23

Brad war zu Hause und packte gerade einen einzigen Koffer für Lisa und sich, als es an der Haustür klingelte.

Vor anderthalb Stunden hatte ihn William Grecko angerufen und aufgefordert, bereit zum Aufbruch zu sein, sobald er mit Lisa zurückkehrte. William hatte für sie einen nicht genannten Unterschlupf in Las Vegas organisiert, wohin sie noch an diesem Abend abreisen sollten. Als sich Brad nach Lisa erkundigt hatte, meinte William, es ginge ihr gut. »Es gibt Neuigkeiten, aber ich erzähle dir alles heute Abend.« Der Tonfall des Anwalts hatte Brad verraten, dass sich etwas tat, er jedoch nicht am Telefon darüber reden konnte. Er würde es ja schon bald erfahren.

Brad ging durch das Haus in die Diele und fragte sich, wer an der Tür sein mochte. Lisas Eltern konnten es jedenfalls nicht sein. Mit ihnen hatte er bereits gesprochen, sie warteten am Telefon auf weitere Neuigkeiten von ihm. Mit seinen eigenen Eltern hatte er an diesem Nachmittag telefoniert und erst seinem Vater, dann seiner Mutter alles erzählt. Seine Mutter hatte vor Bestürzung zu stammeln begonnen und den Hörer an seinen Vater weitergereicht; Brad hatte sie im Hintergrund weinen gehört, während er mit seinem Vater gesprochen hatte. Der hatte zunächst schweigend zugehört, sich dann bestürzt gezeigt und mit zittriger Stimme gefragt, ober er irgendetwas tun könnte. Vorläufig nicht, hatte Brad verneint, denn William Grecko kümmerte sich um alles. Er hatte seinem Vater versprochen, später noch einmal anzurufen.

Als Brad durch den Türspion spähte, konnte er anfangs wegen der grellen Helligkeit draußen nichts erkennen, dann zeichnete sich allmählich ein Gesicht ab.

Mit einem Seufzen schloss Brad auf und öffnete die Tür. »Danielle«, sagte er.

Auf der Veranda stand Danielle Kwong in schwarzer, konservativer Büroaufmachung. Danielle war Lisas Kollegin in der Kanzlei. Gelegentlich gingen sie und ihr Freund zusammen mit Lisa und Brad an Freitagabenden ins Kino oder zum Essen. »Tut mir leid, ich kann im Moment nicht reden, Danielle«, entschuldigte sich Brad. »Ich bin gerade dabei, zu packen.«

»Schon gut«, gab Danielle zurück. In ihrem ovalen, offenen Gesicht stand Neugier geschrieben, und trotz des Lächelns in ihren exotischen Zügen konnte Brad eine Spur von Besorgnis darin ablesen. »Ich war gerade auf dem Weg nach Hause und dachte, ich schaue mal vorbei, erkundige mich, wie es Lisa geht.«

»Besser«, antwortete Brad ohne beiseitezutreten, um sie ins Haus zu lassen, was er unter normalen Umständen getan hätte. »Aber sie ist gerade nicht hier.«

»Oh.« Ein Anflug von Enttäuschung in ihrer Stimme.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Brad erneut, der sich ungut dabei fühlte, wie er sie behandelte. Williams Worte hallten durch sein Gedächtnis. Pack eure Sachen und warte auf mich. Sag niemandem, wohin ihr geht. »Ist nur so, dass ich’s eilig habe und mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Sobald Lisa zurückkommt, brechen wir schnurstracks zum Flughafen auf.«

