22

Lisa Millers zweite Befragung erfolgte durch Detective Orr und dessen Partner Detective Hank Stevens. Wiederum war William Grecko dabei anwesend. Brad wartete in der Zwischenzeit draußen im Eingangsbereich.

Lisa kam alles so monoton vor. Die Ermittler führten sie mit ihrer Befragung denselben Pfad hinab wie vor zwei Wochen, angefangen damit, wie Brad und sie ihr Zuhause für die Fahrt nach Cambria verlassen hatten. Nur erzählte ihnen Lisa diesmal, wie sie der obdachlosen Frau mit ihrem Baby namens Amanda begegnet waren. Endlich fiel ihr auch wieder der Name der Frau ein. »Sie hat Alicia geheißen«, gab sie zu Protokoll. »Ihren Nachnamen hat sie mir nicht verraten.« Als Lisa den Ermittlern eine Beschreibung gab, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Danach fuhr sie mit ihrer Schilderung der Ereignisse fort. Als sie zu der Konfrontation auf der Landstraße und Brads Verhaftung gelangte, forderten die Ermittler sie auf, ihnen Caleb Smith zu beschreiben. »Er ist ungefähr 1,72 groß und hat einen ziemlichen Bauch. Ich schätze, man könnte ihn als birnenförmig bezeichnen. Er hat sandblondes, schütteres Haar und hat zu dem Zeitpunkt eine Brille und einen dichten, buschigen Bart getragen.«

Als sie von der Entführung erzählte, rechnete sie damit, erneut einen Zusammenbruch zu erleiden, was jedoch aus irgendeinem Grund ausblieb. Mittlerweile hatte sie die Szene in Gedanken wohl Tausende Male erneut durchlebt, weshalb sie nur noch wütend darüber wurde. Sie erzählte den Beamten von ihrem Gespräch mit Caleb, in dem er ihr verraten hatte, dass sie in einem Snuff-Film getötet werden sollte. »Ich hatte davor noch nie von so etwas gehört«, sagte sie und spürte, wie sich nun doch wieder ein Schluchzen anbahnte, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich konnte einfach nicht fassen, was mit mir passieren sollte ...«

Dann berichtete sie von Debbie Martinez. Detective Stevens stellte ihr dazu mehrere schmerzliche Fragen. »Debbie war wunderschön«, sagte Lisa, und dann gab es kein Halten mehr für die Tränen. »Sie war so wunderschön, und ... was er ... was er mit ihr gemacht hat ...« Schluchzend verstummte sie mitten im Satz und versuchte, die Erinnerung an die Geräusche auszulöschen, die Debbie von sich gegeben hatte, als sie von Animal gequält und vergewaltigt worden war.

Detective Orr und William Grecko beruhigten Lisa, während Stevens den Raum verließ. Kurz danach kam er zurück. »Ich habe im Büro des Sheriffs von San Bernardino angerufen«, verkündete er. »Eine gewisse Debbie Martinez wurde dort vor knapp zwei Wochen von ihrem Ehemann als vermisst gemeldet. Die Kollegen gehen von einem Verbrechen aus.«

»Gilt der Ehemann als Verdächtiger?«, hakte Detective Orr nach.

»Wollten die mir nicht sagen«, antwortete Detective Stevens und setzte sich vor Lisa. Er war ein Mann mit intensivem Auftreten, roten Haaren, Sommersprossen und einer großen Knollennase, die mitten aus seinem Gesicht hervorstach. Eindringlich sah er Lisa an. »Aber mit Ihnen werden die dort wahrscheinlich reden wollen.«

Lisa nickte. Plötzlich verspürte sie Erleichterung darüber, dass ihre Geschichte bestätigt werden würde. Sie fühlte sich zwar wegen allem, was geschehen war, immer noch mies, doch dass die Behörden sie ernst nahmen, stärkte sie ein wenig. Man suchte bereits nach Debbie, und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Ermittlungen zu beschleunigen. »Ich rede mit ihnen«, erklärte sie sich einverstanden. »Haben Sie Ihren Kollegen gesagt, dass Debbie wahrscheinlich tot ist?«

