18
Lisa war den vergangenen Tag lang ein wenig übel gewesen, und an diesem Morgen war es schlimmer geworden. Sie befand sich gekrümmt auf ihrem Lieblingssessel neben dem Sofa und bemühte sich, nicht auf die Schmerzen zu achten. Brad merkte ihr an, dass etwas nicht stimmte, doch jedes Mal, wenn er sich erkundigte, behauptete sie nur, es wäre alles in Ordnung und es ginge ihr gut.
Ihr »Urlaub, der in die Hölle umgeschlagen ist«, wie sie es bezeichneten, lag mittlerweile zwei Wochen hinter ihnen. Seither waren sie beide mehrmals sowohl von der Polizei in Los Angeles als auch vom Büro des Sheriffs von Ventura County befragt worden, und Lisa hatte man im USC Medical Center untersucht. Abgesehen von einigen blauen Flecken, Kratzern und Dehydrierung fehlte ihr körperlich nichts. Die Überraschung, die sie Brad ursprünglich während ihres Kurzurlaubs mitteilen wollte, war an jenem Tag ans Licht gekommen. Brad hatte die Neuigkeit mit einer Mischung aus Freude und Erleichterung aufgenommen. Das medizinische Personal hatte Lisa ausführlich über den Angriff auf sie befragt und herauszufinden versucht, ob es zu einer Penetration gekommen war, doch Lisa hatte standhaft beteuert, sie sei nicht vergewaltigt worden. Man hatte zwar andere Dinge mit ihr angestellt, sie jedoch nicht im eigentlichen Sinn des Wortes vergewaltigt.
Brad war so glücklich darüber, dass seine Frau noch lebte, er schien sogar die Geschichte zu schlucken, die sie der Polizei erzählt hatte: Sie war auf dem Weg zu dem Denny’s in der Nähe des Motels gewesen, als ein Van neben sie gefahren war und sie plötzlich von jemandem gepackt wurde. Sie war in den Wagen gezerrt worden und jemand hatte sie mit einem in Chloroform getränkten Lappen betäubt. Das Nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie hinauf in die Berge gefahren waren. Ihre Entführer hatten sie das gesamte Wochenende im Van behalten, sie ein wenig geschlagen und sie gezwungen, Oralsex an ihnen zu vollziehen, während sie Drogen eingeworfen hatten, wahrscheinlich Kokain. Was immer es gewesen sein mochte, sie hatten es geschnupft. Vielleicht auch Crystal Meth. Jedenfalls waren sie davon hyperaktiv und geil geworden, doch so sehr Lisa auch unter Zwang geblasen hatte, die Männer hatten nie eine Erektion bekommen. Bei ihrer ersten Schilderung der Geschichte hatte der Ermittler genickt. »Speedjunkies werden nach einer Weile impotent. Andernfalls wäre die Sache wahrscheinlich schlimmer für Sie ausgegangen.«
Lisa konnte ihre Entführer nicht vernünftig beschreiben, so sehr sie auch diesbezüglich befragt wurde. Es war dunkel gewesen, aber sie war zumindest überzeugt davon, dass sie zu viert gewesen waren. Alle groß und stämmig, und sie könnten alle schwarz aber auch lateinamerikanischer oder samoanischer Herkunft gewesen sein. Jedenfalls waren sie groß und dunkelhäutig gewesen. Einige hatten krauses Haar gehabt und sich in einer merkwürdigen Sprache unterhalten, die geklungen hatte, als könnte es Spanisch sein, doch es war alles so schnell passiert, dass sie sich einfach nicht genau erinnern konnte. Man hatte Lisa wiederholt gefragt, ob Caleb Smith irgendetwas damit zu tun hatte. Anfangs hatte sie mit dem Namen überhaupt nichts anzufangen gewusst, bis sie einer der Ermittler an den Vorfall auf der Straße erinnert hatte, durch den Brad im Gefängnis gelandet war. Lisa hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, er war nicht dabei. Der Van, den diese Kerle hatten, war weiß und ohne Fenster. Überhaupt nicht wie der von Caleb Smith.«
Die Ermittler hatten sich gegenseitig Blicke zugeworfen und nichts dazu gesagt.
Während der gesamten Tortur hatte Lisa einem nervösen Wrack geglichen, und nach einer Weile hatten es die Beamten aufgegeben. Sie hatten einfach die vage Beschreibung der Verdächtigen und des Vans verteilt, die sie erhalten hatten. In den folgenden Tagen hatten sie Lisa noch öfter kontaktiert, doch Lisa konnte ihnen nie etwas Neues liefern. Außerdem fing sie jedes Mal, wenn sie zu sehr mit Fragen bedrängt wurde, zu weinen an und wurde hysterisch. Für die mit dem Fall betrauten Ermittler war offensichtlich, dass sie durch ihre Entführung ein emotionales Trauma erlitten hatte – was auch zutraf, wenngleich nicht so, wie sie dachten.
