30
Ihr Mund war trocken, und sie war durstig.
Sie konnte fühlen, wie die Energie aus ihr abfloss, wie ihr Körper leicht vor Schläfrigkeit wurde.
Und jedes Mal, wenn sie einen solchen Anflug von Schwäche verspürte, schüttelte sie den Kopf, um sich zu wecken, dann kämpfte sie weiter, konzentrierte sich darauf, den Hummer über das unebenmäßige Terrain zu lenken.
Die Schmerzen in ihrer Seite hatten sich zu einem dumpfen Pochen gelegt. Die rechte Hand hielt sie auf die klaffende Wunde gepresst. Dabei bemühte sie sich, nicht darauf zu achten, wie glitschig ihre Haut unter den Fingern zu sein schien oder dass etwas in ihr lose hin und her schwappte. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich ihre Eingeweide in ihren Bauch gedrückt hielt, aber sie sah nicht hin. Das konnte sie nicht. Wenn sie es täte, würde sie die Besinnung verlieren, davon war sie überzeugt. Und wenn sie in Ohnmacht fiele, würde sie die Kontrolle über den Wagen verlieren und entweder gegen einen Felsen oder in einen Abgrund rasen. Vermutlich würde nicht einmal die Kollision selbst sie töten, aber sie würde vielleicht im Wrack eingeklemmt liegen, bis sie im Schockzustand an Blutverlust sterben würde. So sah es aus.
Also fuhr sie weiter.
Der Himmel über Nevada präsentierte sich dunkel vor dichten Regenwolken. Der Wind hatte zugenommen und heulte durch die offenen Fenster herein. Er wehte Lisa die Haare ins Gesicht. Sie leckte sich über die gesprungenen Lippen, ignorierte die Übelkeit in ihrem Magen und die Schmerzen rechts im Unterleib, konzentrierte sich ausschließlich aufs Fahren. Im Zickzack steuerte sie zwischen Felsen und Steinblöcken hin und her. Sie lenkte den Wagen um Kakteen herum, behielt immer ihr Ziel vor Augen: die Straße, die sie ungefähr 500 Meter entfernt undeutlich ausmachen konnte. Wenn sie es zur Straße schaffte, wollte sie es erneut mit dem Mobiltelefon versuchen.
Sie hätte Animal ein für alle Mal töten sollen. Das ging ihr durch den Kopf, während sie weiterfuhr, eine Hand am Lenkrad, die andere an ihrem Unterleib, damit die Gedärme nicht hervorquollen. Animal war von ihrem ursprünglichen Angriff geschwächt gewesen, als er mit wild schwingendem Messer auf sie losgegangen war. Mit der rechten Hand hatte er sein verwundetes Auge bedeckt, und es war unübersehbar gewesen, dass er halb blind war. Lisa hatte den Vorteil seiner Beeinträchtigung genützt, war ihm ausgewichen und hatte einen Gegenangriff gestartet, sich gegen seine ungeschützte Mitte geschleudert und ihn zu Boden gestoßen. Sie hatte noch den Stein in der Hand gehalten, mit dem sie Tim Murray den Schädel eingeschlagen hatte, und sie hatte ihn ansatzlos auf den Kopf des Sadisten niedersausen lassen. Mit dem ersten Schlag hatte sie ihn außer Gefecht gesetzt.
Ihr erster Instinkt hatte darin bestanden, die Flucht zu ergreifen, und um ein Haar wäre sie blindlings losgerannt, als ihr einfiel, dass sie wahrscheinlich den Schlüssel zu einem der Autos bei Tim oder Animal finden würde, die beide regungslos auf dem Wüstenboden lagen. Mit wild hämmerndem Herzen und blank liegenden Nerven war sie umgekehrt, hatte selbst auf das kleinste Zucken von einem der beiden Männer geachtet. Sie hatte sich neben Tim Murray gekniet und beobachtet, wie flach sich seine Brust hob und senkte und wie das aus seinen Ohren fließende Blut zu gerinnen begann, dann hatte sie seine Taschen durchwühlt und eine Geldbörse, ein Handy sowie mehrere Schlüssel entdeckt, darunter einer mit einem Anhänger von einer Mietwagenfiliale in Las Vegas.
Ekstatisch vor Freude war sie schon den Weg zu den Autos angetreten, als ihr klar geworden war, dass Tim noch ihr Mobiltelefon haben musste. Sie war umgekehrt, um es zu holen, hatte es eingeschaltet und die Nummer des Notrufs gewählt. Sie hatte sich das Telefon ans Ohr gehalten, um Hilfe gebrüllt und gehofft, wer immer zuhörte, würde ihre Schreie aufzeichnen. Lisa hatte zwar geglaubt, jemanden hören zu können, doch sie konnte nicht sicher sein, ob es sich um eine Person oder um durch den heftigen Wind verursachtes, statisches Rauschen handelte. Frustriert hatte sie aufgelegt und es erneut versucht. Wieder und wieder. Jedes Mal ohne Erfolg.
Dann hatte sie plötzlich eine Stimme vernommen. Eine kratzige, brüchige Stimme, die von der anderen Seite der Erhebung stammte. »Tim? Animal? Was ist los?« Die alte Frau.
Lisa wusste nicht, weshalb sie es tat, aber sie fing an, sich den Hang hinaufzuschleppen, in der Hand das Handy, das sie Tim abgenommen hatte. Sie drückte eine Taste, um das Anrufprotokoll anzuzeigen, und entschied sich für die erstbeste Nummer, ohne zu wissen, wem sie gehörte. Jede Verbindung zur Welt war ihr recht. Es überraschte sie, als tatsächlich jemand abhob. Klar und deutlich ertönte eine Stimme.
»Hallo?« Sie vermeinte zwar, eine Erwiderung zu hören, doch an der Stelle wurde die Verbindung wieder schlecht und knisternd. Mehrmals wiederholte sie »Hallo?« und glaubte zu hören, dass am anderen Ende der Leitung nach Tim gefragt wurde. Da flammten plötzlich tief aus ihrem Innersten zügelloser Hass und blanke Wut auf. Sie schrie: »Du Dreckschwein ... du willst mit deinem perversen Kumpel Tim reden? Dann hör dir das an!« Damit streckte sie das Telefon von sich, hielt es in die Richtung, in der Tim Murrays Körper lag, bevor sie es sich wieder ans Ohr hielt. »Was gehört? Nein? Tja, der Grund dafür ist, dass Tim so gut wie tot ist. Ich hab ihm das verfickte Hirn aus dem Schädel gehämmert! Wie gefällt dir das?«
Sie wusste nicht, wie viel von ihren Worten übertragen wurde, aber ein Teil davon musste angekommen sein, denn der Mann reagierte sofort. »Was ist da los? Tim?«
Mittlerweile hatte Lisa die Kuppe der Anhöhe erreicht und konnte die alte Frau sehen, die auf der anderen Seite stand und um sich blickte. Als die Greisin Lisa bemerkte, stimmte sie ein verzweifeltes Geheul an. »Hör dir das an, Arschloch!«, brüllte Lisa ins Telefon, bevor sie es in die Richtung der alten Schachtel hielt. »Lass ihn dich hören, Oma!«
»Die Augen! Rick hat gesagt, ich könnte die Augen haben!«
Lisa hielt sich das Handy wieder ans Ohr, als sie den Rückweg zu den Fahrzeugen antrat. »Deine zwei Kumpel sind tot und die alte Hexe lasse ich zum Verrecken hier, Arschgesicht. Du bist erledigt! Wer bist du?«
Diesmal hörte sie der Mann eindeutig. »Wer zum Teufel bist du, Miststück? Wo ist Tim? Wo ist ...?«
Damit legte Lisa auf, und als sie unten ankam, blieb sie stehen, um das in ihr explodierende Gefühl von Triumph und Stolz einen Moment lang auszukosten.
Ich hab ihn verdammt noch mal am Arsch, dachte sie. Wer immer der Kerl ist, er ist jetzt auf der Flucht. Lisa hatte keine Ahnung, wer der Mann sein mochte, mit dem sie telefoniert hatte, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, er würde in derselben illegalen Hardcore-Branche arbeiten wie Tim und Animal. Tims Handy war ein billiges Motorola, in das nur drei Nummern einprogrammiert waren, was Lisa vermuten ließ, dass er es eigens für dieses Wochenende angeschafft hatte. Diese Vorgehensweise, dass sich Leute für kurze Zeit Mobiltelefone kauften und anschließend wegwarfen, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden, kannte sie aus ihrer Kanzlei nur allzu gut. Vermutlich hatte sie mit der Person gesprochen, die diesen speziellen Snuff-Film in Auftrag gegeben hatte. Für den Fall wollte sie das Handy als heiße Spur behalten. Und sobald sie besseren Empfang über einen Funkmast hätte, würde sie erneut versuchen, den Notruf zu wählen.
