerte, hatten hören können, dass sich jemand dem Zimmer näherte, so dass beide jungen Frauen nach Luft schnappten, als plötzlich das Deckenlicht anging. Susan konnte einen Schrei nur unterdrücken, indem sie sich fest auf die Lippe biss. Schweiß rann ihr in die Augen, so dass sie brannten, doch Susan rührte sich nur, um den Lauf ihrer Pistole genauer auszurichten.

Als die Tür abrupt aufschwang, straffte sich ihr Finger am Abzug, und sie hielt den Atem an. Sie hörte ein einziges Wort, eine einzige Stimme, die sie um Jahrzehnte zurückversetzte, doch der einzige Mensch, den sie sah, war ihr Bruder, der stolpernd durch die Tür geschoben wurde.

Er blickte durch den Raum, und ihre Augen begegneten sich. Bei seinem Anblick wurde ihr schlagartig bewusst, dass andere Personen unmittelbar hinter ihm folgten, und in dieser Sekunde rief sie laut:

»Jeffrey, nach rechts!«

Dann drückte sie ab.

Zögerlichkeit lässt sich in kleinsten Zeiteinheiten messen. In Sekundenbruchteilen sogar. Jeffrey hörte den Befehl seiner Schwester und warf sich zu Boden, um aus der Schusslinie zu kommen, doch nicht schnell genug, denn der erste Schuss aus der Neun-Millimeter zerfetzte ihm über der Hüfte seitlich das Fleisch.

Als er sich auf dem Boden wälzte und ihm der Schmerz rot glühend in die Augen stach, sah er, dass Caril Ann augenblicklich vorgetreten und in Schussstellung auf ein Knie gesunken war. Sie feuerte mehrmals schnell hintereinander, was dank des Schalldämpfers so leise klang wie das Ploppen beim Öffnen einer Flasche. Doch jedem ihrer Schüsse folgte das tiefere Donnern der Neun-Millimeter. Die Kugeln schlugen gegen den Türrahmen und zersplitterten das Holz. Sie drangen in die Wände ein, dass sich Staubwolken über das Zimmer breiteten.

Als ein Schuss sein Ziel nicht verfehlte, gab es einen Schrei. Er konnte nicht sagen, von wem er kam. Es folgte eine lange Sekunde. Die Schießerei war ohrenbetäubend gewesen. Er wirbelte herum und stieß, halb aufgerichtet, das Messer der Frau neben ihm in den rechten Unterarm, damit sie die Waffe fallen ließ. Caril Ann heulte vor Schmerz auf und schwang die Waffe in Jeffreys Richtung, so dass er den Lauf nur wenige Zentimeter vor sich sah, als ein letzter donnernder Knall aus Susans Pistole ertönte, der allen anderen Lärm im Raum übertönte, auch Jeffreys eigenen Schreckensschrei. Dieser Schuss traf die Frau mitten in die Stirn, so dass ihr Gesicht direkt vor seinen Augen zu explodieren schien. Bevor sie nach hinten geschleudert wurde, spritzte eine rote Fontäne über ihn.

Der ganze Raum hallte von Schreien und Todesschüssen wider.

Jeffrey sackte rückwärts zu Boden, hörte, wie seine eigene Stimme beim Anblick der ihm fremden Frau mit dem zertrümmerten Gesicht etwas Unverständliches brüllte. Dann drehte er sich zu seiner Schwester um. Sie hatte ein kreideweißes Gesicht, noch immer die Neun-Millimeter im Anschlag und schien in ihrer knienden, schussbereiten Stellung wie festgefroren. Der Ladestreifen war leer, doch sie drückte immer wieder vergeblich den Abzug. An der Wand hinter ihr war Blut, und mehr Blut tropfte ihr aufs Sweatshirt.