»Wo geht’s denn hin?«

Las Vegas ist eine große Stadt, dachte sich Brad. Kann nichts ausmachen, wenn ich sage, dass wir für eine Woche dorthin verschwinden, oder? Brad beschloss, es würde keine Rolle spielen, Danielle wenigstens so viel anzuvertrauen. Immerhin verkörperte sie eine enge Freundin und hatte sich angesichts dessen, was Lisa durchgemacht hatte, besorgt und schockiert gezeigt. Sie hatte Brad vorgeschlagen, Besorgungen für ihn zu erledigen, und ihm mehrmals angeboten, sich an sie zu wenden, wenn er Hilfe bräuchte oder einfach nur mit jemandem reden wollte. Danielle Kwong war der Inbegriff des Wortes ›Freundin‹. Ihr konnte er vertrauen. »Wir gehen für eine Woche nach Vegas. Wir müssen mal weg und uns einfach ... entspannen, verstehst du?«

Danielle lächelte. »Klar. Ein paar Tage Urlaub könnt ihr echt vertragen. Tja, sag Lisa, dass ich da war und hoffe, es geht ihr besser. Vielleicht kann sie mich ja mal bei Gelegenheit im Büro anrufen.«

»Sicher«, gab Brad zurück. »Ich richte es ihr aus.«

Danielle trat von der Veranda. »Danke. Bis dann!«

»Bis dann.« Brad schloss hinter ihr die Tür und lehnte sich dagegen. Ich hab doch keinen Mist gebaut, indem ich ihr verraten habe, wohin wir fliegen, oder? William Greckos Paranoia färbte allmählich auf ihn ab. Wem konnte es Danielle schon erzählen, der den mordlüsternen Abschaum darauf aufmerksam machen würde, von dem Lisa beinah getötet worden wäre? Sowohl Danielle als auch Lisa waren im Familienrecht tätig, nicht im Strafrecht. Und Lisa sprach allgemein in höchsten Tönen von ihren Kollegen. Brad war überzeugt davon, wäre William Grecko nicht so ein loyaler und vertrauenswürdiger Freund und Verbündeter, könnten sie sich auch auf die Hilfe der Anwälte in Lisas Kanzlei verlassen. Auf Danielle Kwong vielleicht oder Kyle Bennett. Lisa war sogar mit George Brooks befreundet, einem der Senior-Partner. Es gab etliche Ressourcen, auf die sie hätten zurückgreifen können, wären sie nicht mit Williams Freundschaft gesegnet gewesen. Abgesehen davon schaffte sie Grecko ohnehin nur als Vorsichtsmaßnahme aus der Stadt. Wie er an diesem Nachmittag übers Telefon zu Brad gemeint hatte: »Ich glaube ja nicht, dass diese Typen versuchen werden, euch zu entführen, aber ich will auf Nummer sicher gehen. Höchstwahrscheinlich sind sie längst tief untergetaucht. Die werden nicht so dumm sein, ausgerechnet jetzt nach euch zu suchen. Wenn wir in Big Bear irgendetwas Handfestes finden, sind wir ihnen schnell auf der Spur und werden sie im Nu im Knast haben, wo sie hingehören.«

Uns passiert nichts, dachte Brad, als er das Schloss der Eingangstür überprüfte, bevor er ins Schlafzimmer zurückkehrte, um weiter zu packen. Um elf heute Abend sitzen wir in einem Flugzeug nach Las Vegas, wo uns Billy von jemandem abholen und dorthin bringen lässt, wo wir bleiben werden. Selbst wenn jemand durch Danielle etwas erfahren sollte – was ich für ziemlich unmöglich halte –, würde es denkbar schwierig sein, uns in Las Vegas aufzuspüren. Wahrscheinlich bringt uns Billy in einem sicheren Haus oder in einem Hotel unter falschen Namen unter. Uns passiert nichts.

Brad packte zu Ende und wartete auf die Rückkehr von William und Lisa.