Sie näherte sich gerade dem Hummer, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Lisa schaute auf und erblickte Animals verzerrte Fratze in den Fensterscheiben des Hummer eine Sekunde, bevor sie spürte, wie kalter Stahl in ihre Seite glitt und ihren Unterbauch aufschlitzte. Warmes Blut strömte über ihren Schritt und ihre Oberschenkel.
Dass sie gegen ihn kämpfte, bemerkte sie erst, als sie ihn schreien hörte. Er beugte sich vor und schlug die Zähne in ihre linke Schulter. Sie heulte auf und versuchte, ihm das Knie in die Weichteile zu rammen. Wieder stach das Messer in ihre Seite, und sie taumelte gegen den Wagen zurück, wurde von seiner Masse dagegengepresst. Ihre rechte Faust schoss nach oben, traf ihn mitten ins Auge und zerdrückte es; seine Kiefer lösten sich von ihrer Schulter, als er aufschrie. Das Messer glitt aus ihr heraus. Adrenalin flutete ihren Körper, steigerte ihren Kampfinstinkt auf ein Maß, das weit über blanke Wut hinausging. Lisa spürte, wie sein Halt an ihr etwas schwächer wurde, und nutzte den Vorteil, indem sie ihm die Faust in die ungeschützte Kehle schlug. Röchelnd wankte er zurück und fasste sich mit der linken Hand an den Hals. Das Messer hatte er fallen gelassen. Lisa packte es an der Klinge, spürte, wie die Schneide ihre Finger aufschlitzte. Sie drehte es mit der rechten Hand herum und rammte es bis zum Anschlag in Animals Brustkorb. Seine Augen quollen aus den Höhlen. Er sog scharf die Luft ein, als hätte ihm jemand einen Tritt in die Eier verpasst. Dann war er rückwärts umgekippt, das Messer hatte aus seinem Solarplexus geragt, sein noch heiles Auge war glasig geworden.
Lisa wusste nicht mehr, wie sie es in den Hummer geschafft hatte, aber sie erinnerte sich daran, über das Gelände rückwärts gefahren zu sein. Als ihr klar geworden war, was sie tat, hatte sie angehalten. Der Hang, vor dem die Fahrzeuge geparkt hatten, befand sich gute 100 Meter entfernt und sie konnte undeutlich Animal und Tim ausmachen, die dort lagen. Dann setzten die Schmerzen ein, brachten die schier unfassbare Realität zurück in ihren Fokus.
Sie warf nur einen kurzen Blick hinab zu ihrer Mitte, doch das genügte, um ihr zu verraten, dass sie eine Menge Blut verloren hatte. Und dass sie vermutlich nicht lange durchhalten würde.
Irgendwie hatte sie das Mobiltelefon beim Einsteigen in den Hummer in der Hand behalten. Erneut wollte sie mit über die Tasten rutschenden Fingern versuchen, den Notruf zu wählen. Panik hatte gedroht, sie zu überwältigen, und sie hatte die Augen geschlossen, sich in Gedanken immer wieder vorgesagt: Du darfst nicht ohnmächtig werden, du darfst nicht ohnmächtig werden ... Gleichzeitig musste sie tief durchatmen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann hatte sie das Telefon in den Becherhalter über der Gangschaltung gelegt und die Hand auf die Wunde an ihrer Seite gepresst, um zu versuchen, die Blutung zu stoppen. Und um meine Eingeweide in mir zu behalten, hatte sie mental hinzugefügt. Ich spüre, dass irgendetwas herausrutschen will und muss es drinnen halten ... Mit der linken Hand hatte sie den Gang eingelegt und das Fahrzeug in eine Richtung gewendet, die ihr sicher vorkam.
Mittlerweile fuhr sie vor sich hin und war nicht einmal sicher, welche Entfernung sie bereits zurücklegen konnte. Sie wusste nur, dass sie inzwischen einige Kilometer zwischen sich und die hinter ihr zurückgelassenen Bestien gebracht haben musste. Und dass sie eine Stelle finden musste, wo sie vernünftigen Empfang mit dem Handy haben würde.
Sie spürte, wie sich der Wind gegen die Seite des Hummer schleuderte, als sie den Wagen über den rauen, sandigen Untergrund lenkte. Die Wolken in der Ferne wurden dunkler. Kurz fragte sie sich, ob sie von einer Flutwelle weggerissen werden würde, sollte es plötzlich und heftig zu regnen beginnen. Sie hatte gehört, dass so etwas bei Gewittern in der Wüste manchmal vorkommen konnte. In der einen Minute präsentierte sich noch alles kahl und trocken, in der nächsten verwandelte sich das Gelände in einen reißenden Strom. Wie dem auch sein mochte, sie hielt es für das Beste, vorerst nicht darüber nachzudenken. Eins nach dem anderen. Sieh einfach zu, dass du schleunigst von hier wegkommst.
Sie fuhr weiter und bemühte sich, das Auto in einer mehr oder weniger geraden Linie zu halten. Dabei hatte sie keine Ahnung, ob sie nach Norden, Süden, Osten oder Westen steuerte. Sie wusste nur, sie musste eine Straße finden, irgendetwas, das an Zivilisation erinnerte. Sie fragte sich, wie weit abseits der nächsten größeren Straße der Hang liegen mochte, der für ihre Ermordung ausgesucht worden war. Wohl mindestens zwei Kilometer. Vielleicht auch mehr. Je weiter weg, desto geringer die Chance, das ihre Leiche je gefunden werden würde. Was bedeutete, dass sie unter Umständen noch einige Minuten würde fahren müssen. Wie lange war sie eigentlich bereits unterwegs? Zehn Minuten? 15?
Ihre Seite pochte. Sie verspürte wieder Übelkeit. Lisa musste gegen den heftigen Drang ankämpfen, sich zu übergeben, und brachte den Hummer dadurch fast vollständig zum Stehen. Sie holte tief Luft, schluckte und nahm den Fuß von der Bremse. Bleib in Bewegung, dachte sie. Fahr einfach. Nichts wie weg von hier.
Sie glaubte zu spüren, wie das Blut unter ihrer Hand gerann. Doch jedes Mal, wenn ihr der Gedanke kam, nahm sie gleich wieder einen warmen Schwall frischer Nässe an der Hand wahr. Sie versuchte, sich wieder auf das Fahren zu konzentrieren, und spähte durch die Windschutzscheibe auf die vom Wind durch die Wüste gerollten Steppenläufer, beobachtete, wie sich vereinzelte Büsche neigten, als es zunehmend heftiger stürmte, hörte, wie das Heulen und Stöhnen der Böen durch die Umgebung tönte. Mittlerweile achtete sie gar nicht mehr darauf, zu lenken, sondern bemühte sich nur noch, den Wagen auf einem steten Kurs zu halten. Die Reifen holperten über Steine und über Kakteen. Lisa spürte, wie ein besonders heftiger Stoß die Dämpfer überforderte und sie unsanft durchschüttelte. Ein neuer Anflug von Schmerzen explodierte in ihrer Seite. Unwillkürlich schrie sie auf und nahm den Fuß vom Gaspedal. Etwas hatte gegen den Unterboden des Fahrzeugs geschlagen, und es klang, als wäre dabei etwas gebrochen, denn der Wagen gab plötzlich ein eigenartiges Stottern von sich. Der Hummer vibrierte heftig, und Lisa löste den Fuß vom Gaspedal. Sie schloss die Augen, kämpfte gegen die Schmerzen an und spürte, wie ihr Lebenssaft aus ihr abfloss. Wie viel Blut kann ein Mensch verlieren, ohne zu sterben?, ging ihr durch den Kopf. Einen halben Liter? So viel hatte sie mindestens schon verloren, vielleicht noch mehr. Der Sitz war völlig durchnässt, und weiteres Rot sammelte sich auf dem Boden in der Nähe der Pedale. Ihr gesamter Rücken klebte bereits. Es ließ sich unmöglich abschätzen, wie viel sie schon draußen während ihres Kampfs gegen Animal verloren hatte. Krampfhaft presste sie die Hand stärker auf die Wunde, ließ die Höllenqualen heißer auflodern, biss die Zähne zusammen. Als sie die Augen aufschlug, verschwamm ihre Sicht und sie umklammerte das Lenkrad fester. Sie stellte den Fuß zurück aufs Gaspedal und richtete die Aufmerksamkeit wieder darauf, den Wagen zu steuern.
