24

Am nächsten Morgen erwachte Brad Miller spät. Er wusste, dass er zu lange geschlafen hatte, aber er gönnte sich den Luxus. Immerhin schlummerte Lisa tief und fest neben ihm in einem piekfeinen Hotelzimmer 20 Stockwerke über dem weitläufigen Kasino des Luxor in Las Vegas.

Brad blieb im Bett liegen und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht Revue passieren. Lisa und William Grecko waren kurz vor 9:30 Uhr zurückgekommen. Brad hatte den gepackten Koffer in Williams Auto geworfen und der Anwalt hatte sie zum John Wayne Airport gebracht. Unterwegs hatte er Brad geschildert, was sich in Big Bear ereignet hatte. »Bis morgen früh sollten wir einen Durchsuchungsbefehl haben«, hatte er Brad aufgeklärt. »Die zuständige Polizei von Big Bear und das FBI werden die Hütte praktisch auseinandernehmen. Die Golgotha Multimedia Corporation hat zwar damit gedroht, die Durchsuchung mit einer einstweiligen Verfügung verhindern zu wollen, nur kann ich mir nicht vorstellen, dass die damit durchkommen.«

Die Polizei hatte Golgotha über die Absicht in Kenntnis gesetzt, die Hütte durchsuchen zu wollen, und zwar aufgrund der Zeugenaussage des Opfers einer Entführung und eines versuchten Mords, das angab, in der Hütte festgehalten worden zu sein und dort einen zweiten Mordversuch mit angesehen zu haben. Ferner bestand der Aussage zufolge die Möglichkeit, dass in dem Anwesen zwei Morde verübt worden waren. Ein Anwalt, der Golgotha vertrat, hatte das Revier in Big Bear daraufhin höflich informiert, dass man bei einem Gericht höherer Instanz gegen einen Durchsuchungsbefehl Berufung einlegen werde. In der Zwischenzeit hatte man seitens der zuständigen Polizei das FBI kontaktiert und bearbeitete den Fall gemeinsam. Man hatte Lisa zur Golgotha-Hütte gefahren, und obwohl sie die Hütte nicht visuell identifizieren konnte, war sie ziemlich sicher, dass es sich um den Ort handelte, an dem sie gefangen gewesen war. »Sie hat sich an ein Schlagloch in der Einfahrt erinnert«, hatte William auf dem Weg zum Flughafen erklärt. »Und dort ist tatsächlich ein deutliches Schlagloch. Außerdem haben wir uns umgesehen und Anzeichen darauf entdeckt, dass das Fenster eines Raums auf der Südseite zugenagelt gewesen ist. Rings um den Rahmen konnte man deutlich Löcher von Nägeln erkennen.«

Sie hatten auch versucht, durch die Fenster zu spähen, allerdings kaum etwas sehen können, weil überall die Vorhänge zugezogen gewesen waren. Dafür hatten sie auf der Veranda einige Stellen mit frischer Farbe bemerkt, ein Hinweis darauf, dass man dort in den vergangenen zwei Wochen hastig Instandhaltungsarbeiten durchgeführt hatte. Sheriff Sweigert hatte versucht, die Vordertür zu öffnen, doch sie war verriegelt gewesen. »Es gab nicht das Geringste, was wir ohne ordnungsgemäßen Durchsuchungsbefehl tun konnten«, hatte William müde und kopfschüttelnd gemeint. »Wir haben dort gesessen und auf Neuigkeiten gewartet. Die sind dann eine Stunde später in Form eines Anrufs und des Aufkreuzens eines Vertreters von Golgotha gekommen, der uns des Geländes verwiesen hat.« William hatte Brad im Fahren einen Blick zugeworfen. »Der Durchsuchungsbefehl wurde von einem Kreisrichter höherer Instanz aufgehoben, und die Berufung dagegen wird morgen verhandelt.«