»Sprich.«

»Niemand wird Als Leiche je finden.« Tim Murray grinste. Kaum hatte er Rick Shectmans Büro betreten, pflanzte er seine Masse auf den lindgrünen Stuhl vor dem überfüllten Schreibtisch. Die vergangene Nacht war als intensiver Wirbelwind verflogen. »Erinnerst du dich an den Film Pulp Fiction?«

Rick Shectman schaute gleichgültig drein. »Vage.«

»Ein Kumpel von mir hat einen Schrottplatz in San Fernando«, fuhr Tim fort. »Ich hab einen Schlüssel für die Anlage. Ist weit draußen mitten in einem Industriegebiet. Animal und ich sind gegen vier Uhr morgens rausgefahren. Das Beste daran ist, dass der Schrottplatz gleich neben einem Flugplatz liegt.« Tim lachte. »Weit und breit gibt es dort keine Wohnhäuser oder sonst was. Und er wickelt jede Menge Scheiß über die Anlage ab, alte Autos und so. Hab auch schon für ihn gearbeitet ... ihm ein paar Filme beschafft. Na, jedenfalls hat er mir vor einer Weile zu verstehen gegeben, dass ich auf ihn zählen kann, falls er mir mal dabei helfen könnte, was zu entsorgen. Hab ihn angerufen, und er war einverstanden, uns gleich um halb sieben, wenn er aufmacht, dort zu treffen. Animal und ich waren schon vorher da und haben auf dem Gelände ein Auto gesucht, das zum Verschrotten vorgesehen war. Animal hat Al zerstückelt ... du weißt schon ... ihn zerlegt und so, bevor wir die einzelnen Teile in den Kofferraum des Autos geworfen haben.«

Tim bemühte sich, seine Abscheu zu verbergen, als er daran zurückdachte, was Animal getan hatte, bevor sie Als in eine dreckige Decke gewickelten, kopflosen Rumpf in den Kofferraum verfrachtet hatten. Er hatte bei früheren Foltersitzungen schon gesehen, wie Animal Menschen Löcher in die Seiten geschnitten und sie in diese gebumst hatte, aber bis vergangene Nacht hätte er nie und nimmer gedacht, dass man auch einen Halsstumpf als Ficköffnung benutzen könnte. Animal hatte dazu nur gemeint: Wenn wir schon dabei sind, kann ich gleich mal ein neues Loch ficken, bevor wir ihn zu einem Pfannkuchen stampfen. Erfährt ja doch nie jemand.

Seltsamerweise war Tim nicht übel geworden, als Animal seinen Prügel in den grauen, aus Als blutigem Halsstumpf ragenden Schlauch der Speiseröhre gesteckt und drauflosgerammelt hatte. Sehr wohl jedoch war ihm schlecht geworden, als er daran denken musste, was Animal mit dem Säugling gemacht hatte; diese Bilder suchten ihn immer wieder ungebeten heim, so wie vergangene Nacht, als Animal den kopflosen Rumpf von Al geschändet hatte. Dann hatte es all seiner Willenskraft bedurft, sich nicht zu übergeben.

»Wie auch immer«, fuhr Tim fort, sah Rick an und versuchte, die Bilder aus dem Kopf zu verdrängen. »Wir haben ihn also zerlegt, in den Kofferraum gesteckt und darauf gewartet, dass Mark auftaucht. Als er schließlich gekommen ist, hat er keine Fragen gestellt und den Wagen zusammen mit ein paar anderen Autos verschrottet. Wir haben dabei zugesehen, wie er und sein erster Schichtleiter die Karren zu Metallwürfeln gepresst haben. Das Auto mit Al ist jetzt mit vier anderen ein Klumpen mit einer Seitenlänge von vielleicht anderthalb Metern.«

»Ich hoffe, es sind keine verräterischen Körperflüssigkeiten aus dem Würfel geronnen«, merkte Shectman an.