Gefühlte fünf Minuten lang schaffte sie es, aufs Fahren konzentriert zu bleiben. Andererseits konnten es genauso gut fünf Sekunden sein. Oder fünf Stunden. Jegliches Zeitgefühl hatte sich von ihr verabschiedet. Die Wolken waren immer noch dunkel, der Wind wehte nach wie vor heftig. Mittlerweile fielen vereinzelte Tropfen vom Himmel. Lisa wusste, dass ein wenig Zeit vergangen sein musste, denn die Landschaft hatte sich verändert. Als sie in den Innenspiegel schaute, konnte sie den Hang, von dem sie aufgebrochen war, kaum noch ausmachen. Er war zu einem winzigen Punkt im Hintergrund geschrumpft. Wie weit war sie gefahren? Einen Kilometer? Zwei?
Plötzlich rollten die Reifen über glatten Asphalt, und sie zuckte zusammen, riss die Augen weit auf. Sie trat auf die Bremse, schaute nach links und nach rechts. Es handelte sich um eine schmale, spärlich asphaltierte Straße, trotzdem um eine Straße. Und wo es Straßen gab, da gab es in der Regel auch Menschen.
Rasch löste sie die Hand von der Seite, legte den Parkgang ein und griff wieder nach dem Handy. Durch das viele Blut an ihren Fingern entglitt ihr das Gerät zunächst. Sie musste es mit beiden Händen halten, als sie den Notruf wählte. Unterbewusst streckte sie dabei vor Konzentration die Zunge heraus. Eine nasse Strähne blutiger Haare hing ihr in die Stirn. Sie schob sie hinters Ohr zurück, hoffte und betete inständig, der Anruf würde durchgehen. Bitte-bitte-bitte-bitte-bitte ...
Nichts.
Am liebsten hätte sie geschrien. Am liebsten hätte sie geweint. Sie unterdrückte beides. Stattdessen verfrachtete sie das Telefon zurück in den Becherhalter, legte wieder den Gang ein, schaute noch einmal in beide Richtungen, entschied sich für rechts und fuhr die Straße entlang weiter.
Sie fragte sich, ob Animal und Tim Murray inzwischen wirklich tot waren. Wie hart hatte sie Tim getroffen? Womöglich war er nur bewusstlos. Vielleicht hatte er lediglich eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Blutete man bei einer Gehirnerschütterung nicht auch aus den Ohren? Unter Umständen wacht er auf, und wenn er Animals Körper dort liegen sieht, wird er wissen, was passiert ist. Wahrscheinlich schnappt er sich dann Animals Schlüssel und verfolgt mich. Vielleicht ist er jetzt gerade hinter mir her und holt auf und ...
Mit einer Willensanstrengung verbannte sie den gesamten Gedankenstrang aus dem Kopf und biss die Zähne zusammen. Mit der Rechten versuchte sie wieder, die Blutung an ihrer Seite einzudämmen.
Und sie fuhr.
Gelegentlich warf sie einen Blick in den Innenspiegel, sah jedoch weit und breit nichts. Die Straße vor ihr präsentierte sich verlassen und allmählich durch den heftigen Wind verdreckt. Die Gewitterwolken rückten näher und wirkten am Horizont pechschwarz. Donner grollte durch die Luft, Blitze erhellten für den Bruchteil einer Sekunde den Himmel. Zu ihrer Rechten konnte sie ausmachen, dass es in weiter Ferne bereits zu regnen begonnen hatte. Nach der Windrichtung zu urteilen, hielt das Unwetter auf sie zu.
Sie fuhr weiter. Und bemühte sich, nicht auf die Schmerzen zu achten, indem sie sich mit anderen Gedanken davon ablenkte. Sie dachte an Brad, an ihre Eltern. Sie dachte daran, dass sie gewonnen hatte, dass sie die Mistkerle besiegt hatte, von denen all das eingefädelt worden war. Und je mehr sie an diese Drecksäcke dachte, desto wütender wurde sie. Und je wütender sie wurde, desto entschlossener wurde sie, gegen die Schläfrigkeit anzukämpfen, die sie zu umfangen drohte. Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, wach zu bleiben. Fahr weiter. Fahr einfach weiter, halt den Wagen auf der Straße und fahr weit...
Und plötzlich gelangte sie auf eine andere Straße, einen wesentlich breiteren Highway. Zwei frisch asphaltierte Fahrspuren.
Sie hielt den Hummer an, schaute die Straße in beide Richtungen entlang, kämpfte gegen Schläfrigkeit an und versuchte, eine Entscheidung zu fällen, wohin sie steuern sollte.
Letztlich bog sie nach links ab.
Kaum befand sie sich auf der breiteren Straße, sah sie in der Ferne ein Licht aufblitzen. Sie kniff die Augen zusammen, hatte mittlerweile schwer damit zu kämpfen, wach zu bleiben. Die Lichter wurden größer, und als sie erkannte, worum es sich handelte, verspürte sie einen solchen Anflug von Erregung, dass sie vor lauter Freude beinah über dem Lenkrad zusammengebrochen wäre. Tapfer fuhr sie weiter, als ihr so mühelos ein Plan kam wie in der Wüste die Entscheidung, um ihr Leben zu kämpfen. Die Scheinwerfer befanden sich noch weit genug entfernt, dass sie den Hummer einfach auf die Gegenfahrbahn lenken und dem herankommenden Fahrzeug den Weg versperren konnte. Der Fahrer würde zweifellos anhalten. Wer immer es sein mochte, er würde aussteigen und ihr helfen.
Lisa drehte das Lenkrad scharf nach links und spürte, wie die Reifen über den Asphalt schlitterten. Sie fürchtete, der Hummer würde umkippen, und riss automatisch die rechte Hand ans Lenkrad, wodurch eine frische Welle von Schmerzen durch ihren Unterleib schwappte. Ihr Fuß trat wiederholt heftig auf die Bremse. Sie spürte, wie sie sich wild drehte, als wäre sie in einem Karussell im Vergnügungspark.
Als der Hummer zum Stehen kam, sah sie sich erneut den mittlerweile deutlich größeren Scheinwerfern gegenüber; sie hatte sich auf der Gegenfahrbahn um 360 Grad gedreht. Die Scheinwerfer kamen näher und näher. Inzwischen konnte sie das Fahrzeug klar erkennen. Es handelte sich um einen Sattelschlepper, einen jener großen Fernstreckenlaster. Lisa konnte das Zischen der pneumatischen Bremsen hören, als er die Fahrt zu verlangsamen begann.
Mit einem Seufzen der Erleichterung tastete sie nach dem Griff der Fahrertür und schwang sie auf. Lisa fiel auf den Asphalt hinaus und brüllte auf, als wieder Schmerzen durch ihre Seite schossen. Sie schmeckte Dreck im Mund. Das Zischen der Bremsanlage des gewaltigen Trucks fauchte laut in ihre Ohren. Sie bemühte sich, das Gefühl der Eingeweide zu ignorieren, die durch die Öffnung herausglitten, die Animal mit dem Messer in ihre Seite geschlitzt hatte. Mühsam versuchte sie, die Arme zu bewegen, um sich vorwärtszuziehen, doch sie konnte fühlen, wie sie in ein dunkles Loch fiel. Lisa wollte dagegen ankämpfen und schüttelte den Kopf, um die Schwärze zu vertreiben, die sie rasant von innen her umfing. Das Letzte, was sie wahrnahm, war, wie sie in Finsternis stürzte, während starke Hände sie packten und der Klang einer männlichen Stimme in ihre Ohren drang.
Brad Millers Eltern waren kurz vor vier Uhr nachmittags im Hotel eingetroffen. Mittlerweile ging es auf halb sechs zu. Er selbst saß zusammengesunken auf einem Stuhl in seinem Zimmer und starrte durch das Fenster hinaus. Seine Mutter hatte neben ihm Platz genommen, sein Vater lief auf und ab, fuhr sich immer wieder mit einer Hand durch das schüttere Haar, wirkte besorgt. Neben zwei Ermittlern aus Las Vegas befand sich der Leiter der Sicherheitsabteilung des Luxor bei ihnen und bemühte sich, für Beruhigung zu sorgen.
