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Als Joan und Frank Miller am nächsten Vormittag um 10:30 Uhr auf den Parkplatz des Day’s Inn rollten, sahen sie, dass der Lexus ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter vor Zimmer 6 stand. Vier andere Autos befanden sich auf dem Parkplatz: ein schwarzer Camaro, zwei SUVs und ein Acura Legend. Frank lenkte neben den Lexus und stellte den Motor ab. »Da sind wir«, verkündete er.

»Ich frage mich, ob sie heute Morgen mit Brad reden konnte«, sagte Joan, ergriff ihre Handtasche und stemmte sich aus dem Beifahrersitz.

»Falls nicht, können wir es ja vielleicht noch am Vormittag zu dritt tun«, meinte Frank, schloss die fahrerseitige Tür und streckte den Rücken durch. Die Fahrt hatte bereits sehr früh für sie begonnen. Schon um sieben Uhr hatten sie das Haus verlassen.

Joan ging hinüber zu Zimmer 6 und klopfte an die Tür. Einige Augenblicke standen sie und ihr Ehemann da, warteten darauf, dass Lisa öffnete, dann klopfte Joan erneut. »Vielleicht ist sie unter der Dusche«, mutmaßte Frank.

»Kann sein.« Joan klopfte lauter und sie warteten erneut. Die nächsten drei Minuten klopften sie ungefähr alle 20 Sekunden und tauschten dazwischen verwirrte Blicke. Joan legte ein Ohr an die Tür und runzelte die Stirn. »Ich höre nichts.«

»Jedenfalls kann sie nirgendwohin gefahren sein«, sagte Frank und deutete auf den Saturn. »Ihr Auto ist noch da.«

»Meinst du, sie könnte zu Fuß zum Revier gegangen sein?« Joan schirmte mit der Hand die Augen ab, als sie die Rim Road hinabblickte. »Laut Karte liegt es nur fünf Blocks in die Richtung entfernt.«

Frank zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Sie könnte auch zu einem späten Frühstück in dem Denny’s-Restaurant sein. Warum spazieren wir nicht ein Stück und finden’s raus?«

Der kleine Marsch führte sie zuerst zu dem Denny’s, dann zum Büro des Sheriffs von Ventura County. Im Revier erkundigten sie sich am Empfang nach ihrem Sohn. Die diensthabende Beamtin, einen junge Frau mit sorgsam zurückgestecktem schwarzem Haar, sah im Computer nach. »Er ist im Untersuchungshaftbereich des Gefängnistrakts«, verkündete sie.

»Hatte er heute schon von irgendjemandem Besuch?«, fragte Joan. In Orange County war der Morgen warm gewesen, weshalb sie nur eine luftige weiße Hose und eine blaue Bluse angezogen hatte. In Ventura erwies es sich als deutlich kühler, und sie schlang sich einen weißen Sweater um die Schultern.

Die Beamtin schüttelte den Kopf. »Nein, hatte er nicht. Sind Sie Angehörige?«

»Wir sind seine Eltern«, erklärte Frank. »Können wir zu ihm?«

»Lassen Sie mich das überprüfen.« Die Frau griff zum Telefon auf ihrem Schreibtisch und gab eine Nummer ein. Am anderen Ende hob jemand ab. »Mr. Miller in 4D – seine Eltern sind hier. Darf er Besuch empfangen?« Kurz verstummte sie. »Okay, danke.« Damit legte sie auf und wandte sich an Frank und Joan. »Der Wärter kommt gleich.«

Fünf Minuten später öffnete sich eine Tür und ein junger Polizist schaute heraus. »Mr. und Mrs. Miller?«

Als sie dem Beamten den Flur hinab in den hinteren Teil des Gebäudes folgten, wo sich der Zellentrakt befand, fragte Frank erneut, ob Brad an diesem Tag schon Besuch gehabt hätte. »Nein«, antwortete auch dieser Beamte.