»Nee«, versicherte ihm Tim. »Was an Flüssigkeiten rausgekommen ist, hat wie Öl ausgesehen. Und Mark ist das sowieso scheißegal. Zum einen war er mir einen Gefallen schuldig, zum anderen vermute ich stark, dass er so was schon öfter gemacht hat.«

Rick Shectman nickte. »Was ist mit Als Wagen?«

»Den haben wir im Osten von L. A. gelassen«, antwortete Tim und kicherte. »Mit dem Schlüssel im Zündschloss. Al würde sich anscheißen, wenn er wüsste, dass sein kostbarer Porsche wahrscheinlich gerade von einer Horde illegaler Mexikaner in Ersatzteile zerlegt wird.«

»Gut.« Rick lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schien nachzudenken. Er starrte an die Decke. Tim versuchte, sich zu entspannen, was ihm allerdings nicht gelang. In Rick Shectmans Gegenwart fiel es generell schwer, sich zu entspannen. Immerhin hätte es gestern Nacht genauso gut mich treffen können, ging ihm durch den Kopf. Und wenn ich noch mal Scheiße baue, könnte es immer noch dazu kommen.

Dieser Gedankengang war einer der Gründe, warum er aussteigen wollte. Nach diesem nächsten Auftrag würde er sich aus dem Staub machen. Der Vorfall in der Hütte hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Es hatte weniger mit seinem eigenen Versäumnis zu tun, das darin bestanden hatte, nicht nachzuhaken, als Al zu ihm gemeint hatte, Sam hätte seine Meinung wegen der Miller-Schlampe geändert – denn Sam Bash hatte sich unmissverständlich ausgedrückt, als er Tim den Auftrag erteilt hatte. Und Tim hatte seinen Teil erledigt; Al hätte dasselbe tun sollen, ohne Fragen zu stellen, allerdings war Al ein gieriger Penner gewesen. Aber nein, es lag nicht daran, dass er nur so knapp mit heiler Haut davongekommen war. Der wahre Grund bestand darin, dass ihm etwas klar geworden war, als er mit ansehen musste, was Animal mit dem Baby gemacht hatte und wie völlig gleichgültig Al und Rick darauf reagiert hatten: Tim tickte nicht so wie sie.

Diese Typen waren uneingeschränkt skrupellos, ihnen war wirklich alles scheißegal. Tim war nicht wie sie; klar, es kratzte ihn herzlich wenig, wenn irgendein obdachloser Junkie durch Animals Messer draufging – immerhin würde dieser Abschaum so oder so binnen kürzester Zeit an Leberschaden, AIDS oder Lungenentzündung abkratzen. Aber jener letzte Job hatte sich auf eine Weise auf Tim ausgewirkt, die er nie für möglich gehalten hätte.

Anfangs hatte er noch kein Problem damit gehabt, es hatte alles ziemlich simpel geklungen. Lisa Miller finden, sie von ihrem Alten trennen, sie zur Hütte schaffen und den Rest Al und Animal überlassen. Kein Problem. Aber dann war zuerst Debbie Martinez aufgekreuzt und hatte alles verdorben, bevor sie sich obendrein noch von Lisa Miller mit der Obdachlosen und dem Baby hatten ködern lassen. Wie Animals Augen bei der Erwähnung des Säuglings aufgeleuchtet hatten und wie Al so völlig bedenkenlos zugestimmt hatte ... das hatte Tim auf eine Weise zugesetzt, wie es noch keiner der Snuff-Jobs davor getan hatte.

Und Rick Shectman ... der Mistkerl würde seine eigenen Kinder für Geld abschlachten lassen. Tim wusste, dass der Drecksack seinen eigenen Sohn gezwungen hatte, in einigen der von ihm produzierten Kinderpornos mitzumachen. Scheiße, einmal hatte der Penner den Jungen gefesselt, um ihn für einen Tiersexfilm von einem Dobermann in den Arsch ficken zu lassen. Damals war der Junge zehn Jahre alt gewesen. Mittlerweile vegetierte er wegen all der Scheiße, die er durchmachen musste, als hirnloses Gemüse vor sich hin. Die Frau, mit der Rick ihn gezeugt hatte, war eine Cracknutte gewesen und inzwischen wahrscheinlich tot. Ricks aktuelle Freundin, die normalerweise tagsüber auf das Kind aufpasste, scherte sich einen Dreck um ihn. Den Großteil ihrer Zeit verbrachte sie damit, sich in Kneipen zu besaufen und so ziemlich alles zu vögeln, was einen Schwanz hatte. Tim wäre nicht überrascht, wenn Rick seinen Sohn in ein paar Jahren, wenn er längst schwer auf Drogen und Alkohol wäre, für einen Snuff-Film opferte. Würde ihm ähnlich sehen.