»Susan!«

Sie antwortete nicht. Er kroch auf allen vieren zu ihr und streckte die Hand nach ihr aus. Dann hielt er mitten in der Bewegung inne, als hätte er Angst, sie zu berühren, solange er nicht wusste, wo sie getroffen war – als wäre sie ein zartes Geschöpf, das von der geringsten Berührung zerbrechen könnte. Er glaubte zu sehen, dass ein Schuss ihr das Ohrläppchen zerrissen hatte, bevor er in die Wand hinter ihr schlug; ein anderer hatte sie offenbar am Bein gestreift – ihre Jeans verfärbte sich schnell rotbraun – und ein dritter hatte sie an der Schulter getroffen, war jedoch an der kugelsicheren Weste von Agent Martin abgeprallt. Er versuchte, zuversichtlich zu klingen.

»Du bist verwundet«, sagte er. »Das wird schon wieder. Ich hole Hilfe.«

Dabei zuckte der Schmerz in seiner eigenen Seite glühend heiß wie elektrischer Strom.

Sie war bleich, ihr Gesicht angstverzerrt.

»Wo ist er?«, fragte sie.

»Ich bin hier«, erhob sich seine Stimme in ihrem Rücken.

In diesem Augenblick gab das junge Mädchen einen lange aufgestauten schrillen Schrei vollkommener Panik von sich, und als Jeffrey sich umdrehte, sah er seinen Vater über der gekrümmten Leiche von Caril Ann Curtin im Türrahmen hocken … Er hatte die Automatik seiner Frau in der Hand und richtete sie auf Jeffrey und die beiden Frauen.

 

Diana hörte den Schusswechsel und hatte das Gefühl, als bohrte sich die Angst wie Pfeile in ihren Körper. Die Stille, die auf die Salven folgte, war nicht weniger erschreckend. Sie sprang auf und rannte so schnell sie konnte durch die Dunkelheit des Waldes Richtung Haus. Jeder Zweig, jeder Grashalm, jedes Schlinggewächs auf ihrem Pfad drosselte ihr Tempo.

Sie stolperte, rappelte sich auf, drängte voran und versuchte, einen freien Kopf zu bewahren, statt den Horrorvisionen nachzugeben, die auf sie einstürzten und in schrecklichsten Farben ausmalten, was passiert sein könnte. Im Laufen packte sie die Pistole, die ihre Tochter ihr gegeben hatte, entsicherte sie mit dem Daumen und bereitete sich seelisch darauf vor, von ihr Gebrauch zu machen.

Sie erreichte den Rand der Dunkelheit und blieb stehen.

Die Stille, die ihr plötzlich entgegenschlug, war wie eine Wand. Sie atmete die kalte Luft, schmerzhaft wie Glasscherben.

 

Peter Curtin starrte seine beiden Kinder und das zitternde, schluchzende Mädchen an der Wand gegenüber an. Er sah Susan in die Augen und schüttelte den Kopf.

»Ich hatte mich geirrt«, erklärte er langsam. »Wie sich rausstellt, Jeffrey, ist deine Schwester der Killer.«

Susan, die plötzlich die Erschöpfung der Verwundung und der Anspannung überkam, hob wieder die Pistole und drückte den Abzug.

»Du würdest mich töten?«, fragte sie ihr Vater.

Sie ließ die Neun-Millimeter scheppernd zu Boden fallen.

»Beim Schach«, sagte sie mit geschwächter Stimme, »liegt die Macht bei der Königin, und ihr obliegen alle entscheidenden Züge.«

Curtin nickte. »Der Punkt geht an dich«, gab er beschwingt zu. »Wahrscheinlich wärst du mit dem Kerl in der Damentoilette auch ohne meine Hilfe fertig geworden«, fügte er hinzu. »Ich habe dich unterschätzt.«

Der Mörder hob die Waffe, um zu zielen.

In diesem Bruchteil einer Sekunde wurde Jeffrey bewusst, dass er sich ohne eine Pistole oder ein Messer gegen seinen Vater wehren musste. Die Erkenntnis kam ihm blitzschnell, und er begriff, wie er den Mann ihm gegenüber unschädlich machen konnte.

Trotz seiner Wunde und der Schmerzen lächelte er.

Es kam plötzlich. Unerwartet. Ein Ausdruck, der seinen Vater irritierte.

»Du hast verloren«, meinte der Sohn.

»Verloren?«, wiederholte sein Vater nach kurzem Zögern.