Als sie am Flughafen eingetroffen waren, hatte William ihnen mitgeteilt, wen sie in Las Vegas treffen würden. »Sein Name ist John, er war früher Profi-Wrestler. Er hat schon für einen ganzen Haufen von Leuten als Sicherheitsexperte gearbeitet. Ihr werdet ihn mögen. Er hat alles für euch vorbereitet. Und macht euch keine Sorge wegen Geld. Wir haben euch vorläufig im Luxor einquartiert, bis John eine andere Bleibe in einem anderen Teil der Stadt für euch findet.«

»Im Luxor?«

»Ja.« William hatte breit gegrinst. »He, etwas Besseres war so kurzfristig nicht machbar. Sonst hätte es nur ein billiges, flohverseuchtes Motel abseits des Strips ohne jegliche Sicherheit gegeben. John hat sich mit den Sicherheitsmitarbeitern im Luxor kurzgeschlossen, die halten auch die Augen offen. Vertraut mir.« Er hatte Brad auf die Schulter geklopft. »Ihr werdet nicht nur streng, sondern auch gut bewaffnet bewacht, rund um die Uhr. Klar, was ich meine?«

Der Flug war kurz gewesen. Lisa war trotzdem eingedöst. Nach der Landung in Las Vegas hatte ihr Brad aus dem Sitz geholfen und sie den Gang hinunter gestützt.

Ihr Kontakt, John Panozzo, hatte sie bereits erwartet. Er hatte Brad erkannt, ihnen zugenickt und sich ihnen ungezwungen genähert. »Das Auto steht vor der Tür«, hatte er gesagt. John war Mitte 40, hatte einen olivfarbenen Teint, lange schwarze Haare und einen schwarzen Kinnbart. Er war etwas über 1,80 groß, brachte wahrscheinlich rund 100 Kilo auf die Waage und trug an den Fingern Silberringe mit Totenschädeln und Fledermäusen darauf.

Auf der Fahrt zum Luxor redete John nicht viel, aber Brad und Lisa waren ohnehin nicht in der Stimmung für Konversation. John chauffierte sie mit einem Ford Explorer zum berühmten Strip. Als sie das riesige Hotel und Kasino erreichten, führte er sie durch die Lobby direkt zu den Fahrstühlen. Da erwachte Lisa vorübergehend aus ihrem Dämmerzustand, sah sich um und betrachtete die schillernden Lichter, das bunte Treiben im Kasino. »Ihr habt ein Zimmer in der Pyramide«, erklärte John, als er sie in den Aufzug scheuchte. »Eingecheckt seid ihr unter den Namen Brian und Katherine Hopkins. Ihr habt Zimmer 2748. Eure Kreditkarten braucht ihr hier nicht, es wird alles für euch bezahlt. Falls ihr das Zimmer verlassen und ins Kasino wollt, drückt einfach diese Taste und wählt Sternchen gefolgt von 98.« Er reichte Brad ein Handy. »Dadurch landet ihr direkt bei mir oder einem meiner Mitarbeiter. Wir werden euch nicht an der Backe kleben, sondern euch unscheinbar aus dem Hintergrund im Auge behalten. Allerdings schlage ich vor, dass ihr es an eurem ersten Tag hier ruhig angehen lasst, bis ich etwas von Billy höre, nur um auf der sicheren Seite zu sein.«

Nach der Ankunft im Hotelzimmer waren sie fast sofort ins Bett gefallen. Brad hatte noch rasch seine Eltern angerufen, um sie wissen zu lassen, wo sie sich befanden. Er hatte seinen Vater am Telefon gehabt. »Wir sind im Luxor«, hatte er gesagt und ihm die Zimmernummer mitgeteilt. »Billy hat hier alles für uns arrangiert, wir sind in Sicherheit. Er lässt einen Bodyguard auf uns aufpassen. Keine Ahnung, wie lange wir hier sein werden.« Natürlich hatte sich sein Vater besorgt gezeigt, danach hatte er den Hörer an Brads Mutter übergeben, die ihn mit Fragen bombardiert hatte. »Ich kann im Augenblick nicht viel darüber sagen«, hatte Brad erklärt. »Weißt du was, ich rufe morgen wieder an, okay?« Anschließend hatte er Lisas Eltern mit denselben knappen Informationen darüber angerufen, wo sie sich aufhielten, bevor er aufgelegt und sich für eine überwiegend schlaflose Nacht ins Bett begeben hatte.