Deshalb wurde Tim allmählich alles zu viel. Früher waren auch Tim Murray die Menschen am Arsch vorbeigegangen, die er benutzt hatte. Der Unterschied bestand darin, dass sie zumindest Erwachsene gewesen waren – die meisten jedenfalls. Und diejenigen, auf die das nicht zutraf, waren verwirrte, verängstigte, verkorkste Ausreißer und Ausreißerinnen auf dem Weg in den Abgrund gewesen. Deswegen hatte Tim immer sie und ihresgleichen ausgewählt – sie wären ohnehin bald verreckt oder zu dreckigen, nach Scheiße stinkenden, bepisste Klamotten tragenden, obdachlosen Karikaturen von Menschen mit fauligen Zähnen geworden, die man heutzutage überall sah. Wer zum Teufel brauchte die schon? Er hatte nie Gewissensbisse dabei gehabt, solche Gestalten, den Bodensatz der Gesellschaft, für die Folter- und Snuff-Filme aufzutreiben, die Al, Rick und er produziert hatten.

Aber bei diesem letzten Job ... ein Baby ... Das war einfach zu viel. Die obdachlose Schlampe, die sie aufgegabelt hatten – ja, das ließ er sich noch einreden, obwohl er nach einer Weile auch darüber seine Meinung revidiert hatte. Tim hatte ausgiebig darüber nachgedacht, was sich in den vergangenen zwei Wochen abgespielt hatte, und müsste er alles noch einmal machen, würde er dieser Lisa Miller mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf das verfluchte Maul stopfen, darauf warten, dass sie aufwachte, und sie anschließend Animal überlassen. Er würde sie nicht winseln und betteln lassen, und schon gar nicht würde er zulassen, dass sie Als und Animals Aufmerksamkeit auf diese obdachlose Frau und ihr Kind lenkte. Im Übrigen war diese Obdachlose nicht wie die anderen gewesen, die er besorgt hatte. Für sie war die Obdachlosigkeit nur ein vorübergehender Zustand gewesen, das hatte er daran gemerkt, wie sie sich während der Fahrt in die Berge zur Wehr gesetzt hatte, wie sie angezogen gewesen war, wie sie darum gebettelt und gefleht hatte, sie sollten ihrem Baby nichts tun. Die Frau war keine verkorkste Schlampe mit einem von Drogen ruinierten Verstand gewesen. Sie hatte geistig gesund gewirkt, war zu zusammenhängenden Sätzen fähig gewesen und hatte alles mitbekommen, was vor sich gegangen war.

Und das Einzige, worum sie sich gesorgt hatte, war ihr Kind gewesen. Der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie geweint und gefleht hatte, sie mögen ihrer Tochter nicht wehtun ... Das hatte die tief vergrabene Erinnerung daran hervorgekehrt, was sein Vater mit Binky gemacht hatte, und da war Tim klar geworden, dass er sich auf Leute eingelassen hatte, die so skrupellos, brutal und kaltherzig waren, dass sie nicht einmal der grausame Tod eines Babys berühren konnte.

»Ich habe entschieden, jemand anderen einzusetzen, um Mrs. Miller und ihren Mann holen zu lassen«, verkündete Rick und unterbrach damit Tims Gedankengänge.

»Ach ja?« Tim schaute auf und tat so, als wäre alles normal. Dabei überraschte ihn diese Offenbarung doch sehr. Er hatte damit gerechnet, das Haus der Millers mit Animal observieren und innerhalb der nächsten Tage zuschlagen zu müssen. Seit Rick davon zu reden angefangen hatte, den Auftrag beenden zu wollen, hatte sich Tim mental darauf vorbereitet, diesen letzten Job noch hinter sich zu bringen.