»Ich habe gesagt, dass sie ein Mordopfer geworden sein könnte und wir uns gerade mit einer möglichen Zeugin unterhalten«, erwiderte Detective Stevens. Er wechselte einen Blick mit Orr. »Warum erzählen Sie uns nicht auch noch den Rest?«

Lisa bemühte sich, ihre Ausführungen zu beenden, ohne dabei allzu sehr zu weinen. Nur zweimal gingen die Nerven trotzdem mit ihr durch – einmal, als sie schluchzend gestand, was sie getan hatte: »Ich ... ich habe das Baby samt Mutter verkauft, um mein eigenes Leben zu retten!« Das zweite Mal an der Stelle, als es ihr gelang, sich zu befreien und zu fliehen. Die beiden Ermittler nickten mitfühlend und kritzelten Notizen. Sie erkundigten sich nach Beschreibungen von Al und Animal. Lisa lieferte sie ihnen und noch mehr. »Als Debbie in die Hütte gekommen ist, hat sie diesen Caleb als Tim angesprochen«, sagte sie und sah die Beamten mit wässrigen Augen an. »Tim Murray. Als Nachnamen habe ich mir nicht gemerkt ... Er ist zwar einmal erwähnt worden, aber ich habe ihn vergessen. Und Animal ... ihn haben sie Jeff genannt.«

Detective Orr notierte sich die Information. »Die Männer haben Sie zu Ihrer Bank gebracht, richtig?«

Lisa nickte.

»Wissen Sie noch, mit wem Sie dort gesprochen haben?«

Lisa schüttelte den Kopf. »Ich weiß den Namen der Frau nicht mehr. Sie war eher klein ... und hatte vielleicht schwarze Haare.«

»Schon gut«, meinte Detective Orr. »Ich bin sicher, wenn Sie die Frau sehen, erinnern Sie sich an sie.«

Als Lisa fertig war, sollte sie die Geschichte von Anfang an noch einmal erzählen. Lisa protestierte dagegen. »Ich habe Ihnen alles schon zweimal geschildert!«, rief sie in Orrs Richtung.

»Wir wollen es nur noch ein letztes Mal hören«, bedrängte der Ermittler sie. »Unter Umständen fällt Ihnen noch etwas ein.«

Lisa wollte den Albtraum nicht immer und immer wieder erleben, indem sie ihn verbal wiederholte. Sie schaute zu William Grecko, der jedoch nickte. »Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Ein letztes Mal.«

Also tauchte sie erneut in den Albtraum ein. Es kam nichts Neues dabei zum Vorschein. Detective Orr nickte, als sie endete. Dann sah er seinen Partner an. »Hätten Sie etwas dagegen, mit uns rauf nach Big Bear zu fahren?«

»Big Bear?«, fragte Lisa neugierig. »Warum Big Bear?«

»Debbie Martinez und ihr Mann Neal haben dort eine Hütte«, erklärte Detective Stevens. »Und dorthin hat dieser Tim Murray Sie gebracht – nach Big Bear. Wir hoffen, dass Sie vielleicht die Hütte erkennen, in der Sie gewesen sind.«

Lisa spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. »Ich will nicht dorthin zurück«, brachte sie mit trockener Kehle hervor.

»Wir werden ja bei Ihnen sein«, beschwichtigte Detective Orr. »Ihnen passiert nichts.«

»Ich ... ich weiß nicht, ob ich die Hütte erkennen kann.« Lisas Herz hämmerte wie wild. Ihre Hände zitterten. So sehr sie der Polizei helfen wollte, diese Drecksäcke zu schnappen, sie wollte nicht noch einmal zu jenem Gebäude. »Ich meine, Tim Murray hatte mir während der Fahrt die Augen verbunden. Und als mich die Männer hinaus zum Van getragen haben, um ... um Alicia und Mandy zu holen ...« Sie drängte ein Schluchzen zurück. »... da haben sie mir auch eine Augenbinde angelegt. Die hatte ich bis Garden Grove auf.«

»Versuchen wir es einfach, in Ordnung?«, ließ Detective Orr nicht locker.