Lisas Eltern, die aus Iowa nach Orange County geflogen waren, hatten auf die Neuigkeit, dass man sie gefunden hatte, mit Tränenausbrüchen reagiert. Brads Eltern hatten sich genauso freudig gezeigt – seine Mutter auf dieselbe Weise wie Lisas Eltern. Sein Dad hatte es auf die ihm eigene Art aufgenommen: All die Last der Sorgen schien von seinen Schultern abzufallen und er wanderte durch das Krankenhaus, während Lisa untersucht wurde, sah dabei erst müde, dann erleichtert, anschließend glücklich für Brad und danach wieder besorgt aus. »Ich hoffe nur, sie wird wieder ganz gesund«, hatte er gemeint, als sich Brad erkundigt hatte, wie es ihm ging. Vater und Sohn hatten sich gegenseitig angelächelt, wobei der Vater nach dem Stress der vergangenen zwei Tage recht mitgenommen gewirkt hatte.
In den letzten beiden Wochen hatte sich Lisa in sich gekehrt und still gegeben. Nach einer Woche war sie wieder zur Arbeit gegangen, hatte aber nur einen vollen Tag geschafft, bevor sie um einen einmonatigen Urlaub bitten musste. Der Vorfall hatte sie zu sehr traumatisiert. Sie brauchte Zeit, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Ihr Boss, George Brooks, war bei ihrer Rückkehr wegen einer Geschäftsreise nicht im Büro gewesen, deshalb war ihr Gesuch an einen der anderen leitenden Partner gegangen. Der Urlaub war bewilligt worden, und seither verbrachte sie die Tage vor dem Fernseher, über den eine Talkshow nach der anderen flimmerte, während sie in Gedanken woanders weilte. Ihre Nerven schienen sich ständig zu winden, zu krümmen und zu verkrampfen, auf ihrem Verstand lastete nach wie vor schwer, was sie getan hatte, um sich selbst und ihr ungeborenes Baby zu retten.
Brad betrachtete sie durch das Wohnzimmer. »Bist du sicher, dass ich nicht den Therapeuten anrufen soll, den Detective Morse empfohlen hat? Ich kann einen Termin für uns beide vereinbaren.«
Lisa starrte mit ausdruckslosem Blick auf den Bildschirm. »Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich missmutig. »Lass mich darüber nachdenken.«
Brad musterte sie stumm. In den Tagen nach dem Ende des Albtraums hatte ihn die Freude darüber förmlich überwältigt, sie zurückzuhaben. Genauso überwältigt fühlte er sich von der Freude über ihre Schwangerschaft. Er war so glücklich, dass er sich gleich darangemacht hatte, Dinge im Haus umzugestalten, Pläne dafür zu schmieden, das Gästeschlafzimmer in ein Kinderzimmer zu verwandeln und mit Lisa darüber zu reden, ein eigenes Sparkonto fürs College einzurichten. Lisa hatte mit Brad noch nicht über das Geld gesprochen, das sie von ihrem gemeinsamen Sparkonto und von ihrem eigenen Pensionskonto abgehoben hatte; sie hatte die beiden Schriftstücke von der Bank, die jene Transaktionen bestätigten, rechtzeitig in der Post abgefangen, aber letztlich würde sie es ihm wohl sagen müssen. Immerhin würde er es früher oder später unweigerlich bemerken. Lisa war nur noch nicht sicher, wann sie ihm berichten sollte, was wirklich passiert war. Jedenfalls nicht, bevor sie sicher sein konnte, dass er sich dann ihren Wünschen fügen und niemanden darüber informieren würde. Er würde damit einverstanden sein müssen, alles zusammenzupacken, wegzuziehen und irgendwo weit entfernt ein neues Leben anzufangen.
Neue Menschen mit neuen Identitäten. Sie konnten es schaffen.
»Bist du sicher, dass du nicht mit mir reden willst?«, fragte Brad und rückte auf dem Sofa näher zu ihr. Seine Züge wirkten mitfühlend und offen. »Du siehst aus, als hättest du viel auf der Seele, das herauswill.«
Sie schaute zu ihm auf und rang sich mühsam ein Lächeln ab. »Es geht mir gut ... ehrlich. Ich bin bloß ...«
»Es geistert dir immer noch im Kopf herum, stimmt’s?«
Lisa nickte, die Lippen zu einer schmalen, blutleeren Linie aufeinandergepresst. Ihr drehte sich der Magen um, und die Übelkeit kehrte zurück. Schwangerschaftsübelkeit, dachte sie, als die nächste Welle mit solcher Wucht über ihr zusammenschwappte, dass sie sich unwillkürlich krümmte. Ist bloß Schwangerschaftsübelkeit, durch die ich mich so elend fühle, das ist alles, bloß ...
Nur falls es sich um Schwangerschaftsübelkeit handelte, schien merkwürdig zu sein, dass sie just an dem Tag eingesetzt hatte, als sie von Brad im USC Medical Center abgeholt worden war. Und dass sie sich am stärksten äußerte, wann immer sie daran dachte, was sie getan hatte, um sich selbst und ihr Ungeborenes zu retten.
Die Schuld schien mit jedem verstreichenden Tag schwerer auf ihr zu lasten.
Und mit ihr kamen Schmerzen im Unterleib.