Nun stand Brad vor dem Fenster und betrachtete Las Vegas in der vormittäglichen Sonne. Er hatte noch nie in einem so eigenartigen Hotelzimmer übernachtet. Da sie sich in der Pyramide des Luxor befanden, verlief eine Wand des Raums in einem Winkel von 45 Grad nach oben. Jene Seite bestand fast vollständig aus Fenstern. Der schräge Winkel gestaltete es nahezu unmöglich, von außen in das Zimmer zu sehen. Hieroglyphen beherrschten das Innendekor, sie erstreckten sich über die Wände und Durchgänge und zierten die Bodenfliesen des großzügigen Badezimmers. Das Bett stand an einer Wand in der Mitte des Zimmers. Der hellbeige Teppich fühlte sich unter Brads nackten Füßen tief und dick an. Kurzum: Lisa und er versteckten sich in einer ziemlich luxuriösen Umgebung.

Lisa gähnte und setzte sich im Bett auf. Blinzelnd öffnete sie die verquollenen Lider. Brad lächelte und ging zum Bett. »Hey«, sagte er, als er sich neben sie setzte. »Wie fühlst du dich?«

»Müde«, antwortete sie gähnend. Als sie in der vergangenen Nacht angekommen waren, hatte sie sich nur rasch umgezogen, war in Boxershorts und ein ärmelloses Shirt geschlüpft, bevor sie ins Bett gefallen war.

»Lust auf Kaffee?«

»Ja.« Sie wirkte benommen. »Aber zuerst brauche ich eine Dusche. Ich müffle wahrscheinlich schon.«

»Mach ruhig. Willst du auch Frühstück?«

»Ja.« Beim Wort ›Frühstück‹ horchte sie sichtlich auf. Sie blieb unterwegs zum Badezimmer stehen und schaute zu Brad zurück. »Arme Ritter und Rührei wären toll.«

»Arme Ritter und Rührei also, wird gemacht.«

Lisa verschwand ins Badezimmer. Brad griff zum Telefon, bestellte eine Kanne Kaffee, Arme Ritter und Rührei für Lisa sowie Pfannkuchen und zwei beidseitig gebratene Spiegeleier für sich selbst. Nachträglich bestellte er noch Orangensaft dazu. Als er schließlich auflegte, war die Dusche bereits angegangen. Und Lisa weinte.

Brad hielt inne und lauschte. Die Dusche schien nicht voll aufgedreht zu sein. Er konnte hören, wie Lisa leise schluchzte, als versuche sie, es zu unterdrücken. Die Laute versetzten Brad einen Stich im Herzen. Es ging ihr wirklich nicht allzu gut und er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Es verstrich kein Tag, an dem sie nicht die obdachlose Frau und deren kleine Tochter erwähnte und hinzufügte, wie schuldig sie sich deswegen fühlte.

Während der ersten paar Tage nach ihrer Rückkehr nach Hause hatte sich Lisa völlig in sich zurückgezogen. Als sie dazwischen ohne Vorwarnung zusammengebrochen und hemmungslos geweint hatte, hielt Brad das damals für eine Reaktion auf die Tortur, die sie durchgemacht hatte – die ursprüngliche Fassung, die sie ihm und den ermittelnden Beamten aufgetischt hatte. Erst nachdem die Wahrheit ans Licht gekommen war, hatte er begriffen, was für eine schreckliche Bürde sie sich damit auferlegt hatte. Über zwei Wochen lang hatte sie die Schuldgefühle in sich hineingefressen, sich tagtäglich damit gequält, immer und immer wieder darüber gebrütet.