Lisa holte tief Luft und versuchte, sich zusammenzureißen. Sie war so nervös und hatte solche Angst. Was, wenn die dort sind und nur auf mich warten? »Sie werden es herausfinden«, murmelte sie mit brüchiger Stimme. »Sie werden herausfinden, dass ich Ihnen alles erzählt habe, und dann ... dann werden sie ...«

Detective Orr trat auf ihre Seite des Tischs und ergriff ihre Hand. Er sprach in sanftem, beruhigendem Tonfall. »Sie stehen unter unserem Schutz. Niemand wird Sie sehen. Wir fahren in einem Zivilfahrzeug mit getönten Scheiben. Niemand wird Sie im Auto erkennen können. Und Sie brauchen nicht einmal auszusteigen.«

Lisa blickte auf die verschrammte Tischfläche hinab. »Ich weiß nicht recht ...«, brachte sie mit belegter Stimme hervor.

»Mrs. Miller fürchtet, dass die Leute, die das getan haben, es auf sie und ihren Mann abgesehen haben könnten«, meldete sich William Grecko zu Wort und räusperte sich. »Sie haben ihre Handtasche, ihren Ausweis und ihre Kreditkarten gestohlen. Sie hat Angst davor, von ihnen aufgespürt zu werden.«

»Sie werden während der gesamten Fahrt von uns beschützt«, wandte sich Orr mit nach wie vor verständnisvoller, aber eindringlicher Stimme an Lisa. »Ist nur ein kurzer Ausflug. Zuerst bringen wir Sie zum Büro des Sheriffs in San Bernardino, damit man dort mit Ihnen reden kann. Anschließend fahren wir Sie zur Hütte der Familie Martinez. Wir kreuzen dort durch die Umgebung. Falls Ihnen irgendetwas auffällt, das Ihnen auch nur entfernt bekannt vorkommt, sagen Sie es uns einfach.«

»Aber ich konnte doch nichts sehen!«, protestierte Lisa. Wieder traten ihr Tränen in die Augen.

»Es könnte alles Mögliche sein«, warf Detective Stevens ein. »Geräusche, die Sie vielleicht gehört haben. Der Klang der Reifen auf Asphalt oder vielleicht einem Schotterweg. Kurven, durch die Sie gefahren sind. Alles kann dabei helfen, den Standort der Hütte zu ermitteln.«

»Debbie hat gesagt, die Hütte, in der wir waren ... in der uns Tim ... gefangen gehalten hat ... läge ihrer am nächsten«, sagte Lisa und schaute zu Detective Orr auf.

»Anscheinend hat das Büro des Sheriffs von San Bernardino bereits mit den Bewohnern in der Nähe gesprochen«, erwiderte Detective Orr, dessen Blick von Lisa zu William wanderte. »Damit sind sie nicht weitergekommen.« Er beugte sich vor, ließ die Dringlichkeit seiner Bitte deutlich aus seinem Gesicht sprechen. »Bitte, Mrs. Miller.«

Lisa betrachtete den Ausdruck in Detective Orrs Zügen. Er meinte es todernst. Sie schaute zu William Grecko, der abermals nickte. Zitternd drehte sich Lisa wieder dem Ermittler zu und nickte ihrerseits. »Na schön.« Sie schniefte. »In Ordnung.«

»Ich möchte meine Mandantin begleiten«, meldete sich Grecko zu Wort.

»Sie können gern mitkommen«, willigte Detective Orr ein und erhob sich von seinem Sitz. Er gab Stevens ein Zeichen. »Es geht los! Fahren wir.«

Sie bewältigten die Fahrt in zwei Stunden. Lisa saß mit William Grecko in einer blauen Limousine. Detective Orr fuhr, Stevens fungierte als Beifahrer. Brad hatte nicht gewollt, dass sie mitfuhr. Er hatte heftig protestiert, als sie durch die Gänge zum Parkplatz vor dem Gebäude marschiert waren. Auch sie hatte es nicht gewollt, doch sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Zum Glück war es William gelungen, sie beide zu beruhigen, indem er beteuert hatte, er würde sich um alles kümmern. Danach hatte er sich an Detective Orr gewandt und ihm unmissverständlich mitgeteilt, dass er Brad und Lisa sofort nach ihrer Rückkehr nach Orange County zu ihrem Schutz an einen sicheren Ort außerhalb des Staates schaffen würde. »Ich bin nicht sicher, ob Sie das können«, hatte Detective Orr entgegnet.