»Sind Sie sicher?«, hakte Joan nach. »Wir dachten, unsere Schwiegertochter wäre vielleicht schon hier.«

»Sie sind die Ersten, die Mr. Miller heute besuchen«, bekräftigte der Mann. Er schob einen Schlüssel in eine große Metalltür, öffnete sie und ließ die beiden hinein. »Die letzte Zelle auf der linken Seite. Drücken Sie auf den Summer neben der Tür, wenn Sie fertig sind.«

»Danke.« Frank ergriff Joans Arm und führte sie erst durch die Tür, dann den Gang hinab.

Brad erwartete sie im vorderen Bereich seiner Zelle, die Hände an den Gitterstäben. Er sah zerzaust aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Als er sie erblickte, lächelte er. »Mann, bin ich froh, euch zu sehen!«

Joan trat auf ihren Sohn zu, fasste durch das Gitter, ergriff seine Hände und zog ihn näher. Sie küsste ihn auf die Wange. »Wir sind auch froh, dich zu sehen, Sohn.«

»Geht’s dir gut, Brad?«, erkundigte sich Frank, ergriff ebenfalls die Hand seines Sohnes und drückte sie voll Zuneigung.

»Ich bin müde. Hab letzte Nacht hier drin kein Auge zugemacht.«

Joan war nervös – weniger wegen der Situation an sich, sondern weil sie Lisa noch nicht begegnet waren. »Lisa ist heute Morgen nicht hier gewesen, oder?«

»Nein«, antwortete Brad mit angespannten Zügen. »Dabei hatte ich eigentlich gedacht, sie würde kommen. Sie hat euch doch gestern Abend angerufen, oder?«

»Ja, von ihrem Zimmer aus«, bestätigte Joan mit einem besorgten Blick zu Frank.

»Sie hat uns ihre Zimmernummer gegeben, als wir mit ihr telefoniert haben«, fügte Brads Vater hinzu. Joan merkte ihrem Ehemann an, dass er sich bemühte, ruhig zu erscheinen. »Wir sind vor ungefähr 15 Minuten eingetroffen und gleich zu ihrem Zimmer gegangen, aber sie war nicht dort.«

Brad legte die Stirn in Falten. Besorgnis zerfurchte sein Gesicht. »Das ist eigenartig.«

»Ihr Auto war da«, sagte Joan, als wolle sie ihrem Sohn dadurch vermitteln, dass alles in Ordnung sei. »Vielleicht haben wir sie bei Denny’s knapp verpasst oder so.«

»Ich gehe noch mal zurück und sehe zu, dass ich sie finde«, schlug Frank vor und schaute von seiner Frau zu seinem Sohn. »Vielleicht haben wir sie ja wirklich bloß verpasst.«

»Ja, tu das«, erwiderte Joan. »Ich bleibe inzwischen hier.«

Frank nickte, warf seinem Sohn ein Lächeln zu, marschierte davon und drückte den Summer am Ende des Gangs. Die Tür öffnete sich und er trat hinaus, bevor er innehielt, um sich auf der anderen Seite kurz mit dem Beamten zu unterhalten. Dann schloss sich die Tür. Mutter und Sohn blieben allein im Zellentrakt zurück.

Joan wandte sich Brad zu und gab sich alle Mühe, nicht zu besorgt zu wirken. »Hast du hier drin anständig zu essen bekommen?«

»Ja«, versicherte ihr Brad und ließ die Arme durch die Gitterstäbe baumeln. »Die Wärter sind wirklich nett. Wie du siehst, habe ich den ganzen Trakt für mich allein.« Er versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, aber es blieb halb gar und sah gezwungen aus.

»Dein Vater hat gestern Nacht gegen elf noch William erreicht«, erzählte Joan. »Er hat gemeint, der Beschreibung des Vorfalls nach würde der Richter den Fall höchstwahrscheinlich ablehnen.«

»Das schätze ich auch«, sagte Brad mit nach wie vor beunruhigten Zügen. »Der Bulle, der mich verhaftet hat, glaubt dasselbe. Er hat gesagt, er hätte dem Volltrottel, der das alles angezettelt hat, die rechtlichen Konsequenzen erklärt, aber der Kerl wollte trotzdem damit weitermachen.«