Lisas Weinen riss ihn aus seinen Gedanken. Er wollte zu ihr gehen und sie trösten, zugleich jedoch fühlte er sich unsagbar hilflos. Vor zwei Nächten, als sie letztlich eingeknickt war und gestanden hatte, was wirklich passiert war, hatte ihm ihre Gemütsverfassung eine Heidenangst eingejagt. Er hatte sie – oder sonst irgendjemanden – noch nie so deprimiert erlebt. Ich habe sie umgebracht, hatte Lisa geschrien. Ich habe sie umgebracht, ich habe sie umgebracht! In jenen Worten schwang eine so stichhaltige Anklage mit, dass es schwerfiel, ihnen zu widersprechen.

Natürlich wusste er, dass Lisa sie nicht wirklich getötet hatte, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass sie ihnen mit einem Messer die Kehlen aufgeschlitzt oder eine Pistole an die Köpfe gehalten und abgedrückt hatte. Aber subjektiv betrachtet gab sich Lisa die Schuld an der Ermordung der obdachlosen Frau und ihrer Tochter sowie am Tod von Debbie Martinez. Vermutlich quälte sie die Sache mit dem Baby am meisten. Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge, dachte er bei sich. Sie hat das Baby als Köder benutzt. Und diese Typen sind darauf angesprungen. Natürlich wollten sie die Abmachung nicht einhalten. Lisa hatte irres Glück, dass sie entkommen konnte. Nur hat das Glück nicht dafür gereicht, Alicia und ihre Tochter zu retten. Und dafür kasteit sie sich jetzt.

Brad hatte nicht recht gewusst, wie er reagieren sollte, als er die Wahrheit zum ersten Mal zu hören bekommen hatte. Natürlich war er entsetzt gewesen. Auf das Entsetzen war ein eigenartiges Gefühl von Taubheit gefolgt. Er hatte angefangen, Lisa in einem anderen Licht, mit anderen Augen zu sehen. Wenn er darüber nachdachte, was sie getan hatte, kam ihm unweigerlich die Frage in den Sinn, wer sie eigentlich wirklich war.

Und dazwischen stach hervor: Ich kann nicht glauben, dass sich Lisa dazu herabgelassen hat!

Worauf sofort folgte: Denk nicht so über sie! Lisa ist deine Frau! Was hättest du denn getan?

Die Antwort auf diese Frage kannte Brad nicht. Er dachte oft darüber nach. Dennoch hatte er keine Ahnung, wie er an ihrer Stelle gehandelt hätte.

Zögerlich näherte er sich der Tür zum Badezimmer. Er lauschte, wie Lisa unter der Dusche weinte. »Lisa«, sagte er leise und klopfte an die Tür, bevor er sie öffnete. »Lisa?«

Sie antwortete nicht, weinte nur weiter vor sich hin.

»Lisa.« Brad betrat das Badezimmer und näherte sich der Dusche. Der Vorhang war zwar zugezogen, trotzdem konnte er sie dahinter ausmachen. Sie stand unter dem Wasserstrahl, hatte wahrscheinlich die Arme um sich geschlungen und schluchzte mit hängendem Kopf.

»He, willst du reden?« Brad trat auf die Dusche zu.

»Nein.« Sie kämpfte ein weiteres Schluchzen zurück und antwortete stockend: »Nein, es ... es geht mir gut, ich bin nur ...«

»Nur was?«

Er bekam keine Antwort. Sie heulte so laut auf, dass sie einige Atemzüge lang nicht sprechen konnte. Brad wartete geduldig vor der Dusche, bis sie sich ein wenig beruhigte. »Lisa?«

»Was?«

Brad zögerte kurz, wusste eigentlich nicht wirklich, was er sagen sollte. Sie schien so unglaublich deprimiert zu sein. »Lisa, lass uns reden.«

»Ich will nicht reden! Ich will nur noch sterben!« Weiteres Schluchzen.