»Lisa ist ein Opfer«, hatte William Grecko betont. »Sie ist weder eine Verdächtige noch offiziell Zeugin eines Mordes. Sie hat einige ziemlich schreckliche Dinge gesehen und war selbst Opfer einer Entführung, aber das ist schon alles, was Sie haben. Sie haben bisher noch nicht einmal einen physischen Beweis dafür, dass Debbie Martinez tatsächlich tot ist, und ich glaube kaum, dass man seitens des Büros des Sheriffs von Orange County meine Mandantin in Schutzhaft nimmt, bis Sie die Männer finden, die für Lisas Entführung und den Mordversuch an ihr verantwortlich sind.«

»Kommen Sie mir bloß nicht mit diesem juristischen ...«, hatte Detective Orr verärgert angesetzt.

Aber William hatte sich nicht davon beirren lassen. Mit strenger Miene hatte er eine Hand gehoben und war dem Ermittler ins Wort gefallen. »Garantieren Sie meinen Mandanten rund um die Uhr Schutzgewahrsam, und zwar ab sofort?«

»Das kann ich nicht, und das wissen Sie genau! Abgesehen davon bin ich nicht befugt ...«

»Bis Sie es garantieren, werden Sie sich mit mir und meinen Regeln abfinden müssen.« Lisa und Brad hatten den Wortwechsel mit einem Gefühl von nüchternem Abstand mitverfolgt. Lisas Vertrauen in William Greckos Fähigkeiten als Anwalt war dabei erblüht; davor hatte sie nicht sonderlich viel von ihm gehalten, doch in dem Augenblick war ihr klar geworden, weshalb er als einer der gefragtesten Strafverteidiger in Orange County galt. »Wenn Sie mit Lisa reden müssen – kein Problem. Sie geben mir einfach 24 Stunden vorher Bescheid und ich sorge dafür, dass Sie Ihnen hier in Orange County zur Verfügung steht. Solange die Täter, die diese Verbrechen begangen haben, auf freiem Fuß sind, schweben Lisa und Brad in Gefahr. Das bedeutet, sie werden unter meinem Schutz stehen. Mein Schutz – meine Regeln.«

»Ich habe im Augenblick keine Zeit, um mich mit dieser Scheiße herumzuschlagen«, hatte Detective Orr gebrummt, als sie zu dritt zu seinem Fahrzeug gegangen waren. »Mit Ihnen setze ich mich später auseinander.«

William hatte sich Brad zugewandt, bevor sie mit den beiden Ermittlern losgefahren waren. »Ich gehe mit Lisa; ihr passiert nichts. Fahr nach Hause und fang an, Sachen zu packen. Ich treffe auf dem Weg nach Big Bear einige Vorkehrungen. Ich rufe dich dann mit den Einzelheiten an. Wenn Lisa und ich zurückkommen, solltest du bereit sein, in ein Flugzeug zu steigen.«

Den Großteil der Fahrt nach Big Bear verbrachten sie schweigend. William Grecko tätigte mehrere Anrufe über sein Mobiltelefon. Einer ging an sein Büro, um seine Sekretärin aufzufordern, die Abflugzeiten von Irvine nach Las Vegas zu überprüfen. Er gab der Sekretärin Lisas und Brads Namen. »Vegas?«, fragte Lisa und sah ihn ungläubig an. »Warum Las Vegas?«

»Warum nicht?« William trennte die Verbindung, dann ging er seine persönlichen Kontakte durch. »Es ist nah genug, um schnell hierher zurückzukommen, wenn es sein muss, und ich habe dort Verbindungen. Ihr werdet in Sicherheit sein.«