Brad schloss die Augen und versuchte, das Gefühl von Angst zu durchtauchen, das ihn fest im Griff hatte. Vor einer halben Stunde hatte Mike Hall, einer der Ermittler, einen Anruf von der Nevada Highway Patrol erhalten. Das Gewitter, das derzeit über Las Vegas tobte, behinderte die Suche. Sämtliche Straßen, die nach und aus Las Vegas führten, waren gesperrt, und es gab Sturzflutwarnungen. »Wir können frühestens morgen Vormittag raus«, hatte der Ermittler Brad informiert.
Bis dahin wird es zu spät sein, dachte Brad. Er presste die Lider fest zu, fühlte sich emotional ausgelaugt. Aus welchem Blickwinkel er seine Zukunft auch betrachtete, ohne Lisa konnte er sie sich einfach nicht vorstellen.
Dann klingelte Mike Halls Mobiltelefon.
Er hob ab. »Ja.« Die lange Pause, die entstand, ließ Brad zu dem Ermittler aufschauen, und was er sah, ließ einen Hoffnungsschimmer in ihm aufflammen. Die Züge des Mannes hellten sich auf. Er lächelte sogar. »Das sind tolle Neuigkeiten, Sir. Ja, ich richte es ihm aus.« Damit legte er auf.
Brad sprang auf die Beine. »Wo ist sie?«
»Man hat sie gefunden«, verkündete Mike Hall und strahlte dabei übers ganze Gesicht wie ein stolzer Vater. »Sie ist im Las Vegas County Hospital und wird gerade operiert. Ein Trucker hat sie auf der Interstate 30 gefunden. Sie ...«
Aber Brad hörte nicht mehr zu. Er stürmte bereits zur Tür, dicht gefolgt von seiner Mutter und seinem Vater. Joan Miller weinte vor Freude und rief ihrem Sohn nach, er solle auf sie warten. Mike Hall konnte der Familie nur ebenfalls folgen und hatte Mühe, bei der wilden Hetzerei zum Krankenhaus Schritt zu halten.
William Grecko verspürte zugleich Freude und Beklommenheit.
Ersteres empfand er jedes Mal, wenn er Brad ansah, der neben seiner Mutter Joan saß und abwechselnd mit Mike Hall oder einem der anderen Ermittler redete. Frank Miller hielt sich ständig in unmittelbarer Nähe auf, saß entweder da und gab lächelnd aufmunternde Worte von sich, lachte vereinzelt sogar, oder lief im Wartezimmer auf und ab, wobei er gelegentlich innehielt, um durch das Fenster auf die verregnete Stadt mit all ihren glitzernden Lichtern zu blicken.
Die Beklommenheit setzte jedes Mal ein, wenn William zu Frank Miller schaute.
Seit der Anwalt im Krankenhaus eingetroffen war, versuchte er krampfhaft, in Frank zu lesen. Brad hatte ihn im Auto angerufen, als er sich gerade knapp außerhalb der Stadt befunden hatte, und er hatte ihm mitgeteilt, dass Lisa gefunden worden war. Auf Fragen von Brad war William nicht sofort eingegangen. Er hatte Brad nur gesagt, er freue sich darüber, dass man sie gefunden hatte, dann war er rechts rangefahren, hatte die Nummer seines Kontakts beim FBI herausgesucht und ihn angerufen. Nachdem er die Neuigkeit weitergegeben und um einen Rückruf auf seinem Mobiltelefon gebeten hatte, war er weitergefahren. Als der Agent schließlich eine halbe Stunde später angerufen hatte, war William gerade auf den Parkplatz des Krankenhauses gebogen. Er war im Auto sitzen geblieben und hatte sich von dem Mann auf den neuesten Stand der Entwicklungen bringen lassen.
Ein Fernfahrer hatte Lisa kurz nach drei Uhr nachmittags auf der Interstate 30 gefunden. Sie hatte einen blauen Hummer gefahren und ihn auf die Gegenverkehrsspur gelenkt. Der Fahrer hatte vermutet, dass irgendetwas nicht stimmte, was sich bestätigt hatte, als er Lisas blutige Gestalt auf dem Asphalt liegen sah. Er war sofort zu seinem Sattelschlepper zurückgekehrt und hatte über CB-Funk einen Notruf abgesetzt. Truckerkollegen hatten reagiert, indem sie für ihn bei den Rettungskräften angerufen und Informationen über seinen Standort weitergegeben hatten. Bis zum Eintreffen der Rettungskräfte hatte der Lkw-Fahrer Lisa in eine Thermodecke gewickelt und versucht, die starke Blutung einzudämmen. Lisa war auf dem Luftweg ins Las Vegas County Hospital transportiert worden, wo man sie umgehend in den Operationssaal gebracht hatte.
Weil ihre Beschreibung durch die Staatspolizei von Nevada verbreitet worden war, hatte man sofort das FBI an den Fundort gerufen. Bei heftigem Wind und Regen war es den Agenten gelungen, das Mobiltelefon im Hummer sicherzustellen. Den Wagen selbst hatte man rasch zu einer Leihwagenfiliale in Las Vegas zurückverfolgt, wo er von einem Mann mit einem kalifornischen Führerschein angemietet worden war, der ihn als Carl Whitman identifizierte. Williams Kontakt hatte ihm mitgeteilt, dass er verblüfft gewesen war, als die Zulassungsbehörde per Fax eine Kopie des Führerscheins zur FBI-Außenstelle geschickt hatte. »Es ist dieser Typ«, hatte er gesagt, während der Anwalt im Auto gesessen und der Regen auf seine Windschutzscheibe geprasselt hatte. »Es ist derselbe Kerl, den Lisa als Tim Murray identifiziert hat. Der Bart ist abrasiert, trotzdem ist es derselbe Mann. Er muss sich einen falschen Ausweis besorgt haben.«
Eine Fahndungsausschreibung nach Tim Murray sowie nach dem immer noch nicht identifizierten Mann aus dem Überwachungsvideo der Bank war eingeleitet worden. Zusätzlich wurde inzwischen ein Standbild der alten Frau verteilt, das die Videokameras im Luxor aufgenommen hatten. Brads Beschreibung der Ereignisse bei Lisas Entführung klangen zwar fantastisch, aber durchaus glaubwürdig. »Eine alte Frau ist die perfekte List«, hatte einer der Agenten zu William gemeint. »Niemand würde damit rechnen, dass jemand, der wie ein niedliches Großmütterchen aussieht, eine kaltblütige Mörderin sein könnte. Aber ... auch Verbrecher werden alt, Bill. Die alte Schachtel macht diese Scheiße wahrscheinlich schon seit zig Jahren.«
Das Gewitter behinderte zwar die intensive Suche nach den Verdächtigen, doch die Behörden zeigten sich überzeugt davon, dass sie am nächsten Tag Fortschritte erzielen würden. In der Zwischenzeit wurde Lisa nach wie vor operiert. Sobald sie das Bewusstsein erlangte und in der Lage wäre, zu reden, würden sich verschiedene Gesetzesvertreter mit ihr unterhalten wollen. William hatte vor, dabei anwesend zu sein und Lisa selbst einige Fragen über bestimmte Dinge zu stellen. Und sobald er die Gelegenheit hätte, unter vier Augen mit ihr zu sprechen, wollte er sie wegen Frank befragen.
William hatte nur einen einzigen Anruf von Phil erhalten, dem Privatdetektiv, den er engagiert hatte. Phil hatte berichtet, dass Frank und Joan Miller ihr Haus in dem Moment verlassen hatten, als er in das Viertel gebogen war, wo das Paar wohnte. »Ich folge ihnen gerade«, hatte er gesagt. »Sieht so aus, als wären sie unterwegs nach Las Vegas. Hast du eine Ahnung, was los ist?«
Diese Meldung hatte William kurz nach Mittag erreicht. Er war sicher gewesen, dass Frank das Haus verlassen würde, um sich vielleicht mit Shectman zu treffen. Das war nicht eingetreten. Stattdessen waren die Millers in ihr Auto gestiegen und schnurstracks nach Las Vegas gefahren. Vielleicht hat Frank ja doch nichts mit alldem zu tun, dachte William. Vielleicht bin ich bloß ... paranoid.