»Was für ein Spinner«, befand Joan und fingerte nervös an ihrer Handtasche. »Ich hoffe, es gibt eine Möglichkeit, dass sie ihn wegen der Falschmeldung verhaften können.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Brad langsam und wirkte zunehmend unruhiger. Er leckte sich über die Lippen. »Lisa war also nicht in ihrem Motelzimmer, als ihr angekommen seid?«

Joan schilderte ihm die Geschichte erneut und beschrieb ihm, dass sie gedacht hatte, Lisa wäre vielleicht unter der Dusche, allerdings nichts hören konnte, als sie an der Tür gelauscht hatte. Brad nickte. Joan fasste wieder durch die Gitterstäbe, um die Hände ihres Sohnes zu ergreifen und sie beruhigend zu tätscheln. »Wahrscheinlich haben wir uns wirklich nur verpasst«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Dein Dad findet sie bestimmt.«

Die nächsten zehn Minuten unterhielten sie sich darüber, was sich am Vortag ereignet hatte. Brad berichtete ihr alles, angefangen bei dem Spurwechsel. Er erzählte ihr, wie Smith plötzlich aufgetaucht war und sie den ganzen Weg den Hügel hinab viel zu dicht an ihrer Stoßstange verfolgt hatte, bevor er sich letztlich zurückfallen ließ. Joan wurde im Verlauf seiner Worte immer verzagter. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie überreagierte, als Brad seine Ausführungen schließlich beendete. »Ich bin sicher, es klärt sich alles auf«, meinte sie. »Und wenn diese Sache ausgestanden ist ...«

Das Geräusch der sich öffnenden Tür unterbrach sie. Beide drehten die Köpfe. Frank kam allein den Gang herab, die Züge vor Besorgnis zerfurcht. Joan spürte ein Flattern im Magen. Sie hörte einen schrillen Unterton in der eigenen Stimme, als sie ihren Mann fragte: »Du hast sie nicht gefunden?«

Frank schüttelte den Kopf mit leicht geweiteten Augen und verängstigtem Blick. »Ich bin den ganzen Weg zurückgelaufen. Hab sogar bei Denny’s nachgefragt, ob Lisa dort gewesen ist. War sie nicht, auch gestern Abend nicht. Der Typ an der Rezeption vom Motel hat gesagt, er hätte sie nicht mehr gesehen, seit sie gestern eingecheckt hat. Ich habe auch noch mal an ihre Tür geklopft, aber sie hat immer noch nicht aufgemacht.«

War Brad zuvor besorgt gewesen, so wirkte er mit einem Schlag zu Tode verängstigt. Sein Gesicht wurde aschfahl. Joan wurde regelrecht schwindlig vor Sorge. Wieder streckte sie sich durch die Gitterstäbe und ergriff die Hände ihres Sohnes. »Das gefällt mir nicht«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir ...«

»Geh noch mal zum Motel und ersuch darum, dass man dich ins Zimmer lässt«, bat Brad seinen Vater mit belegter Stimme. »Sag denen, was los ist, und wenn sie die Tür nicht aufschließen wollen, dann komm hierher zurück und rede mit der Polizei. Frag am besten nach Officer Lansing. Er ist derjenige, der mich gestern verhaftet hat.«

»Ich bin bald zurück«, versprach Frank und verschwand erneut den Gang hinab. Joan schaute ihm wie benommen nach. Frank war kreidebleich gewesen, als er ihnen seine Erkenntnisse mitgeteilt hatte, und als sich Joan wieder ihrem Sohn zuwandte, konnte sie erkennen, wie Brad in 30 Jahren aussehen würde. Er würde seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten sein.

»Es wird alles wieder gut«, beteuerte sie, zwang sich zu einem Lächeln und drückte durch das Gitter ermutigend seine Hände.

Brad nickte, ohne ihrem Blick zu begegnen. »Ja.« Sein Tonfall jedoch ließ erahnen, dass er ihr kein Wort glaubte.