Lisa lehnte sich auf dem Sitz zurück und lauschte, wie William die Vorkehrungen traf. Sie hörte zu, wie am anderen Ende der Leitung jemand abhob, dem er erklärte: »Ich schicke ein junges Paar zu euch, das rund um die Uhr beschützt werden muss. Kannst du das einrichten?« Lisa wusste, dass Detective Orr ebenfalls zuhörte, aber was wollte er schon tun? William legte auf, wählte die Nummer seiner Kanzlei, ließ sich von seiner Sekretärin die Flugdaten mitteilen und rief anschließend erneut in Las Vegas an, um die Informationen dorthin weiterzugeben. »Sie kommen mit Flug 817 von Southwest Airlines an.« Er gab seiner Kontaktperson eine kurze Beschreibung von Lisa und Brad, legte auf und rief Brad zu Hause an, um auch ihm die Flugdaten zu geben. »Sei mit eurem Gepäck bereit, wenn wir zurückkommen«, forderte er ihn auf.

»Wissen Sie, das ist verrückt«, meldete sich Detective Orr zu Wort, als die Runde der Telefonate beendet war. Mittlerweile befanden sie sich in San Bernardino und fuhren in östlicher Richtung auf die Berge zu. »Ich meine, wir sind an dem Fall dran. Wahrscheinlich haben wir diese Kerle bis heute Abend in Gewahrsam.«

»Ich gehe kein Risiko ein«, gab Grecko zurück.

»Verdammt, wir lassen Mrs. Miller die Überwachungsbänder aus der Bank ansehen und vergrößern die Verdächtigen«, sagte Orr. »Durchaus möglich, dass wir irgendwo einen Treffer landen. Das FBI muss inzwischen von diesen Typen gehört haben, und davon, was sie laut Mrs. Miller treiben.«

»Vielleicht«, räumte William Grecko ein. »Aber wie gesagt, ich will keinerlei Risiko eingehen.«

Detective Orr verstummte. Nach etwa einer Minute fragte er Lisa: »Wären Sie dazu bereit, sich Videomaterial anzusehen, wenn wir zurück in Irvine sind?«

Lisa sah ihren Anwalt an, der nickte und für sie antwortete. »Ja. Der Flug der Millers geht erst um 10:30 Uhr heute Abend. Solange sie das Flugzeug erwischen, gern.«

Danach schwiegen sie wieder, während sie durch den Bezirk von San Bernardino auf die Hügel zufuhren und bald danach den Aufstieg ins Gebirge begannen. Als sie die Gemeindegrenze von Lake Arrowhead erreichten, brach Detective Orr das lange Schweigen. »Ich rufe im Revier von Big Bear an und gebe unsere geschätzte Ankunftszeit bekannt. Falls Sie sich an irgendetwas erinnern, scheuen Sie sich bitte nicht, es mir zu sagen.«

Lisa begegnete im Innenspiegel seinem Blick. »Werd’ ich nicht«, sagte sie. Bereits zu Beginn des Wegs in die Berge hatte sie mit dem Versuch begonnen, zusammenzukratzen, woran sie sich noch von der Fahrt mit Tim Murray erinnern konnte, doch es gelang ihr nicht. Ihr waren die Augen verbunden gewesen! Hörten die Beamten ihr denn nicht zu?

William drückte ihre Hand. »Keine Sorge, dir passiert nichts.«

Lisa drehte sich ihm zu und rang sich ein halbherziges Lächeln ab. Dadurch, dass William dabei war und sich um sie kümmerte, fühlte sie sich tatsächlich besser. Doch je näher sie Arrowhead kamen, desto näher kamen sie auch Big Bear. Und mit jener Erkenntnis setzte jenes wachsende Gefühl von Beklommenheit ein, das sie empfunden hatte, als sie mit Tim Murray hier oben gewesen war. Das Wissen, dass sie sich auf derselben Straße befanden, entfachte in ihr eine Angst, die ihr förmlich ein Loch in den Bauch brannte.