Wenn er paranoid war, dann lag es an Franks scheinbar ruhigem Gebaren. Er beobachtete Frank aus dem Augenwinkel, während der Mann still am Fenster stand und hinaus auf die glitzernden Lichter des Strips von Las Vegas starrte, die sich in der Ferne abzeichneten. William musterte ihn und fragte sich, was im Kopf des Mannes vorgehen mochte. Dann fasste er einen Entschluss, stand auf und trat an Frank heran.
Frank drehte sich um und lächelte, als er den Anwalt sah. »Danke, dass du hier bist, Bill«, sagte er.
William nickte. »Ist doch das Mindeste, was ich tun kann.« Er ergriff Franks Ellbogen und winkte ihn vom Fenster weg. »Hör mal, können wir uns ungestört unterhalten?«, fragte er mit gedämpfter, ernster Stimme. »Unter vier Augen?«
Frank Millers Miene wurde ebenfalls ernst. Er nickte. »Sicher, Bill.«
Die zwei Männer verließen den Warteraum. Joan rief ihnen nach: »Frank?«
Er drehte sich zu seiner Frau um. »Bill und ich laufen bloß rasch ein paar Schritte. Wir sind gleich zurück, Liebling.«
William wartete, bis sie sich außer Hörweite befanden. Er deutete in Richtung der Verkaufsautomaten. »Ich könnte etwas Kaffee vertragen. Wie steht’s mit dir?«
»Klar.«
Kaffee wurde aus dem Automaten geholt, und als sie beide einen warmen Becher in der Hand hielten, nickte der Anwalt Frank Miller zu. »Ich habe da ... also, ich habe Bedenken, über die ich mit dir reden will, Frank.« Er fing an, sich nervös zu fühlen, leckte sich über die Lippen und hasste sich dafür. Normalerweise hatte er kein Problem damit, Leute mit unangenehmen Dingen zu konfrontieren. Als Anwalt tat er das ständig und in der Atmosphäre eines Gerichtssaals blühte er dabei förmlich auf. Aber hier? Im Krankenhaus, wo Lisa Miller gerade einer Notoperation unterzogen wurde, um ihr Leben zu retten, wollte er ihren Schwiegervater mit seinem Verdacht konfrontieren, dass er ihren Mord arrangiert haben könnte?
Verlor er allmählich den Verstand?
»Ich habe Brad die letzten Tage bei dieser Sache geholfen«, begann William und nippte an seinem Kaffee. »Als Brad mir alles erzählt hat, war ich ... schockiert. Es ist ...«
»Es ist einfach unfassbar, dass Menschen solche Dinge tun«, meinte Frank Miller kopfschüttelnd. »Ich weiß. Macht mich richtig krank.«
William musterte Frank, achtete auf seinen Gesichtsausdruck. War Franks bestürzte Miene echt? Es war schwer zu sagen. William fuhr fort. »Na, jedenfalls ... Ich beschäftige viele Privatdetektive. Ich bin sicher, das weißt du. Einem habe ich die Details des Falls gegeben, und er hat sich an die Arbeit gemacht. Außerdem arbeite ich mit den Behörden in Kalifornien zusammen, um dabei zu helfen, die Personen zu finden, die ... du weißt schon ... die Lisa in Ventura entführt haben. Natürlich hatten wir keine Ahnung, dass passieren würde, was heute passiert ist. Ich habe Lisa und Brad hierhergeschickt, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Ich konnte ja nicht wissen, dass ...«
»Wie zum Teufel haben die sie gefunden?« Frank sah den Anwalt mit unverhohlenem Entsetzen und Grauen in den Zügen an. »Wie um alles in der Welt konnten diese ... diese Freaks meinen Sohn und Lisa finden, um zu versuchen, das zu Ende zu bringen, wobei sie in Kalifornien gescheitert sind?«
Mit wachsenden Zweifeln schüttelte William den Kopf. »Ich weiß es nicht, Frank. Genau das will ich ja herausfinden.«
»Es ergibt einfach keinen Sinn«, fuhr Frank fort und nippte an seinem Kaffee. Billy fiel auf, dass sich Frank in seinen Gucci-Schuhen, seinem Poloshirt und seiner dunkelgrauen Hose wie üblich makellos präsentierte. Das gewellte, grau melierte Haar hatte er zurückgegelt. Von seinem Handgelenk baumelte ein goldenes Armband. Er könnte Strafverteidiger sein, dachte William und rieb etwas verlegen an seinem eigenen goldenen Armkettchen. »Die Einzigen, die davon wissen sollten, dass Brad und Lisa hier sind, waren du und deine Leute, wir und Lisas Eltern! Wer könnte es sonst noch erfahren haben?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte William rasch. »Wie gesagt, das versuche ich herauszufinden.«
»Ich weiß, dass Brad mit niemandem in Kalifornien geredet hat, seit er vor ein paar Nächten hier angekommen ist«, fuhr Frank fort. »Er hat uns gebeten, nach psychiatrischer Betreuung für Lisa zu suchen. Ich wüsste nicht, wie irgendjemand außerhalb unseres kleinen Kreises ...«
William hörte ihm nicht weiter zu, als ihm plötzlich eine Erkenntnis kam. Lisas Boss, George Brooks. Erst am Vortag hatte er angerufen, weil er Lisa erreichen wollte. Irgendetwas wegen einer vermissten Akte. Jedenfalls hatte er behauptet, unbedingt mit Lisa sprechen zu müssen. Und was hatte William Grecko getan?
Er hatte George die Nummer im Luxor gegeben.
Es kann nicht George sein, dachte William. Ich kenne ihn. Er ist ebenso wenig ein Sadist wie Frank. Soweit ich weiß, hat er keinerlei Verbindung zu Golgotha. Das Einzige, was ich ihm anhängen kann, ist, dass er wusste, wo Lisa und Brad versteckt waren, und ...
»Alles in Ordnung, Bill?«
William zuckte zusammen und sah Frank an. »Ja, alles bestens. Warum?«
»Hat so ausgesehen, als wärst du mit den Gedanken ganz woanders. Ich weiß, es sieht übel aus, aber wir kriegen diese Mistkerle. Mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe mich mit einem der leitenden Ermittler des Falls unterhalten und ...«
Plötzlich sprudelte es aus William hervor. »Ich weiß, das FBI hat dich noch nicht befragt, Frank, aber ich vermute, das wird wegen deiner Verbindung zu Golgotha nicht mehr lange auf sich warten lassen. Du kennst eines der Vorstandsmitglieder, und der Mann hat dir einen Schlüssel für die Hütte gegeben. Ich weiß alles darüber.«
Frank starrte den Anwalt mit offenem Mund an. Er wirkte perplex.
William setzte nach, kam langsam in Fahrt. »Warum bist du mit der Information nicht längst zu mir gekommen? Bevor ich es selbst herausgefunden habe.«
»Bevor du es selbst herausgefunden hast?«, fragte Frank. »Was meinst du damit, bevor du es selbst herausgefunden hast? Woher sollte ich wissen, dass ein Mann, mit dem ich befreundet bin, in Verbindung mit einem Tatort steht, an dem meine Schwiegertochter beinah zu einem Mordopfer geworden wäre? Mein Gott, Bill! Wenn ich das gewusst hätte ...«
»Dann hättest du es den Behörden gesagt? Warum hast du es nicht getan?« William spürte, wie er in einen Rhythmus fand. Er fühlte sich ziemlich so, wie wenn er im Gerichtssaal einen Zeugen ins Kreuzverhör nahm. »Du musst etwa um dieselbe Zeit von der Golgotha-Hütte erfahren haben wie Brad und ich, also kurz nachdem das FBI mit Lisa oben in Big Bear war und sie den Ort identifiziert hat. Noch am selben Abend habe ich Brad und sie aus Orange County weggeschafft. Seither sind über zwei Tage vergangen, und du hast kein Wort darüber verloren.«
»Beschuldigst du mich etwa, bei alldem die Finger im Spiel zu haben? Willst du darauf hinaus?«
Der Anwalt starrte Frank eindringlich an. »Das hat mit einer Beschuldigung nichts zu tun. Ich sage nur, dass die Indizien ...«
»Was? Dass sie überwältigend sind?« Röte kroch Franks Hals hoch. Er sah stinksauer aus, aber etwas in seinen Augen ließ einen leichten Anflug von Panik erkennen. Lag das daran, dass ihm jemand auf die Schliche gekommen war, oder daran, dass er fürchtete, unschuldig ins Visier der Ermittlungen zu geraten?