»Lisa ...«, ergriff Brad erneut das Wort und bemühte sich, stark zu bleiben, obwohl er innerlich zusammenbrach. Er kam sich so allein vor und hatte solche Angst um Lisa und ihre geistige Gesundheit. Nicht zum ersten Mal fühlte er sich schwach und außerstande, irgendetwas Hilfreiches zu tun. »Lisa, sag so etwas nicht.«

»Aber es stimmt«, gab sie weinend zurück. Brad zog den Duschvorhang auf, damit er sie sehen konnte. Sie stand mit dem Rücken unter dem Wasserstrahl. Mit gequältem Blick und verquollenen, geröteten Augen schaute sie zu ihm auf. »Ich will einfach nur sterben. Wenn ich könnte, würde ich mich umbringen. Ich werde mir nie verzeihen, was ich getan habe.«

»Lisa ...« Brad wagte den linkischen Versuch, sie in die Arme zu nehmen. Sie schrak vor ihm zurück.

»Nein, rühr mich nicht an!«, schrie sie. »Rühr mich bloß nicht an! Lass mich in Ruhe! Ich bin eine Mörderin! Ich bin ein Monster, und ich ... ich ...«

»Lisa ...« Brad kam sich so hilflos vor, konnte nichts sagen oder tun, um sie zu unterstützen. Es fühlte sich an, als beobachte er, wie sie in einer rauen See ertrank, die er nicht zu glätten vermochte.

»Du kannst nicht verstehen, wie das ist«, presste seine Frau so unkontrollierbar schluchzend hervor, dass Brad Mühe hatte, sie zu verstehen. »Du ... kannst nicht verstehen ... wie ich mich fühle ... wie es ist ... zu wissen, dass ... dass ich dabei geholfen habe, dieses arme, unschuldige Baby umzubringen. Ich habe sie hingeführt ... Ich habe dieses ... dieses ... Monster mit der Kleinen gefüttert!« Dann verlor sie vollends die Kontrolle über sich. »Ich habe ein wehrloses Baby einem Mann überlassen, der es getötet hat! Ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken, was ... was ... was sie wahrscheinlich durchgemacht hat ... und wie ... wie sie ...« Lisa konnte den Satz nicht beenden, da sie schluchzend zusammenbrach.

Ihr anklagender Tonfall sich selbst gegenüber bohrte sich wie heiße Nägel in Brads Eingeweide. »Lisa, bitte ...«, murmelte er. Dann streckte er die Hand aus und berührte sie am Arm. Diesmal wehrte sie sich nicht dagegen. Sanft schlang er die Finger um ihren Oberarm. »Bitte komm raus und rede mit mir.«

»Ich bin dumm!« Dann rammte sich Lisa plötzlich die Faust mitten gegen die Stirn, so unverhofft und wild, dass Brad überrascht zusammenzuckte. Die Wucht des Hiebs schleuderte ihren Kopf zurück. »Ich bin dumm, dumm, dumm!« Jedes dumm wurde von einem weiteren Schlag gegen die Stirn knapp über dem Nasenansatz betont.

Brad packte ihren Arm, bevor sie sich erneut verletzen konnte. »Lisa, hör auf!«

»Lass mich los!« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden.

»Erst wenn du aufhörst, dir wehzutun!«

Da erschlaffte sie und sank weinend auf den Boden der Duschtasse. Brad kniete sich neben sie und hatte Mühe, die eigenen Emotionen im Griff zu behalten. Unbeholfen hielt er seine Ehefrau fest, während sie in seine Brust schluchzte.

Brad kämpfte selbst mit den Tränen. Seine Kehle brannte. Seine Brust fühlte sich an, als laste ein schweres Gewicht darauf. Von ihr zu hören, dass sie sterben wollte, und zu sehen, wie sie sich selbst verletzte, traf ihn tiefer, als er sich je vorzustellen vermocht hatte.