Das Revier von Big Bear erwies sich als klein, vergleichbar mit dem Büro eines Immobilienmaklers in einer Kleinstadt. Es gab einen wandschrankgroßen Warteraum, zwei oder drei Büros und im hinteren Bereich eine Zelle, womit alle nötigen Anforderungen eines Polizeireviers einer so winzigen Ortschaft abgedeckt waren. Sie saßen in Sheriff Dean Sweigerts Büro und Lisa fing an, sich klaustrophobisch zu fühlen.

Als sie sich dem Revier genähert hatten, war sie auf eine Panik zugeschlittert, und William hatte in seinem Aktenkoffer nach Antidepressiva gekramt. Lisa hatte zwei Kapseln geschluckt, den Kopf zwischen die Knie geklemmt, die Augen geschlossen und krampfhaft versucht, sich zu beruhigen. Bei der Ankunft am Revier war es ihr ein wenig besser gegangen, trotzdem blieb sie nervös.

Kaum hatte sich Lisa gesetzt, hatte Dean Sweigert auf einem Stuhl unmittelbar vor ihr Platz genommen. Mit verkniffenen, ernsten Zügen sah er ihr in die Augen. Er hatte einen grauen Bürstenhaarschnitt und ein verwittertes, sonnengebräuntes, scharf geschnittenes Gesicht. Sie schätzte ihn auf Mitte 40. »Sie haben verdammt großes Glück gehabt, Ma’am«, meinte er in zugleich sanftem und doch kräftigem Tonfall. »Und wir werden die Leute finden, die das getan haben, so wahr mir Gott helfe.«

Lisa nickte, wollte seinem Blick jedoch nicht begegnen.

»Detective Orr hat mir vor ein paar Stunden übers Telefon alles erzählt«, verriet der Sheriff. »Ich kann nicht fassen, dass Menschen zu einer solchen Barbarei fähig sind. Und schon gar nicht an einem Ort wie Big Bear.« Er schüttelte den Kopf. Dann griff er nach einer Akte auf seinem Schreibtisch, zog etwas daraus hervor und hielt es vor Lisa. Es handelte sich um ein Foto. »Außerdem hat er mir erzählt, was mit Debbie Martinez in der Zeit passiert ist, in der sie als vermisst gegolten hat. Ist das hier die Frau, die Sie gesehen haben?«

Lisa betrachtete das Foto und unterdrückte ein Schluchzen. Es zeigte tatsächlich Debbie Martinez. Debbie saß darauf mit dem Rücken zu einer kleinen Schlucht auf einem Stein und lächelte in die Kamera. Anscheinend war die Aufnahme in irgendeinem Naturpark entstanden – vielleicht Yosemite. Sie trug eine weiße Baumwollbluse, eine blaue Jeans und ein rotes Tuch um den Hals. Die schwarzen Haare fielen ihr offen auf die Schultern. Sie sah wunderschön aus. »Ja«, bestätigte Lisa, nickte dabei und musste Tränen zurückhalten. »Das ist sie. Das ist Debbie ...«

Dean Sweigert steckte das Foto zurück in die Akte. »Ihr Ehemann hat sie vor knapp zwei Wochen als vermisst gemeldet. Wir haben bei der Suche nach ihr die gesamte Gegend durchkämmt.« Er schaute zu Detective Orr und William Grecko, dann zurück zu Lisa. »Glauben Sie, dass Sie uns helfen können? Glauben Sie, dass Sie sich an die Hütte erinnern können, in der Sie festgehalten worden sind?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Lisa und tupfte sich die Augen ab. »Mir waren während der gesamten Fahrt hierher die Augen verbunden, genau wie später, als ich weggebracht worden bin.«

»Im Umkreis von zwei Kilometern von der Hütte der Familie Martinez gibt es drei andere Hütten, in denen Sie gewesen sein könnten«, sagte der Sheriff. »Wir haben bereits mit den Besitzern gesprochen. Zwei bestreiten, sie gesehen zu haben, die dritte Hütte gehört einer Firma, die irgendetwas mit Multimedia oder so zu tun hat. Die nutzt die Hütte für Wochenendausflüge. Angeblich war sie an dem Wochenende vermietet, als Debbie Martinez verschwunden ist.«

»Sind diese anderen Hütten einfach von jener der Familie Martinez aus erreichbar?«, erkundigte sich William Grecko.