»Ja. Sie sind überwältigend.«
»Blödsinn!«
»Frank, hör mir zu.« Frank Miller hatte sich abgewandt und ging zurück in Richtung des Wartezimmers. William eilte hinter ihm her. Ihre Kaffeebecher blieben auf dem Tisch im Imbissbereich zurück. »Jetzt hör mir doch zu. Wenn du nichts damit zu tun hast, fein. Aber die Polizei schnüffelt bereits fleißig herum. Wenn dieser Tim Murray gefasst wird und er die gefundenen Beweise bestätigt, könnte das ernste Auswirkungen für ...«
Frank blieb stehen und wirbelte zu dem Anwalt herum. »Also wirfst du mir doch vor, die Sache eingefädelt zu haben, oder? Du denkst, ich hätte etwas damit zu tun! Du denkst, ich hätte den Mord an meiner Schwiegertochter arrangiert und einen Snuff-Pornoproduzenten engagiert, um ihre Vergewaltigung und Ermordung aufzuzeichnen – aus irgendwelchen Gründen, die sich dein jämmerlicher kleiner Verstand zusammengeträumt hat. Und du kommst deshalb zu dem Schluss, weil Lisa in ihrer Verwirrung und Angst den Ort, an den sie gebracht worden ist, irrtümlich als Larrys Hütte identifiziert hat. So ist es doch, oder?«
»Das FBI führt noch Tests an den in der Hütte gefundenen Beweisen durch«, gab William zurück, »und das weißt du auch. Wenn man nichts findet, prima, aber falls doch, könnte es für dich ratsam sein, darüber nachzudenken, dir einen ...«
»... Anwalt zu besorgen. Klar, Bill. Und ich nehme an, du empfiehlst mir dich dafür, was?«
Frank wollte gar nicht zuhören. William konnte ihm ansehen, dass er außer sich vor Wut war. Sein Gesicht war hochrot angelaufen, seine Augen blitzten vor Zorn. Die Anspannung in der Luft fühlte sich geradezu greifbar an. »Du und ich wissen, dass du an dem Wochenende nicht mal in der Nähe der Hütte warst«, zischte William und begegnete Franks Blick unbeirrt. »Ich habe dich an dem Wochenende gesehen, Frank. Ich habe gesehen, wie schwer dich Lisas Verschwinden getroffen hat. Ich habe gesehen, wie besorgt du warst und wie besorgt du jetzt bist, obwohl sie gefunden worden ist. Ich weiß, dass du nicht dazu fähig bist, so etwas ...«
»Warum wirfst du mir dann vor, die Sache eingefädelt zu haben?«, brüllte Frank Miller.
William zuckte zusammen. Die Lautstärke von Franks Stimme hallte durch seine Ohren. Er sah sich um und erblickte eine Krankenschwester, die den Gang herabkam und sie mit einem Stirnrunzeln bedachte. Mit pochendem Herzen wandte sich der Anwalt wieder Frank zu. »Ich werfe dir gar nichts vor! Ich sage nur, dass die Beweise, die in deine Richtung zeigen ...«
»... überwältigend sind. Da haben wir’s wieder!« Frank warf die Hände hoch. Etwas an seinem Verhalten sollte William später merkwürdig vorkommen. Denn trotz der offensichtlichen Wut, die von Frank ausging, entging William unterbewusst nicht, dass der Mann auch eine Spur von echter Angst ausstrahlte. Einer Angst, die besagte: Ich bin erwischt worden!
William hatte solche Verhaltensweisen in seiner Laufbahn schon Tausende Male gesehen. Er hatte unzählige Menschen in verschiedensten strafrechtlichen Fällen verteidigt, und die meisten davon waren schuldig – was er von Anfang an gewusst hatte. Aber er zwang seine Mandanten nie, ihre Schuld oder Unschuld offenzulegen – seine Aufgabe bestand darin, sie zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass sie gemäß der Verfassung der Vereinigten Staaten einen fairen Prozess erhielten. Und obwohl William seine Mandanten nie fragte, ob sie das jeweilige Verbrechen begangen hatten oder nicht, gaben sie ihr Plädoyer immer freiwillig ab: Ich hab es nicht getan! Ich war es nicht! Und immer mit demselben Gesichtsausdruck und derselben verräterischen Körpersprache, die William wissen ließ, dass sie wie gedruckt logen. Frank Millers Worte und Reaktion auf die Konfrontation teilten ihm alles mit, was er wissen musste. Und mit dieser Erkenntnis ging ein jäher Anflug von Abscheu einher.
Mit vor Grauen geöffnetem Mund starrte er Frank an. »Oh mein Gott ...«, entfuhr es ihm.
»Was?«, herrschte Frank ihn an.
So schnell, wie das Gefühl eingesetzt hatte, schüttelte William es ab und hoffte, Frank würde es nicht bemerkt haben. Er wollte nicht, dass Frank etwas von seiner plötzlichen Erkenntnis mitbekam.
William wusste ohne Zweifel, dass er in die Augen eines Mannes blickte, der sich nicht nur fürchtete, sondern auch log.
Er log, um seine Haut zu retten.
William straffte die Schultern und bemühte sich, Ruhe in seinen Tonfall und sein Auftreten einkehren zu lassen. »Tut mir leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin«, sagte er und folgte damit einem neuen, spontan ersonnenen Plan. »Ich dachte nur, ich sollte dir Bescheid geben und ehrlich zu dir sein. Ich will nicht, dass dich die Polizei als Verdächtigen betrachtet, Frank. Aber wenn du nicht weißt, was dir blüht, wie willst du dich dann verteidigen, wenn sie bei dir aufkreuzen?«
Die Frage durchdrang die Mauer, die Frank rings um sich errichtet hatte. Einen Moment lang legte Frank Miller den Teflon-Anzug ab, den er trug, und William sah einen verängstigten, verwirrten Mann vor sich. Einen verängstigten, verwirrten Mann, der sich davor fürchtete, als das Monster bloßgestellt zu werden, das er war.
Frank sah ihn mit einem Hauch von Panik in den Augen an, dann verschwand der Ausdruck, als er seine Maske rasch wieder aufsetzte. »Niemand wird bei mir aufkreuzen, weil du jetzt niemanden mehr dazu ermutigen wirst, nicht wahr?«
»Ich ermutige sowieso niemanden, Frank, ich versuche lediglich, deinem Sohn und Lisa zu helfen!«
Frank öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich jedoch anders. Stattdessen nickte er und ließ die Schultern ein wenig hängen, als hätte er sein Schicksal gesehen und sich damit abgefunden. »Du hast recht«, sagte er. Zum ersten Mal wirkte er verlegen. »Tut mir leid, dass ich eine solche Szene gemacht habe. Ich weiß, dass du nur zu helfen versuchst. Ich ...«
William wählte seine nächsten Worte mit äußerstem Bedacht. »Das ist wirklich alles, was ich will. Deiner Familie helfen. Ich habe der Polizei und den Ermittlern lediglich bestimmte Informationen gegeben, die ich aufspüren konnte. Momentan nehmen die den SM-Untergrund unter die Lupe und versuchen, irgendjemanden zum Reden zu bringen. Ich weiß, dass die Behörden schon mit einem Kerl gesprochen haben, der als Verdächtiger gilt.«
Jäh schaute Frank auf. »Tatsächlich? Mit wem?«
»Mit einem Kerl namens Rick Shectman.« William achtete aufmerksam auf irgendein Anzeichen von Erkennen in Franks Gesicht, doch falls der Mann Shectman kannte, ließ er es sich nicht anmerken. »Er ist wegen Handels mit Kinderpornografie vorbestraft, und Gerüchten zufolge dreht er wirklich alles, wenn die Kohle stimmt. Auch Snuff-Filme.«
»Wirklich?« In Franks Tonfall schwang etwas mit, das andeutete, er könnte Rick Shectman doch kennen.