»Wieso?«

»Hast du gezählt?«, fragte Jeffrey spitz. »Hast du mitgezählt?«

»Gezählt?«

»Sag selbst, Vater, sind noch drei Kugeln in dieser Pistole? Denn falls nicht, nun ja, dann wirst du hier und jetzt sterben. Hier in diesem Raum, den du geschaffen hast. Das überrascht mich. Hattest du ihn nicht nur für all die anderen, die hier ermordet wurden erdacht, sondern auch für deinen eigenen Tod? Sieht dir eigentlich nicht ähnlich.«

Curtin zögerte wieder.

Jeffrey plapperte beinah mit einem Lachen weiter drauflos.

»Wie viele Schuss genau hat deine geliebte Frau und Gehilfin aus dieser Waffe abgegeben? Wollen wir doch mal sehen. In einen Ladestreifen gehen wie viel rein? Sieben Schuss? Neun? Ich glaube, sieben. Na ja, es war ihre Waffe, bist du also nicht so richtig damit vertraut? Und hatte sie die Gewohnheit, eine achte einzulegen? Schau dich mal um, du siehst die Löcher in der Wand. Susan blutet auch, an wie vielen Stellen? Wie oft hat deine Frau abgedrückt, bevor Susan ihr den Kopf weggeblasen hat?«

Curtin zuckte die Achseln. »Ist mir egal.«

»Tatsächlich?«, erkundigte sich Jeffrey. »Weil sich nämlich damit die Spielregeln ein bisschen verändert haben, meinst du nicht?«

Sein Vater antwortete nicht gleich, und Jeffrey zeigte auf die gespannte, schussbereite Uzi zu den Füßen seiner Schwester. Er hätte über sie hinweggreifen müssen, um sie zu erreichen. Kimberly Lewis war näher dran, und Jeffrey sah, dass ihre Augen trotz aller Panik die Waffe fixierten. Er wusste auch, dass sein Vater schießen würde, falls eine der Frauen danach griff.

»Du bist zweifellos mit einer solchen Waffe vertraut«, fuhr Jeffrey in ruhigem, ausdruckslosem und selbstsicherem Ton fort. »Es gibt im Grunde keine primitivere Waffe. Macht Kleinholz aus allem. Tötet wahllos, so wie du. Man muss nicht mal richtig zielen, um etwas zu treffen, nur in die Hand nehmen, sie hin und her schwenken und dabei abdrücken. Tötet von links bis rechts alles, was ihr in die Quere kommt. Macht ’ne ziemliche Schweinerei.« Er hoffte, dass das junge Mädchen die Anweisungen verstand.

»Das ist mir nicht neu«, erwiderte Curtin, eine Spur verärgert, »Ich sehe immer noch nicht, wie …«

»Die Wahl liegt also ganz bei dir«, unterbrach ihn Jeffrey, indem er Ton und Wortwahl seines Vaters nachäffte. »Deine erste Frage lautet: Kann ich alle töten? Denn wenn ich nicht drei Kugeln übrig habe, sterbe ich hier und jetzt. Und wer von uns wird dich wohl töten? Erschieß mich, und Susan ist noch da, die ihr Können bereits unter Beweis gestellt hat. Erschieß uns beide, und die kleine Kimberly schnappt sich die Uzi vom Boden und schickt dich ins Jenseits. Und wäre das nicht ein schmähliches Ende für einen Mann von deiner Größe? Von einem verängstigten Teenager durchsiebt? Das dürfte bei den anderen Mördern in der Hölle für einige Heiterkeit sorgen, wenn du zu ihrer Runde stößt. Ich hör sie jetzt schon feixen. Also, Vater, ab jetzt ist es deine Entscheidung. Was wird funktionieren? Wen willst du töten? Du weißt, dass in einer Minute hier eine Menge Schüsse gefallen sind. Ich frage mich, ob überhaupt noch eine Kugel übrig ist. Eine, mag sein. Vielleicht solltest du dir die selbst geben.«

Jeffrey, Susan und das Mädchen waren wie zu einem Tableau gefroren und rührten sich nicht von der Stelle.

»Du bluffst doch nur«, meinte Curtin.