»Lisa würde dich erkennen, wenn sie dich sieht«, erklärte Rick Shectman mit einem Blick zu Tim. »Auch wenn du dich rasiert und dir die Haare geschnitten hast, sie würde dich erkennen. Falls etwas schiefgeht und sie entkommt, wäre alles vorbei. Ich kann’s mir nicht leisten, dass du geschnappt wirst.«

»Ich verstehe«, sagte Tim. Die Entscheidung enttäuschte ihn ein wenig. Er hatte sich regelrecht darauf gefreut, es dieser Lisa heimzuzahlen, dass sie geflohen war und ihn diese Scheiße hatte durchmachen lassen. Hätte sie ihn und die anderen nicht so manipuliert, wäre diese obdachlose Frau samt ihrem Kind noch am Leben und Tim müsste nicht über einen entscheidenden Schritt nachdenken, der tödliche Folgen für ihn haben konnte. Andererseits: Ohne den Zwischenfall hätte Tim in Rick und Al nicht den skrupellosen Abschaum erkannt, der vor keinerlei Form von Leben auch nur die geringste Achtung hatte. »Kann ich irgendwas tun, um zu helfen?«

»Bist du sicher, dass diese Frau Animals Gesicht gesehen hat?«, fragte Rick.

Tim nickte. »Ja. Am Nachmittag, als wir hingefahren sind, um den Film zu drehen, hat er seine Maske nicht getragen. Die zwei haben sich sogar ein wenig unterhalten.« Er lachte. »Die Schlampe wollte wissen, was es ihm gibt, Menschen zu foltern. Als wollte sie begreifen, wie ein Typ wie Animal tickt.«

»Und verstehst du, wie Jeffrey tickt, Tim?« Rick Shectman lächelte nicht.

Tims Lächeln verblasste. Die Bilder der vergangenen Nacht und jene des letzten Auftrags zogen vor seinem geistigen Auge vorbei. »Nein. Ich fürchte, das tu ich nicht. Ich verstehe nicht, wie jemandem einer dabei abgehen kann, einen Toten in den Halsstumpf zu ficken und ein Baby mit bloßen Händen in Stücke zu reißen.«

Rick zog die Augenbrauen hoch. »Einen Toten in den Halsstumpf ficken? Was du nicht sagst.«

»Ja.« Tim leckte sich über die Lippen und lieferte Rick eine verkürzte Version dessen, was Animal mit Als Kadaver gemacht hatte, bevor die Reste in der Schrottpresse gelandet waren. Darüber zu reden, schien es ein kleines bisschen weniger grotesk erscheinen zu lassen.

»Na so was, wer hätte das gedacht?«, meinte Rick, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und strich sich übers Kinn. »Ich hatte keine Ahnung, dass Jeffrey nicht nur ein Sadist, sondern auch nekrophil ist. Ich habe da einen Kunden, der mir schon länger damit in den Ohren liegt, dass ich ihm Nekro-Material besorgen soll. Dafür könnte Animal praktisch sein, findest du nicht auch?«

»Das kannst du laut sagen.« Wozu verkam die Welt bloß? Zuerst Snuff-Filme, dann Nekrophilie-Videos? Was würde als Nächstes folgen? Kannibalismus?

Das Bild, wie Jeff mit dem Mund einen Brocken Fleisch aus dem Säugling riss und darauf kaute, während er den winzigen Körper vor laufender Kamera zerriss, kam ihm in den Sinn, und er schüttelte den Kopf. Scheiße, ja – Kannibalismusfilme würden als Nächstes kommen. Man brauchte kein Astrophysiker zu sein, um sich das auszumalen. Scheiße, Tim musste unbedingt raus aus diesem Geschäft. Es wurde immer kranker und kranker. Es genügte nicht mehr, dass ein perverser Irrer wie Animal obdachlose Junkies für andere, gesichtslose Perverse folterte und abschlachtete. Jetzt vergriff man sich schon an Menschen, die man sehr wohl vermissen würde und die kleine Kinder hatten, und Rick spielte auch noch ernsthaft mit dem Gedanken, mit Animal realen Kannibalismus zu filmen. Fuck!