»Ja«, bestätigte William, der versuchen wollte, Frank in Sicherheit zu wiegen. »Und natürlich wird immer noch daran gearbeitet, die Typen zu identifizieren, die Lisa entführt haben. Ich vermute, man wird sie bald haben. Sobald Lisa die Operation überstanden hat, wird sie reden. Dein Sohn hat bereits eine gute Beschreibung von der alten Frau geliefert, die John und Titan umgebracht hat, und es gibt Zeugen, die sie zusammen mit einem Mann gesehen haben, der Tim Murray gewesen sein dürfte. Nach und nach fügen sich die Teile zusammen. Ich bin sicher, morgen kann uns Lisa noch mehr dazu sagen. Wir kriegen diese Kerle. Darauf kannst du dich verlassen.«
Frank lächelte und legte mit festem Griff die Hand auf Williams Schulter. »Ich weiß, Kumpel. Du bist ja auch einer der besten Anwälte, die ich kenne. Auch wenn du oft Abschaum verteidigst.« Er lächelte.
William lächelte zurück. So gern er Franks Gebaren für echt halten wollte, jener sechste Sinn verriet ihm, dass unter der lächelnden Oberfläche etwas anderes lauerte. Etwas mit einer dunklen Seele und noch dunkleren Begierden. »Ist ein schmutziger Job, aber irgendjemand muss ihn ja machen.«
Frank Miller lachte.
Sie setzten den Weg zurück zum Warteraum fort. Frank schlang den Arm um Williams Schultern. »Hör mal, es tut mir leid, wie ich da gerade reagiert habe. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Ich schätze ... all der Stress setzt mir einfach zu.«
»Schon gut«, gab der Anwalt zurück.
Der Warteraum befand sich noch ungefähr 100 Meter entfernt. Frank blieb stehen und deutete zur Herrentoilette vor ihnen auf der rechten Seite. »Geh doch schon mal vor und sieh nach, ob es etwas Neues gibt. Ich muss noch eben pinkeln und mich waschen. Von dem Geschrei bin ich völlig verschwitzt.« Frank grinste. William lachte. Auf Franks Stirn und in seinen Haaren glitzerten tatsächlich Schweißperlen. William war zuvor gar nicht aufgefallen, wie stark Frank geschwitzt hatte; dabei zeichneten sich die Tropfen an ihm so deutlich ab wie Regen auf einem frisch gewachsten Auto. Auch im Achselbereich seines Hemds hatten sich nasse Flecken gebildet.
Ein weiteres Anzeichen für seine Schuld? Der Anwalt nickte. »Ja, klar, Frank. Lass dir Zeit. Und es tut mir leid, falls ich anklagend rübergekommen bin. So war es nicht gemeint.«
Sie schüttelten sich gegenseitig die Hände. Frank begegnete dabei dem Blick des Anwalts. Franks Lächeln wirkte nachdenklich. »Ich weiß.« Damit wandte er sich ab und ging zur Herrentoilette.
William steuerte mit rasendem Puls auf das Wartezimmer zu. Im Genick spürte er eine Gänsehaut. Ein Schauder eiskalter Angst umfing ihn. Etwas an Franks Verhalten beunruhigte ihn zutiefst. William hatte in seinem Leben schon etliche böse Menschen verteidigt – Gangmitglieder, denen es am Arsch vorbeiging, dass sie beim Zielen auf einen Gegner versehentlich einem dreijährigen Kind den Kopf weggepustet hatten; Kinderschänder, die Reue heuchelten, aber sich nach der Entlassung aus der Haft gleich auf die nächsten jungen Opfer stürzten; Vergewaltiger, die sich daran ergötzten, Frauen Angst einzujagen und zu misshandeln. Es war in der Tat ein schmutziger Job, doch irgendjemand musste ihn erledigen. Wer eines Verbrechens beschuldigt wurde, hatte das Recht auf Verteidigung vor Gericht – jeder, der schon einmal einen Anfängerkurs in Staatsbürgerkunde besucht hatte, wusste das. William hatte auch schon viele Mandanten verteidigt, von denen er tief in seinem Herzen wusste, dass sie die Dinge nicht getan hatten, die ihnen zur Last gelegt wurden. Das war die Hauptmotivation für ihn als Strafverteidiger – diejenigen zu beschützen und zu verteidigen, die man irrtümlich anklagte. Natürlich musste er oft auch echten Abschaum verteidigen – das gehörte zum Job. Aber von allen Mandanten, die er in seiner Laufbahn je für schuldig der Verbrechen gehalten hatte, die man ihnen vorwarf, hatte ihm noch niemand solche Angst eingejagt wie gerade Frank Miller. Ein Blick in Franks Augen glich einem Blick ins Antlitz des Bösen selbst. Er hatte gedacht, Frank Miller zu kennen, doch damit hatte er sich gründlich geirrt.
Auf halbem Weg zurück in den Warteraum überkam William der plötzliche Drang, ebenfalls die Toilette aufzusuchen. Zwar musste er sich nicht erleichtern, doch er hatte das eindringliche Gefühl, dass etwas passieren würde – dass Frank etwas tun würde und er ihn irgendwie davon abhalten musste.
William rannte den Flur entlang zurück und in die Herrentoilette. Was er sah, verblüffte ihn dermaßen, dass seine erste Reaktion darin bestand, vor Überraschung zu japsen. Dann stockte ihm der Atem, als Frank Miller, der mit dem Rücken zum einzigen Urinal stand und sich eine Pistole an den Kopf hielt, bei der plötzlichen Störung aufschaute, die Waffe von seinem Kopf löste und sie stattdessen auf den Anwalt richtete.
»Frank, nicht!«, schrie William, der kaum wahrnahm, wie die Tür hinter ihm zuschwang. Aus Frank Millers Gesicht hatten Überraschung und Verzweiflung gesprochen, bevor er die Pistole auf den Anwalt geschwenkt hatte. Er atmete schwer. Sein Arm zitterte, während er die Waffe auf William gerichtet hielt.
»Raus hier!«, verlangte Frank mit geweiteten, verängstigten Augen. »Geh schon, raus, das hier hat nichts mit dir zu tun!«
»Es hat sehr wohl mit mir zu tun«, entgegnete William, dessen Gedanken sich förmlich überschlugen. »Bitte nimm die Waffe runter. Lass uns darüber reden.«
»Was gibt’s da groß zu reden? Du hast es mir doch schon deutlich erklärt. Du denkst, ich hätte etwas mit Lisas Entführung und dem versuchten Mord an ihr zu tun. Durch deine gesammelten Indizien denkst du, ich hätte das alles eingefädelt.«
»Das stimmt nicht, Frank, und das weißt du auch. Ich will dir nur helfen.«
»Du hast mir bereits geholfen, indem du mir alles gesagt hast, was ich wissen muss. Und was ich weiß, ist, dass ich erledigt bin.«
William merkte Frank an, dass er genauso nervös wie er selbst war. Als er die Toilette betreten und gesehen hatte, wie Frank die Pistole auf seinen Kopf gerichtet hielt, hatte er auf Anhieb gemerkt, dass der Mann gerade versucht hatte, den Mumm dafür aufzubringen, den Abzug zu drücken. Da er offenbar gezögert hatte, sich selbst zu erschießen, würde er sich vielleicht dazu überreden lassen, die Pistole zu senken. »Ich kann dir helfen«, beteuerte William mit erhobenen Händen. »Ich weiß, es sieht übel aus, aber was ich gesagt habe ... unter Umständen kommt es gar nicht dazu. Ich wollte dir nur für den Fall Bescheid geben, dass es dazu kommt, und ...«
»Oh, es wird dazu kommen, das kann ich dir garantieren«, fiel ihm Frank Miller ins Wort. Immer noch schwitzte er heftig. Aus seinen geweiteten Augen sprach mittlerweile unverhohlene Panik. »Sie werden es herausfinden, und wenn es so weit ist, wirst du es nicht verstehen. Ich will nicht mehr da sein, wenn es passiert, weil ich nicht den Blick in Joans Gesicht sehen will, wenn sie erfährt ...«
»Wenn sie was erfährt, Frank?«, fragte William.
Frank Miller verstärkte den Griff um die Pistole, die er nach wie vor auf den Anwalt gerichtet hielt, der die Arme höher streckte und einen Schritt zurückwich. Sein Rücken stieß gegen die Eingangstür. Sollte in den nächsten Augenblicken jemand hereinkommen, würde derjenige gegen ihn prallen, und Frank würde womöglich vor Überraschung abdrücken. »Bitte nimm die Waffe runter, Frank. Lass uns in Ruhe darüber reden.«
»Wir reden doch schon«, gab Frank zurück. Er wirkte zugleich verrückt und verzweifelt. »Du brauchst nur zuzuhören.«
»Na schön, ich höre zu.« Aber bitte, nimm endlich die Kanone runter!