»Lässt sich leicht feststellen. Du bist der Historiker. Wer hat die Asse und Achten?«

Curtin grinste. »Die Hand des Toten. Eine sehr interessante Pattsituation, Jeffrey. Ich bin beeindruckt.«

Der Mörder betrachtete die Waffe in seiner Hand und versuchte offenbar herauszufinden, wie viele Patronen der Ladestreifen noch enthielt, indem er sie wie ein Stück Obst auf dem Handteller wog. Jeffrey glitt mit der Rechten ein Stück näher an die Uzi auf dem Boden. Susan tat das Gleiche.

Curtin sah seinen Sohn an. »Green-River-Killer«, sagte er langsam. »Kannst du dich an den erinnern? Und dann natürlich mein alter Freund Jack. Warte mal, ach ja, der Zodiac-Killer aus San Francisco. Und dann der Kopfjäger von Houston. Los Angeles verdanken wir den Southside Slayer … Du verstehst, was ich meine?«

Jeffrey atmete tief durch. Er wusste genau, worauf sein Vater anspielte.

Das waren alles Mörder, die spurlos verschwunden waren, und die Polizei fragte sich verblüfft, wer sie waren und wo sie sich versteckten.

»Da irrst du«, widersprach er. »Ich werde dich finden.«

»Das glaube ich nicht«, konterte Curtin. Mit diesen Worten sprintete der Mörder, die kleine Automatik unverwandt auf die drei gerichtet, los. Er durchquerte den Raum, lief die Treppe zum Hinterausgang hoch und blieb noch einmal grinsend stehen. Dann warf er ohne ein weiteres Wort die Tür auf und sprang im selben Moment hinaus, als Sohn und Tochter gleichzeitig nach der Maschinenpistole griffen. Jeffrey war schneller, doch bis er die Waffe hochhielt und auf die Stelle zielte, an der sein Vater eben noch gestanden hatte, war der Mörder draußen, und die Tür schlug hinter ihm zu.

Susan hustete einmal. Sie versuchte das Wort Mutter herauszubringen, bevor sie das Bewusstsein verlor, schaffte es aber nicht mehr. Jeffrey war vor Schmerzen ebenfalls wie gelähmt und merkte, wie ihn ein Schwindelgefühl erfasste, das nicht weit von einer Ohnmacht entfernt war. Sein Bluff hatte ihn mehr Kraft gekostet, als er gedacht hätte. Indem er die Hand auf die Wunde in der Seite legte, kroch er ein Stück voran und versuchte, vor allem aus Sorge um seine Schwester, sich aufzurappeln. Erst jetzt fiel ihm ein, dass auch seine Mutter irgendwo in der Nähe sein musste. Er schleppte sich zu den Stufen und kämpfte mit der Bewusstlosigkeit wie ein Betrunkener an Deck eines schwankenden Schiffes. Er glaubte nicht, dass er es die Stufen hinauf schaffen würde, musste es aber zumindest versuchen. Vor Anstrengung rauschte es ihm in den Ohren, und seine Augen verdrehten sich. In einem fernen Winkel tief in seinem Innern hoffte er, dass sie alle diese Nacht überlebten, und mit diesem Gedanken sackte er zurück auf den Boden des Mordzimmers in das Dunkel totaler Erschöpfung.

 

Diana sah, wie die Gestalt eines Mannes aus der Geheimtür trat, und sie erkannte ihn im selben Moment an seinem raubtierartigen Gang. Die Wucht des Wiedererkennens nach so vielen Jahren ließ sie glücklicherweise einen Schritt zurückweichen, so dass sie aus dem Licht des Hauses in den tiefen Schatten eines hohen, breiten Baumes glitt. Sie sah, wie ihr früherer Mann in der Mitte des Rasens stehen blieb und die Waffe überprüfte, die er in Händen hielt. Sie sah, wie er den Ladestreifen herausnahm, und hörte sein kurzes, wieherndes Lachen, bevor er die leere Waffe wegwarf. Dann hob er wie ein Tier, das Witterung aufnimmt, den Kopf. Auch sie reckte sich vor und hörte genau in dem Moment, wie aus der Ferne eine Polizeisirene mit hoher Geschwindigkeit näher kam. Ihr Fahrer hatte somit Jeffreys Auftrag gewissenhaft erfüllt.