»Du weißt so gut wie ich, Tim, dass mir scheißegal ist, worauf meine Kunden abfahren.« Rick beugte sich vor. Seine bleichen Züge wirkten gelangweilt. »Die Leute stehen auf allen möglichen schrägen Scheiß ... kleine Kinder ficken, sie von Schimpansen in den Arsch rammeln lassen, Kokshuren zusehen, wie sie mit High Heels Mäuse und Kätzchen tottrampeln. Anderen gefällt es, zu beobachten, wie jemand darauf abfährt, gefoltert und misshandelt zu werden .... oder Scheiße frisst und Pisse säuft ... oder den Kopf in einen Pferdearsch steckt und den Dreck daraus frisst, während er sich gleichzeitig einen von der Palme wedelt ... oder eben, sich anzusehen, wie Leute von jemandem wie Animal in Scheibchen geschnitten und abgemurkst werden. Ich selbst kann mit der Scheiße nichts anfangen, aber wen interessiert’s, solange ich reiche Perverse als Kunden habe, die zu dem Mist wichsen? Verstehst du, was ich meine? Solange sie diskret sind und Kohle haben, helfe ich ihnen gerne, das zu kriegen, was sie wollen. Klar, was ich meine?«

Tim nickte. Er war lange genug in der illegalen Pornoindustrie tätig, um zu wissen, dass echte Kenner dieses Zeugs eine Menge Geld bezahlten, um es zu erhalten. Zeig mir jemanden, der hart daran arbeitet, eine Fassade der Ehrbarkeit aufrechtzuerhalten, und ich zeig dir jemanden mit einem schmutzigen Geheimnis.

»So sehr ich überzeugt davon bin, dass Animal und du das Objekt unserer Begierde zurückholen könnten«, fuhr Rick fort und lehnte sich wieder zurück, »ich fürchte, das kann ich nicht riskieren. Sie hat euch beide gesehen. Dafür will ich sehr wohl, dass ihr bei der Produktion des Films mit dabei seid. Tatsächlich wünscht der Kunde, dass Animal als ... wie soll ich sagen? ... ausführender Hauptdarsteller auftritt.« Rick grinste.

»Also ziehen wir’s wirklich durch? Dieser Typ will, dass speziell diese Schlampe erledigt wird?«

»Worauf du einen lassen kannst.«

»Scheiße!« Tim konnte es kaum glauben. Was für ein kranker Arsch begnügte sich nicht damit, dass zwei gut aussehende Weiber kaltgemacht worden waren? Verdammt, sie hatten nicht bloß einen, sondern zwei Snuff-Filme mit ziemlich hübschen Schnecken geliefert, die von Animal vergewaltigt und fertiggemacht worden waren, und das reichte immer noch nicht. »Hat dieser Typ zu viel Geld oder was?«

»Sieh’s einfach so, dass wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben«, erwiderte Rick mit dem gefühllosen Gesichtsausdruck eines Raubtiers.

»Hä?«

»Beim ersten Mal haben wir Scheiße gebaut. Beim zweiten Mal liefern wir.«

Tim Murray sah Rick an und spürte, wie ihm heiß wurde, als er begriff, worauf das Gespräch hinauslief. Rick deutete damit an, dass es kein weiteres Geld geben würde, sondern Animal und er den Job für lau erledigen sollten. »Wir machen das umsonst?«

»Es ist nicht umsonst.«

»Von wegen!«

Rick zuckte beim Klang von Tims Stimme zusammen, und Tim spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er konnte Rick an den Augen ansehen, dass er die Grenze beinah überschritten hätte. »Halt’s Maul und hör zu. Wir erledigen sie, und zwar auf meine Weise. Ich muss dir nicht erklären, warum wir’s tun müssen, aber ...«