Eine Weile verharrten sie so – sie heulend in der Duschtasse, er mit den Armen um sie. Irgendwann ging der Sturzbach der Tränen zurück und sie konnte wieder einigermaßen zusammenhängend sprechen. »Du hast ja keine Ahnung, wie sehr es schmerzt«, sagte sie, ohne seinem Blick zu begegnen, das Gesicht immer noch an seine Brust gepresst. »Du kannst es nicht wissen, aber ... als Frau ... kann ich mich in Alicia hineinversetzen ... in ihre Gefühle als Mutter ...«

»Ich weiß«, flüsterte Brad.

»Es tut einfach so weh, zu wissen, was mit ihnen passiert ist. Und zu wissen, dass ich dazu beigetragen habe. Dass sie nur wegen meiner ... Gier ...«

Da zerbrach etwas in Brad. »Gier hatte damit nichts zu tun, Lisa, es ging um dein Überleben!«

»Wie kannst du so etwas sagen?« Sie löste sich mit gepeinigten Zügen von ihm.

»Du hast instinktiv gehandelt«, fügte Brad rasch hinzu und hoffte, seine Worte würden sie beruhigen und ihr helfen, den Fehler in ihrer Denkweise zu erkennen. »Du warst selbst schwanger, Lisa. Du hast aus einem ... ich weiß auch nicht ... aus einem Mutterinstinkt heraus gehandelt. Deine oberste Sorge hat deinem eigenen Schutz gegolten, damit du unser Baby retten konntest. Du hast nicht gewusst, was du gesagt hast, als du ...«

»Aber unser Baby ist gestorben!«, brüllte Lisa, bevor sie neuerlich schluchzte.

»Ja, unser Baby ist gestorben«, stieß Brad an Lisas Schulter hervor und zwang sie, ihn anzusehen. »Aber dagegen können wir jetzt nichts mehr unternehmen. Es ist nicht deine Schuld, dass unser Kind gestorben ist, und genauso wenig ist es deine Schuld, dass diese Männer Alicia und ihr Baby umgebracht haben. Sie haben die beiden getötet, Lisa, nicht du. Sie waren es!«

»Aber ich habe sie zu Alicia und Mandy geführt! Ich habe mein Leben gegen ihres eingetauscht. Und das macht mich zu genau so einem Monster wie ... wie ...« Lisa konnte nicht fortfahren. Stattdessen fing sie wieder zu schluchzen an.

Es brach Brad das Herz, solche Schuldgefühle in der Stimme seiner Ehefrau zu hören. Lisa verkörperte sein Leben, sein Ein und Alles. Er liebte sie mehr als irgendetwas sonst auf der Welt und war so überglücklich gewesen, als sie wohlbehalten gefunden worden war. Als sie ihm dann erzählt hatte, was wirklich geschehen war, hatte er immer noch so empfunden. Ja, er war schockiert und angewidert davon gewesen, was diese Männer getan hatten und welchen Aktivitäten sie nachgingen. Und was Lisa getan hatte, bereitete ihm nach wie vor Unbehagen. Die Konsequenzen ihrer Handlungen hatten ihn entsetzt – sonst wäre er wohl nicht menschlich gewesen. Aber er hasste sie nicht. Er liebte sie und wollte sie beschützen ... und mehr denn je zuvor wollte er die Verantwortlichen finden und töten.

Lisa lehnte sich an ihn, seelisch und mental völlig gebrochen. Brad hielt sie fest, murmelte ihr zu, versuchte, sie bestmöglich zu beruhigen, wusste jedoch, dass alles, was er sagen konnte, auf taube Ohren treffen würde. Innerlich fühlte er sich tot. Ein Teil von ihm wollte selbst einknicken und weinen, aber das konnte er nicht. Sein Körper schien es nicht zuzulassen, als hätte er jenen Teil von sich abgeschaltet, um für Lisa stark zu bleiben und sie zu unterstützen, um ihr Fels zu sein, an den sie sich klammern konnte.