»Eine davon«, antwortete der Sheriff und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Aber sie hätte auch mühelos zu den beiden anderen wandern können. Debbie Martinez ist jeden Tag fünf Kilometer gelaufen. Ein Fußmarsch von zwei, drei Kilometern wäre gar nichts für sie gewesen.«

»Tim Murray hat eines der Fenster mit Brettern vernagelt«, meldete sich Lisa zu Wort, als sie an ihre Tortur zurückdachte. Sie schaute zu Dean Sweigert auf, dann zu Detective Orr und William Grecko. »Unmittelbar bevor Debbie aufgetaucht ist, hat er das Fenster im Schlafzimmer zugenagelt, damit ich nicht flüchten konnte. Vielleicht ...«

Sheriff Sweigert bewegte sich zu seinem Schreibtisch und griff nach seinem Funkgerät. »Ich lasse das von jemandem überprüfen.«

»Sagt Ihnen der Name Tim Murray irgendetwas?«, wollte Detective Orr von Sweigert wissen.

Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Jedenfalls taucht der Name auf keiner der Grundstücksurkunden auf, die wir uns angesehen haben.«

»Was ist mit Jeff?«, fragte Lisa. Bei der Vorstellung, ihn Animal zu nennen, schauderte sie. »Kein Nachname. Den habe ich nie erfahren.«

»Ich fürchte, nein«, gab Sweigert zurück. Er wollte gerade in das Funkgerät sprechen, als ein großer, uniformierter Beamter den Kopf zur Tür hereinsteckte. Sweigert schaute auf. »Ja, Glenn?«

»Tut mir leid, dass ich störe, Mr. Sweigert«, entschuldigte sich der Mann und wirkte nervös. »Aber ich habe Sie zufällig reden gehört. Äh ... ich glaube, ich weiß, welche Hütte es sein könnte.«

Dean Sweigert legte das Funkgerät weg. »Okay ...«

Glenn warf einen beunruhigten Blick zu Lisa. »Sie haben doch gesagt, einer der Männer, die Sie entführt haben, heißt Tim, richtig? Und ein anderer Jeff.«

Lisa nickte.

»War jemand namens Al bei ihnen?«

Lisa nickte enthusiastischer. »Ja.«

Der uniformierte Beamte sah blass aus. »Ein großer, dürrer Kerl? Kurze braune Haare, Schnurrbart, dem Aussehen nach vielleicht Ende 30?«

Abermals nickte Lisa. »Das ist er. Das ist Al.«

»Und dieser Tim ... ein plumper Typ mit Brille? Buschiger Bart, sandblonde Haare, mächtiger Bierbauch?«

»Ja«, bestätigte Lisa. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Dean Sweigerts Augen weiteten sich vor Überraschung. »Sie haben diese Männer gesehen?«

»Und dieser andere namens Jeff«, fuhr Glenn fort, ohne dem Sheriff Beachtung zu schenken. »Gut aussehend, ungefähr Anfang 30, dunkle Haare. Ein Yuppie-Typ.«

»Ja.« Lisa spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, als Glenn den Mann beschrieb, den sie als Tier betrachtete. Als Monster.

Der Uniformierte wandte sich an Dean Sweigert. »In der Nacht, als Neal angerufen hat, um Debbies Verschwinden zu melden, haben wir die Gegend südlich der Martinez-Hütte abgesucht. Dabei waren wir auch bei der Golgotha-Hütte und sind dort auf diese Kerle gestoßen. Sie haben ausgesehen, als wollten sie gerade los, und haben Kameraausrüstung in einem Van verstaut. Neal hat diesen Tim gekannt und ihn gefragt, ob er Debbie gesehen hätte, was der Mann verneint hat. Ich ... ich dachte mir zu dem Zeitpunkt nichts dabei ...«

»Sie haben diese Männer gesehen?« Sweigert klang überrascht und aufgebracht.