Sie drückte sich fester an den Baum und in das undurchdringliche Dunkel des Waldes. Sie sah, wie Peter Curtin die Richtung wechselte und mit großen Sätzen auf sie zu gelaufen kam. Er rannte schnell, doch nicht in Panik, sondern wie ein Sprinter, der die entscheidenden Bewegungsabläufe unendlich oft geübt hatte und jetzt, in den spannenden letzten Wettkampfsekunden, zeigte, was er konnte.

Er schien genau zu wissen, wohin er wollte.

Sie legte beide Hände um den Revolver und machte sich bereit. Plötzlich konnte sie seine Schritte auf dem Boden hören, das Rascheln der Zweige, die an seinen Kleidern zerrten, und dann seinen keuchenden Atem, als er in Richtung der Garage mit dem versteckten Fahrzeug rannte.

Curtin war nur wenige Schritte von ihr entfernt, auf gleicher Höhe mit dem Baum, hinter dem sie sich versteckte, als Diana direkt hinter ihm aus dem Schatten trat und so, wie sie es von Susan gelernt hatte, den Revolver mit beiden Händen hielt. »Möchtest du jetzt sterben, Jeff?«, flüsterte sie.

Die Wucht ihrer Stimme in seinem Nacken, so leise sie auch war, traf ihn wie ein Schlag in die Nieren, so dass er stolperte und fast vornüberfiel. Er fing sich und blieb abrupt stehen. Mit dem Rücken zu seiner früheren Frau hob er die leeren Hände in die Luft. Dann drehte er sich langsam zu ihr um.

»Hallo, Diana«, begrüßte er sie. »Ist eine Ewigkeit her, dass mich jemand Jeff genannt hat. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass du hier sein würdest, aber ich ging davon aus, dass die beiden dich lieber an einem entschieden sichereren Ort wissen wollten.«

»Ich bin an einem sicheren Ort«, erwiderte Diana. Sie zog den Hahn der Pistole zurück. »Ich habe Schüsse gehört. Sag mir, was passiert ist. Und lüge mich ja nicht an, Jeff, denn dann bringe ich dich auf der Stelle um.«

Curtin zögerte einen Moment, als überlegte er, ob er lieber weglaufen oder sich auf sie stürzen sollte. Er betrachtete die Pistole in ihren Händen und erkannte, dass beides tödlich wäre.

»Sie sind am Leben«, sagte er. »Sie haben gewonnen.«

Sie schwieg.

»Sie werden wieder gesund«, fügte er hinzu, um seiner Aussage mehr Gewicht zu geben. »Susan hat meine zweite Frau getötet. Sie ist eine verdammt gute Schützin. Ich habe meinen Augen nicht getraut. Sehr ruhig, selbst unter schwierigen Bedingungen. Auch Jeffrey hat nicht die Nerven verloren. Du kannst stolz auf sie sein. Wir können stolz auf sie sein. Jedenfalls sind sie beide verwundet, aber sie werden es überleben. Werden bald wieder Vorlesungen halten und Rätsel entwerfen, nehme ich an. Ach so, mein kleiner Gast heute Abend, Kimberly, der fehlt ebenfalls nichts, auch wenn sich erst noch zeigen muss, was die Zukunft für sie bereithält. Diese Nacht ist, denke ich, ausgesprochen schwierig für sie gewesen.«

Diana antwortete nicht, und er starrte auf die Waffe in ihrer Hand.

»Das ist die Wahrheit«, versicherte er und zuckte die Achseln. Er lächelte. »Natürlich könnte es gelogen sein, andererseits, was liegt daran, so oder so?«

Diana erkannte, dass darin eine perverse Logik lag.

Die Sirenen wurden lauter.

»Was hast du jetzt vor, Diana? Willst du mich der Polizei übergeben oder mich auf der Stelle erschießen?«

»Nein«, entgegnete Diana, »ich denke, wir unternehmen zusammen eine kleine Fahrt.«

Mit dem Lauf der Pistole deutete sie Richtung Garage.