»Ich bin so müde«, murmelte Lisa, nachdem sich ihr Schluchzen gelegt hatte. »Ich bin einfach so müde ...«

»Komm mit«, forderte Brad sie auf. Er half ihr auf die Beine und aus der Dusche. Zum ersten Mal seit dem Vortag sah sie zum Fürchten aus. Ihre Haut war totenbleich und sie zitterte heftig. Brad schlang ihr ein Badetuch über die Schultern. »Wir bringen dich jetzt ins Zimmer und legen dich hin. Vielleicht kann dir etwas zu essen ...«

Lisa hatte mit geweiteten Pupillen starr geradeaus ins Leere geblickt. Plötzlich wurde sie noch bleicher, riss eine Hand an den Mund, stürmte zurück ins Badezimmer und fiel vor der Toilette auf die Knie. Beim Geräusch ihres Würgens wandte sich Brad ab. Gott, er hasste es, wenn sich Menschen übergaben. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Gleichzeitig versuchte er, die Laute auszusperren, die Lisa von sich gab, und die Überwindung aufzubringen, bei ihr zu bleiben und für sie da zu sein. Er kehrte ebenfalls ins Badezimmer zurück und kniete sich neben sie, während sie sich weiter röchelnd in die Toilettenschüssel erbrach. Viel hatte sie nicht hochgewürgt, nur Gallensaft. Ein dünner Speichelfaden hing ihr vom Mund. Sie wischte ihn mit dem Handrücken weg und schnappte nach Luft. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich.

»Schon gut.«

»Ich glaube nicht, dass ich etwas essen kann.«

»Kein Problem. Musst du nicht.«

Lisa richtete sich auf und atmete tief durch. Sie schloss die Augen. Es sah aus, als kämpfe sie mit einer weiteren Welle von Übelkeit. »Ich glaube, ich kann nicht mal den Geruch von Essen ertragen«, presste sie mit belegter Stimme hervor. »Meinst du, dass du die Sachen vom Zimmerservice zurückschicken kannst?«

»Ja«, antwortete Brad. »Ich schicke sie zurück.«

»Danke.« Damit wandte sie sich ab, würgte erneut in die Toilette, und Brad spürte, wie sich ihm selbst bei den Geräuschen der Magen umdrehte. Er wartete neben seiner Frau, tätschelte ihr die Schulter, bis sie nur noch trocken röchelte, und half ihr anschließend zurück ins Schlafzimmer, wo er sie ins Bett brachte und zudeckte.

Als der Zimmerservice an die Tür klopfte, trat Brad rasch hinaus in den Gang und schloss die Tür hinter sich. »Hören Sie«, sagte er und steckte dem Zimmerkellner eine Zehn-Dollar-Note zu. »Meiner Frau ist plötzlich schlecht geworden. Ich fürchte, ich muss das zurückschicken. Tut mir leid.«

»Kein Problem, Sir.« Der Page war jung und hatte einen blonden Igelschnitt.

Die Tür des Zimmers gegenüber öffnete sich, und ein riesiger Schwarzer mit rasiertem Schädel spähte heraus. Er suchte Brads Blick und nickte ihm zu. Hinter dem Mann konnte Brad flüchtig John Panozzo sehen, und er nickte zurück. Die Bodyguards. Die Tür schloss sich wieder. Brad kehrte ins Zimmer zurück und zog die eigene Tür hinter sich zu.

Lisa befand sich nach wie vor im Bett. Sie hatte zu weinen aufgehört und lag mit geschlossenen Augen unter der Decke. »Kommst du ein Weilchen allein zurecht?«

»Wohin gehst du?«

»Nur kurz raus.«

»Es tut mir leid!« Ihre Stimme klang brüchig. Einen Moment lang dachte Brad, sie würde wieder zu weinen anfangen.