Sie lebte nur deshalb noch, weil ihre Entführer jemand anderen an ihrer Stelle genommen hatten. Damit ihr Leben und das des in ihrem Bauch heranwachsenden Kindes verschont worden waren, hatte sie Alicia und deren kleines Mädchen gleichsam als rituelle Opfer dargebracht. Das Bild, das sie am deutlichsten vor Augen hatte, war der Ausdruck in Alicias Gesicht, als Lisa sie in der Nähe des Eingangs zum selben Restaurant überrascht hatte, vor dem Brad und sie ihr ursprünglich begegnet waren. Der Ausdruck der Verblüffung, als Alicia sie erkannt hatte, der Ausdruck von Hoffnung, der in ihre Züge getreten war, als sie die Geschichte geschluckt hatte, die ihr von Animal aufgetischt worden war. Der Sadist hatte sich als Freund von Lisa und Brad ausgegeben und behauptet, sie hätten zu dritt nachgedacht und beschlossen, Alicia und das Baby in einem Motel unterzubringen, bis sie wieder auf die Beine käme. Sie bräuchte ihnen nur zu folgen, Brad warte im Auto. Und dann der völlig verdatterte Blick, als sie den Van erreichten und Tim hinter der Tür hervorkam, als Alicia von Animal hineingestoßen wurde, während ihr gleichzeitig ein in Chloroform getränkter Lappen über Mund und Nase gepresst wurde. Lisa hatte in dem Moment den Griff des Kindersitzes gepackt, bevor er zu Boden fallen konnte. Einen flüchtigen Lidschlag lang hatte sie dabei Alicias Gesicht gesehen, und ihre Augen hatten sich voll Panik auf die von Lisa gerichtet und stumm gefragt: Warum?
Dann hatte sie versucht, nicht mehr darauf zu achten, da sie vor dem Van gegen Animal um ihr Leben gekämpft hatte.
Allerdings spukte jener Ausdruck in Alicias Gesicht dafür jetzt ständig durch Lisas Kopf. Er suchte sie nachts heim, hielt sie vom Schlafen ab.
»Und du willst ganz bestimmt über nichts reden?«, versuchte es Brad erneut.
Lisa schüttelte den Kopf und kämpfte Tränen zurück. Sie wollte ihm unbedingt alles erzählen, aber sie fürchtete sich davor.
Wenn du es jemandem – und ich meine wirklich irgendjemandem – sagst, finde ich dich, und dann enden du, dein ungeborenes Baby und dein Mann als Spielzeug für Animal in einem Film. Hast du das verstanden?
Ich wollte doch nur unbedingt mein Baby retten ...
Lisa spürte, wie die Tränen kamen. »Nein ...«, murmelte sie mit bebender Stimme. »Nein ...«
Der Ausdruck in Alicias Augen, bevor sie durch das Chloroform das Bewusstsein verlor. Warum?
Die Schreie von Alicias kleiner Tochter Mandy, die leiser geworden waren, als Lisa vom Van weggerannt war ... Auch jene Babyschreie wollten ihr nicht mehr aus dem gequälten Kopf gehen.
Lisa begann, selbst zu weinen, schluchzte tief und hemmungslos. Sie krümmte sich unter der Wucht des Anfalls. Dabei wollte sie doch nur ihr eigenes Baby retten. Sie wollte nur das wunderbare Leben retten, dass sie sich mit Brad gerade aufbaute. Was sie gewollt hatte, war, ihrem eigenen ungeborenen Kind – einem Kind, für das Brad und sie so viel geopfert hatten, für dessen Zeugung sie solche Mühen auf sich genommen hatten – eine Chance auf ein Leben zu bieten. Darüber nachzudenken, dass sie einfach so Tim und seine mordlüsternen Partner auf eine unschuldige Frau und ihren Säugling angesetzt hatte, damit sie eine gesichtslose Gruppe von Perversen beliefern konnten, die fette Kohle bezahlten, um ihre kranken, sadistischen Triebe zu befriedigen, erwies sich für Lisa als verheerender, als sie sich je hätte vorstellen können.
»Lisa.« In Brads Stimme schwang tiefe Besorgnis mit. Er kauerte sich neben sie und berührte sie sanft am Knie. »Hey, es ist alles in Ordnung, Liebling. Du bist jetzt in Sicherheit. Es wird alles wieder gut.«
Lisa schüttelte den Kopf, ließ die Tränen ungehindert strömen. Das Schluchzen quoll tief aus ihr hervor, ergoss sich aus den Abgründen ihrer Seele. »Nein, wird es nicht.« Ein weiterer plötzlicher Schmerz schoss in ihren Unterleib, diesmal noch stechender, und sie weinte umso heftiger. Ein Aufschrei des Verlusts entrang sich ihr. »Nein, es wird nicht alles wieder gut. Es wird nie wieder alles gut sein.«
Und damit begann Lisa Miller zu bluten.
Kurz nach Mitternacht, nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus wegen Lisa Millers Fehlgeburt, erzählte sie ihrem Ehemann, was sich wirklich ereignet hatte.
Alles.