 

Diana saß im Fond des Geländewagens und drückte ihrem Exmann den Lauf der Pistole in den Nacken, während er durch die Enge und die Dunkelheit des Waldes fuhr. Die Lichter und Sirenen, die zum Buena Vista Drive rasten, verebbten hinter ihnen; sie tauchten in eine schwärzere, ältere Welt ein als diejenige, die sie hinter sich ließen. Die Scheinwerfer schnitten bizarre, von Stämmen verzerrte Lichtstrahlen in die Wild nis, während Curtin zwischen Baumgruppen und Bü schen hindurch und über Fels und Steine holperte. Sie befanden sich auf einer urtümlichen Piste, die kaum noch etwas von einer Straße hatte und dennoch ein Fluchtweg war, den der Mann am Lenkrad genau geplant und mindestens einmal gefahren war, daran zweifelte Diana keinen Augenblick. Er hatte sie nervös gebeten, den Hahn nicht gespannt zu lassen, da ein plötzlicher Aufprall des Chassis auf einem Stein ihren Finger am Abzug versehentlich bewegen könne, so dass die Magnum losging, doch sie hatte nur geantwortet: »Du solltest lieber vorsichtig fahren. Wäre doch schade, wegen einer Bodenwelle zu sterben.«

Curtin hatte den Mund geöffnet, dann aber geschwiegen. Er konzentrierte sich auf das Gelände, das vor ihnen im Scheinwerferlicht auftauchte.

Sie fuhren weiter, und der Wagen schaukelte auf dem rauhen Terrain wie ein Boot, das sich vom Anker losgerissen hat, im hohen Wellengang. Die Zeit schien im Dunkel zu verfließen. Diana horchte auf den Atem ihres früheren Mannes und erinnerte sich aus längst vergangenen Jahren an das Geräusch, wenn sie von Unentschlossenheit und Angst geplagt wach lag, während er schlief. Er war ihr vollkommen vertraut, so dass sie ihn selbst nach so vielen Jahren, nach so vielen Gesichtsoperationen und mit der ganzen Last des Bösen, das er der Welt gebracht hatte, immer noch vollkommen verstand.

»Wohin fahren wir?«, fragte er, als mehrere Stunden vergangen waren.

»Nach Norden«, erwiderte sie.

»Ödland«, meinte er. »Das ist im Norden. Die Piste wird nur schlimmer.«

»Wohin wolltest du?«

»Nach Süden«, antwortete er, und sie glaubte ihm.

»Gibt es noch eine Garage? Noch ein Fahrzeug, das du irgendwo versteckt hast?«

Curtin nickte mit einem verhaltenen, nervösen Grinsen. »Natürlich. Du warst schon immer schlau«, gestand er ihr zu. »Wir hätten ein äußerst effizientes Team sein können.«

»Nein«, widersprach sie, »hätten wir nicht.«

»Ja, du hast recht. Du warst immer zu schwach und hättest alles ruiniert.«

Diana schnaubte. »Und das habe ich auch getan. Dir alles ruiniert. Es hat mich nur fünfundzwanzig Jahre gekostet.«

Curtin nickte wieder. »Ich hätte dich umbringen sollen, als sich die Gelegenheit bot.«

Diana lächelte. »Also, wenn das nicht die Antwort eines Schwächlings und Feiglings ist. Der verpassten Gelegenheiten nachtrauern.«

Sie drückte ihm die Pistole fester ins Genick.

»Fahr«, befahl sie.

Sie warf einen heimlichen Blick aus dem Fenster. Der Wald war ausgedünnt, die Piste felsiger und staubiger, es gab mehr Gestrüpp. Im Osten kroch das erste schwache Licht über den Kamm der Berge. Sie schienen an Höhe gewonnen zu haben, das Gelände um sie herum wurde rauher. Der Wagen traf auf nacktes Schiefergestein, kam ins Schlingern, und sie hätte fast den Abzug gedrückt.

»Ich denke, das ist weit genug«, meinte Diana. »Halt an.« Curtin folgte ihrem Befehl.