Glenn nickte. Nervös leckte er sich über die Lippen. »Ja. Wie gesagt, Neal schien diesen Tim Murray zu kennen. Ich habe alle drei befragt. Einer von denen hat behauptet, das erste Mal dort zu sein. Diesem Tim zufolge haben sie die Hütte über das Wochenende benutzt, um einen Low-Budget-Film zu drehen.« Der Mann wirkte nervös, verängstigt und unbehaglich. Es ließ sich nicht übersehen, dass sich Gerüchte über das Verbrechen innerhalb des Reviers verbreitet hatten. »Ich ... ich hatte keine Ahnung, dass diese Kerle ... dass sie ...«

»Ist nicht Ihre Schuld«, schaltete sich Detective Orr mit leiser Stimme ein und seufzte sichtlich frustriert.

Glenn holte tief Luft und ließ einen Moment lang den Kopf sinken. Lisa sah dem Beamten an, dass er Mühe hatte, diese neue Entwicklung zu verdauen. Abermals holte er tief Luft, dann schaute er zu den anderen auf. »Herrgott, ich fühle mich echt beschissen deswegen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass diese Typen die Täter waren. Ich meine, zu dem Zeitpunkt, als ich sie befragt habe, ging es doch lediglich um einen Vermisstenfall, und ... Scheiße!«

»Schon gut, Glenn«, beruhigte ihn der Sheriff mit verkniffener Miene.

»Was hat es mit dieser Golgotha-Hütte auf sich?«, fragte Detective Orr.

»Sie gehört der Golgotha Publishing Company«, klärte ihn Dean Sweigert auf. »Ist irgendein Multimediaunternehmen. Selbsthilfebücher und -videos, CDs, Coaching für Firmen und so ’n Scheiß. Die Hütte wird vom Vorstand genutzt, die Mitglieder ziehen sich manchmal hierher zurück.«

»Nachdem wir wieder von dort weggefahren sind, habe ich Neal über diesen Tim ausgefragt«, warf Glenn ein, der immer noch zutiefst nervös wirkte. »Ihm zufolge hat Tim Murray die Hütte von irgendjemandem gemietet, ihm aber nie erzählt, wem sie gehört. Und Neal hat nie danach gefragt.«

»Haben Sie schon mit denen geredet? Mit den Leuten von Golgotha?«, wollte Detective Orr von Sweigert wissen.

Der Sheriff ging zum Aktenschrank und kramte darin herum. »Ja, haben wir. Ein paar Tage nach Debbies Verschwinden habe ich dort angerufen. Eines der Vorstandsmitglieder hat ausgesagt, die Hütte wäre für jenes Wochenende vermietet gewesen. Irgendeine Filmcrew wollte dort eine Art Studentenfilm drehen.«

»Haben Sie noch den Namen der Person, mit der Sie gesprochen haben?«, fragte Detective Orr.

»Ja.« Der Sheriff fand, wonach er suchte. »Oliver Gardenia.« Er sah Lisa an. »Sagt Ihnen der Name etwas?«

Lisa versuchte, sich zu erinnern. »Ich weiß nicht. Ich ... ich glaube, Al hat irgendwann während des Wochenendes jemanden namens Sam erwähnt, aber ...« An einen Oliver Gardenia konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern.

»Obwohl die Besitzurkunde auf das Unternehmen lautet, tauchen der Name und die Unterschrift dieses Gardenia auf einigen der Dokumente auf, deshalb habe ich ihn angerufen.«

»Machen Sie für mich Kopien von allem, was Sie haben«, bat Detective Orr, ging zu einem anderen Schreibtisch und griff zum Telefon. »Darf ich das mal benutzen?«

»Nur zu.«

Und als die Ermittlungen zwei Gänge höher geschaltet wurden, konnte sich Lisa nur zurücklehnen und sich von William Grecko trösten lassen, während sie versuchte, sich gegen all den Wahnsinn abzuschirmen.