Frank musste dem Kerl an der Rezeption mit rechtlichen Schritten drohen, sollte er nicht sofort seinen fetten Arsch heben und ihn mit einem Zweitschlüssel zu Zimmer 6 begleiten, um die Tür aufzuschließen. Schließlich seufzte der Mann, verdrehte die Augen und stemmte sich ächzend von dem Stuhl hinter dem Schalter hoch. »Wahrscheinlich werde ich dafür gefeuert, aber was soll’s, bringen wir’s hinter uns.« Er griff sich den Zweitschlüssel für Zimmer 6 von der Wand und kam um den Schalter herum. »Bin gleich wieder da«, rief er jemandem im Hinterzimmer zu.

Frank spürte, wie seine Glieder schwer vor Beklommenheit wurden, als sie sich Lisas Zimmer näherten. Der Rezeptionist blieb vor der Tür stehen, steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und trat zurück, um Frank an sich vorbeizulassen. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte er.

Frank betrat den Raum. Der Düsternis, die ihn plötzlich umfing, haftete etwas Verhängnisvolles an. Er tastete nach einem Schalter, fand ihn und knipste das Licht an. Eine lange Weile blieb er an der Schwelle stehen, nicht sicher, was er von dem halten sollte, was er sah. Den Rezeptionisten hatte er schon beinah vergessen, als er plötzlich dessen Stimme hinter sich hörte. »Und? Jetzt zufrieden?«

Mit Zimmer 6 schien alles in bester Ordnung zu sein. Das Bett präsentierte sich gemacht. Nichts wies darauf hin, dass jemand darin geschlafen hätte. Es gab auch keinerlei Anzeichen auf einen Kampf, keine umgekippten Möbel, keine Glasscherben. Frank ging weiter in das Zimmer und ließ den Blick darin umherwandern. Lisas und Brads Lexus parkte unmittelbar vor der Tür, dennoch fehlte in dem Raum jede Spur von ihrem Gepäck oder sonstigen persönlichen Gegenständen. Er ging ins Badezimmer und schaltete auch dort das Licht ein, nahm Waschbecken und Waschtisch in Augenschein, die unbenutzte Badewanne, die sauberen weißen Handtücher, die aufgereiht über den Stäben der Handtuchhalterung hingen. Schließlich drehte er sich zu dem Motelmitarbeiter um, der ihm in den Raum gefolgt war. »Sind Sie sicher, dass Sie Lisa Miller nicht gesehen haben? Denken Sie nach, Mann!«

Der Rezeptionist zuckte mit den Schultern. »Ich hab sie nur einmal gestern Abend gesehen, als sie eingecheckt hat.« Er schaute zurück ins Zimmer. »Sind Sie sicher, dass sie die Nacht überhaupt hier verbracht hat? Sieht eher so aus, als hätte sie das Zimmer gar nicht benutzt.«

Frank starrte den Mann mit finsterer Miene an. »Was für eine brillante Folgerung! Sie sind bestimmt der Mitarbeiter des Monats, was?«

Der Rezeptionist setzte eine mürrische Miene auf. Nervös trat er von einem Bein aufs andere. »Hören Sie, ich hab keine Ahnung, ob sie letzte Nacht hier gewesen ist. Ich hatte um 18:30 Uhr Feierabend, nur eine halbe Stunde, nachdem sie eingecheckt hat. Sie könnte ohne Weiteres weggegangen sein, nachdem ich Dienstschluss hatte.«

Frank kehrte in das verwaiste Zimmer zurück. »Bleiben Sie hier«, verlangte er. »Ich hole die Polizei.«

»Wie Sie meinen«, erwiderte der Motelmitarbeiter, bevor er Frank folgte.

Frank schaute zum Lexus, als er das Zimmer verließ. Er spähte in den Wagen – sah alles normal aus, aber keine Spur von irgendwelchem Gepäck. Natürlich konnten sie das Gepäck auch im Kofferraum verstaut haben, doch er hatte keinen Schlüssel, um ihn zu öffnen und nachzusehen. Mit einem wachsenden Gefühl von Besorgnis eilte Frank zurück zum Polizeirevier und überlegte dabei, wie er seinem Sohn mitteilen sollte, dass dessen Frau verschwunden war.