Sie stiegen aus und machten sich auf den Weg durch das erste matte Grau des Sonnenaufgangs: Ehemann vorweg, die Frau ein paar Schritte hinter ihm, die Schusswaffe in der Hand. Diana sah am fernen Horizont einen rötlich gelben Streifen, und ihr Pfad war im ersten schwachen Morgenlicht bald deutlich zu erkennen.

Wortlos marschierten sie einen kleinen, felsigen Hügel hinauf, der sich über einer schmalen Schlucht erhob. Es schien ein verlassener Ort zu sein, bar jeden Lebens und fern jeder Zivilisation. Diana roch den Moder der Urzeit in der Luft, der mit dem frischen Hauch des neuen Tages kämpfte.

»Das reicht«, entschied sie. »Ich glaube, wir sind weit genug gekommen. Weißt du noch, wie es bei unserer Trauung hieß? Du hast es einmal in einem Brief geschrieben.«

Der Mann, den sie als Jeffrey Mitchell gekannt hatte und jetzt als Peter Curtin, blieb stehen und drehte sich zu seiner Exfrau um. Er antwortete nicht direkt auf ihre Frage, sondern sagte stattdessen: »Fünfundzwanzig Jahre.« Er lächelte. Das Grinsen eines Skeletts.

Er trat ein wenig näher, mit ausgebreiteten Armen, aber auch sprungbereit. »Es ist viel Zeit vergangen. Wir haben einiges durchgemacht. Es gibt eine Menge zu erzählen, nicht wahr?«

»Nein, gibt es nicht«, widersprach sie.

Und dann schoss sie ihm in die Brust.

Der Knall des Schusses schien in die Leere der Schlucht zu stürzen, von den Wänden abzuprallen und im verblassenden Dunkel des Himmels nachzuhallen. Der Mann, den sie einmal geheiratet hatte, taumelte mit ungläubig aufgerissenen Augen zurück, während sich auf seinem schwarzen Pullover ein großer feuchter Fleck ausbreitete. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Dann stolperte er, wie eine Marionette, deren Fäden jemand durchtrennt, bevor er schließlich nach hinten kippte und vom Felsen rutschte. Eine einzige Sekunde lang verharrte er im freien Fall, dann verschwand er vor ihren Augen. Sie horchte, bis sie irgendwo tief unten den dumpfen Aufschlag seines Körpers auf dem harten Boden hörte.

Diana setzte sich auf einen Findling und ließ mit einem scheppernden Geräusch die Pistole fallen. Sie fühlte sich plötzlich erschöpft. Alt und müde, dachte sie. Alt und müde und sterbend.

Sie griff in die Tasche und zog ein Pillendöschen heraus. Sie starrte einen Moment darauf und fand es plötzlich seltsam, dass sie seit Stunden, seit es am Abend dunkel geworden war, nicht den leisesten Anflug von Schmerzen oder von der Krankheit gespürt hatte. Doch sie wusste, wie listig der Krebs war – keinen Deut weniger hinterhältig als der Mann, den sie gerade getötet hatte.

Und so schüttete sie sich mit einer einzigen energischen Geste trotzig den gesamten Inhalt des Döschens in die Hand, schloss sie einen Moment zur Faust und schob sich alle Tabletten auf einmal tief in Mund, bevor sie den Kopf zurückwarf und fest schluckte.

Erst jetzt dachte sie an ihre Kinder. Sie wusste, dass ihr einstiger Mann bei all den Lügen in einem Fall die Wahrheit gesagt hatte – sie waren am Leben und frei. Sowohl von ihm als auch von ihr und ihrer Krankheit. Sie glaubte, dass auch sie jetzt endlich ihre Freiheit hatte.

Bei dem Gedanken wurde ihr warm. Sie lehnte sich an den Fels zurück, fand ihn überraschend bequem wie das weichste Bett, mit den bequemsten Kissen. Sie atmete tief ein. Sie fand die Luft so kühl und erfrischend wie das Wasser der kältesten und klarsten Bäche aus ihrer Kindheit. Dann wandte Diana ihr Gesicht langsam der aufgehenden Sonne zu und wartete geduldig, bis ihr alter Gefährte Tod sie fand.