»Ist schon gut«, beruhigte er sie schnell. »Ich will nur kurz raus, um eine Kleinigkeit zu essen, und bin dann gleich wieder zurück. John Panozzo hat mit einem Partner die Zimmertür von der anderen Seite des Gangs aus im Auge, dir passiert also nichts.«

»Wirklich?«

»Ja.« Mit dem Wissen, dass John und seine Männer über sie wachten, fühlte sich Brad 100 Prozent besser. Solange sie im Hotel blieben, würde ihnen nichts passieren. Solange jemand hier wäre, der auf Lisa aufpasste, konnte er unbesorgt losgehen, um zu frühstücken. Außerdem musste er William anrufen, um sich zu erkundigen, ob es Neuigkeiten gab. »Ich ziehe mich rasch an, dann bin ich weg. Ich lasse das Handy hier, das John uns gegeben hat, falls du es brauchst.«

»Okay«, murmelte Lisa und schloss die Augen wieder.

Brad ließ die Jalousien herunter, verdunkelte den Raum. Er ging mit seiner Reisetasche ins Badezimmer und schlüpfte rasch aus den Sachen, die er in der Nacht getragen hatte, wusch sich, putzte sich die Zähne, trug Deodorant auf und zog eine kurze Hose, ein frisches Poloshirt, Socken und Schuhe an. Anschließend vergewisserte er sich, dass er seine Brieftasche und den Zimmerschlüssel dabei hatte, sah noch ein letztes Mal nach Lisa und verließ leise den Raum.

Er klopfte an die Tür des Zimmers gegenüber. Fast sofort wurde geöffnet. John Panozzo spähte zu ihm heraus. »Irgendwelche Probleme?«

»Nein, Lisa fühlt sich nur nicht besonders«, antwortete Brad. »Ich gehe rasch nach unten, um einen Happen zu essen. Bleibt ihr beide hier auf eurem Posten?«

»Ja. Warte kurz.« Der Mann verschwand für eine Minute, bevor er zurückkam. »Soll dich jemand begleiten?«

»Nein, ich komme schon zurecht.«

»Okay. Ich gebe dem Sicherheitspersonal des Hotels Bescheid.« John hatte ihnen vergangene Nacht während der Fahrt zum Hotel erklärt, dass sie ihn oder seinen Partner Titan informieren sollten, wenn sie ins Kasino wollten, damit sie das Wachpersonal verständigen konnten. Die Sicherheitsmitarbeiter des Luxor waren vergangenen Nachmittag über die Lage aufgeklärt worden und würden mit Leuten in Zivilaufmachung diskret ein Auge auf sie haben. »Komm so bald wie möglich zurück.«

»Mach ich.«

Brad Miller steuerte den Gang hinunter auf die Fahrstühle zu und versuchte unterwegs, die durch seinen Kopf kursierenden Gedanken zu ordnen. Unter normalen Umständen hätten ihn die Spielautomaten und Kartentische gelockt, und er würde mittlerweile vermutlich Roulette spielen. Aber angesichts des Zustands seiner Frau, der es nicht nur körperlich schlecht ging, sondern die auch den Verstand zu verlieren drohte, bereitete Brad neben dem Stand der Ermittlungen auch Lisa selbst Sorgen.

Wenn sie sich wegen dieser Sache weiterhin selbst so fertigmachte, ließ sich unmöglich abschätzen, was alles passieren könnte. Zum Beispiel könnte sie in eine derart tiefe Depression verfallen, dass ihr Selbstmordgedanken kämen. Er musste sich etwas einfallen lassen, wie er ihr helfen konnte. Offensichtlich böte eine Therapie die beste Möglichkeit dafür, aber er konnte ja schlecht einen Seelenklempner aus den Gelben Seiten von Las Vegas heraussuchen, oder? Immerhin befanden sie sich auf der Flucht, wurden von Bodyguards beschützt. Sie mussten sich vor diesen skrupellosen Bestien verstecken. Er würde so schnell wie möglich mit William reden müssen. Je mehr Brad darüber wüsste, was sich bei den Ermittlungen tat, desto besser könnte er eine Entscheidung darüber treffen, was er unternehmen sollte.

Und genau das war eine Frage, die reiflicher Überlegung bedurfte, mit der er unten in einem der Restaurants bei einem Frühstück begann, das aus Rührei, Würstchen und jeder Menge Kaffee bestand.