»Dieser Motherfucker hat uns an den Eiern, stimmt’s?«, fiel Tim seinem Gegenüber ins Wort. »Wir haben ihm nicht die Schlampe geliefert, die er haben wollte, und jetzt hat er uns. Er erpresst uns, oder?«

»Erpressung ist im Augenblick das geringste unserer Probleme«, entgegnete Rick, beugte sich wieder vor und zeigte mit einem Finger auf Tim. »Das ist etwas Persönliches, Tim. Das Miststück hat euch über den Tisch gezogen und sich dadurch mit mir angelegt. Ich will die Fotze haben. Ich will sie leiden sehen. Mein Kunde ist mit gutem Recht stocksauer und hat eine Scheißangst. Wenn die Schlampe zu den Bullen rennt und die Cops Spuren nachgehen und vielleicht sogar Wind davon bekommen, wer ich bin, fällt der ganze Betrieb auseinander. Hast du verstanden? Es geht nicht bloß darum, unseren Ruf zu wahren, sondern die Fotze dranzukriegen, die uns verarscht hat, und dafür zu sorgen, dass sie für immer die verfickte Fresse hält.«

»In dem Fall«, sagte Tim, der spürte, wie die Anspannung nachließ, »sind wir bereit, wann immer du es bist.«

»Diesmal muss es sauber ablaufen«, meinte Rick und trommelte mit manikürten Fingern auf die Schreibtischfläche. »Lass mich mit meinem Kontakt reden. Ich ruf dich morgen an. Wahrscheinlich veranlasse ich, dass Lisa entführt wird. Die Vorbereitungen habe ich schon arrangiert, und dich brauche ich als Unterstützung dabei.«

»Gibt es irgendwas Neues wegen der Golgotha-Hütte?«

Rick schüttelte den Kopf. »Die ist tabu, seit Al diese Scheiße gebaut hat.«

»Dachte ich mir schon.«

»Bis morgen habe ich einen Plan. Ich ruf dich am Vormittag mit den Einzelheiten und hoffentlich auch schon einem neuen Ort an. Außerdem habe ich bis dahin die Ausrüstung, die ihr für den Dreh braucht. Lisa Miller sollte ich innerhalb von 24 bis 48 Stunden haben.«

»Was ist mit dem Ehemann?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Was, wenn er Schwierigkeiten macht?«

Rick Shectman zuckte mit den Schultern. »Dann werden die Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt.«

»Oh.« Tim war klug genug, nicht weiter nachzuhaken. Wahrscheinlich würde Rick einen seiner Schlägertypen damit beauftragen, Lisa in einer Nacht- und Nebelaktion zu holen. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Frau nicht nur extra vorsichtig, sondern wahrscheinlich sogar zu verängstigt sein würde, um ihr Haus zu verlassen. Rick war gut darin, Handlanger zu engagieren, die praktisch jeden entführen konnten: Geschäftsleute, die ihn übers Ohr gehauen hatten, Anwälte, die sich nicht so für ihn ins Zeug gelegt hatten, wie es ihm versprochen worden war, Lieferanten, die ihn schröpften. Rick Shectman hatte ein Händchen dafür, an Menschen heranzugelangen, die vorsichtig und immer auf der Hut vor Gefahr waren. Wie auch immer Rick es anstellen mochte, es klappte jedes Mal.

»Keine Sorge, Tim«, sagte Rick und lehnte sich grinsend wieder hinter dem Schreibtisch zurück. »Es wird alles gut gehen. Ich habe die Millers im Auge. Ein paar Anrufe, und dann: zack!« Er schwenkte die Hände wie ein Magier. »Lisa Miller wird einfach aufhören, zu existieren. Und eh’ du dich versiehst, wird sie vor deinen Augen um Gnade kreischen, während du ihre letzten Momente auf Film bannst.«

Tim lächelte, als er aufstand. »Dann warte ich auf deinen Anruf.« Damit begab er sich nach Hause, um sich auf die bevorstehenden Dreharbeiten vorzubereiten.