»Du hast ja schon alles gesagt, was ich wissen musste. Ich bin definitiv erledigt. Mein Leben ist vorbei, im Arsch, gelaufen. Sie werden alles rausfinden. Ich will nicht mehr hier sein, wenn es so weit ist.«
»Was werden sie herausfinden, Frank? Werden sie herausfinden, dass du wirklich in die Sache verwickelt bist?«
Franks gesamtes Gesicht erzitterte; er sah aus, als wäre er den Tränen nahe und versuche krampfhaft, seine Emotionen im Griff zu behalten. Mühsam kämpfte er darum, die Fassung zu bewahren, während er weiter die Pistole auf William richtete. »Ich wollte nie, dass es irgendjemand herausfindet. Das musst du mir glauben. So lange habe ich es geheim gehalten ... niemand hat es gewusst. Nicht einmal du. Und ganz bestimmt nicht Joan – sie hätte es nie und nimmer verstanden. Sie hätte mich in der Sekunde verlassen, in der sie es erfahren hätte. Ich wusste, dass ich ihr diese Seite von mir niemals zeigen durfte. Sie hat sich ja nicht mal auf leichte Fesselspiele mit mir eingelassen. Verstehst du, was ich meine, Bill? Die Schlampe war nie bereit, auch nur ein paar harmlose BDSM-Sachen zu probieren, ein paar Klatscher, ein bisschen Kitzeln, das eine oder andere kleine Rollenspiel. Weißt du, wie sie solche Dinge nennt? ›Die kranken Fantasien Perverser.‹«
William wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er konnte nur dort stehen, die Hände kapitulierend hochgestreckt lassen und hoffen, dass sich Frank beruhigen würde.
»Ich habe es für mich behalten«, fuhr Frank fort. »Es ... es hat mir wehgetan, sie so darüber reden zu hören, also ... habe ich es für mich behalten ...«
William leckte sich über die Lippen. »Ich höre dir zu, Frank. Red weiter ... du kannst mir alles erzählen.«
Frank schaute mit geweiteten, panischen Augen zu dem Anwalt auf. »Warum sollte ich dir alles erzählen? Du wirst doch bloß zu Joan sagen, dass ich ...«
»Was macht es jetzt noch, wenn sie es erfährt?«
Frank umklammerte den Griff der Pistole so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Wenn ich dich auf der Stelle abknalle, erfährt es niemand!«
»Das stimmt nicht, Frank. Auf dem Weg hierher habe ich mit einem meiner Ermittler telefoniert. Er ist derjenige, der die Informationen über dich ausgegraben hat.« Kurz verstummte der Anwalt und hoffte, die Äußerung würde zu Frank durchdringen. Was sie auch tat – Frank Miller erbleichte. »Was glaubst du wohl, wie ich es sonst erfahren hätte? Warum sonst hätte ich das Thema dir gegenüber ansprechen sollen?«
»Oh ... Gott ...«, stieß Frank stöhnend hervor. Sein Rücken lehnte an der Fliesenwand der Toilette. Die Waffe hielt er zwar immer noch auf William gerichtet, aber sein Griff um die Pistole lockerte sich. »Ich bin ... erledigt ...«
»So muss es nicht enden, Frank! Ich kann dir Hilfe besorgen. Bitte nimm die Waffe runter!«
»Du kannst mir nicht helfen. Sie werden es herausfinden, und dann bin ich ruiniert. Ich habe so hart dafür gearbeitet, diesen Teil von mir geheim zu halten ... aber es wird alles ans Licht kommen, und man wird mich ein Monster nennen, dabei habe ich nie wirklich jemanden getötet! Ich sehe nur gern dabei zu! Aber das wird man genauso schlimm finden ...«
Als sich Williams Verdacht bestätigte, musste er einen jähen Anflug von Abscheu zurückdrängen. »Du siehst gern dabei zu? Warum? Das verstehe ich nicht, Frank. Wie bist du darauf gekommen? Warum hast du ...?«
»Ich weiß es nicht«, fiel ihm Frank stöhnend ins Wort. Mittlerweile strömten Tränen über seine Wangen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wie es angefangen hat, es ist einfach passiert! Ich ... habe mich davon angezogen gefühlt und ... habe festgestellt, dass mich solche Hardcore-Bilder sexuell erregen ... und ... je tiefer ich in die Extremhardcore-Szene eingetaucht bin, desto mehr hat es mir gefallen. Und ... irgendwie ist es einfach gewachsen.«
William erlangte einen Teil seiner Zuversicht wieder, die Lage unter Kontrolle bringen zu können. Wenn es ihm gelänge, Frank dazu zu bringen, weiterzureden, indem er beruhigend auf ihn einwirkte, könnte er Frank in einem unachtsamen Moment überrumpeln. »Aber warum Lisa? Ich kann ja noch irgendwie ... akzeptieren, dass du dieses geheime Leben als ... als Voyeur solcher Dinge geführt hast ... aber ... warum ausgerechnet Lisa?«
Darauf schien Frank zunächst nicht antworten zu wollen. Er ließ die Waffe auf William gerichtet, während sich in seinen Zügen ein heftiger Kampf verschiedener Emotionen widerspiegelte. William merkte Frank an, dass er im Begriff war, überzuschnappen. »Ich will mir gar nicht ausmalen, wie Joan darauf reagieren würde, wenn sie wüsste, dass ich auf härtere Sachen als die leichten Fesselspiele stehe, die sie so ... so abstoßend findet. Deshalb habe ich es geheim gehalten. Das musste ich tun. Ich habe Joan gebraucht, habe die Sicherheit einer Frau, einer Familie und eines Jobs gebraucht. Ich habe diesen ... diesen Respekt gebraucht, den man erlangt, indem man erfolgreich ist. Aber ich musste auch hin und wieder meinen Begierden nachgeben. Ich ... ich hatte nie Lust ... aktiv dabei mitzumachen, aber ... aber ... ich sehe es mir gerne an, und ... und ...«
»Wie lange ist das schon so, Frank?«, fragte William mit ruhiger Stimme.
Mittlerweile schaute Frank nicht mehr zu dem Anwalt, hielt jedoch immer noch die Pistole auf ihn gerichtet. »Lange«, antwortete Frank und starrte an die Fliesenwand neben ihm. »Ich hatte Glück, es so lange geheim halten zu können und dieses andere Leben zu führen, ohne dass jemand etwas davon mitbekommen hat. Für mich war es ... wie alles andere. Manche Kerle fahren auf normale Pornografie ab, andere auf Fetischkram ... aber mir hat das alles nie etwas gegeben. Was mir gefällt, sind ... extrem harte SM-Sachen. Anfangs hat es mir gereicht, dass alles nur inszeniert war, dass die Personen in den Videos Erwachsene waren, die diese Dinge freiwillig taten. Da konnte ich noch meine Fantasie spielen lassen und mir einfach vorstellen, dass die Subs unfreiwillig, gewaltsam misshandelt wurden. Aber ... nach einer Weile war das nicht mehr genug. Von einer der Bondage-Gruppen, in denen ich war, wurde ich aufgefordert, zu gehen, ist das zu fassen?« Er sah William an. »Als die herausgefunden haben, dass ich eine Szene sehen wollte, in der dem Sklaven oder der Sklavin echte Gewalt angetan wird, haben sie verlangt, dass ich gehen und nie wieder auftauchen soll. Die haben mich angesehen, als wäre ich ein Freak. Da habe ich gemerkt, dass mit mir ... irgendetwas nicht stimmt.«
»Warum hast du dir nicht helfen lassen?«
Frank ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen starrte er wieder an die Wand, ohne die Pistole zu senken. »Ich habe recherchiert und habe durch einen meiner Kontakte eine andere, elitärere Gruppe gefunden, in der ich aufgenommen wurde. Dadurch ... habe ich mich besser gefühlt. Es hat mir gutgetan, zu wissen, dass es andere wie mich gibt, die nur gerne dabei zusehen, die nach außen hin völlig normal und berufstätig sind, ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten, auch wenn es eine sehr kleine Gruppe von Leuten ist. Wenigstens wusste ich, dass ich mit meiner Neigung nicht alleine war. Ich habe meinen Job erledigt, bin im Management aufgestiegen, habe für meine Familie gesorgt und ihr alles verschafft, was sie gebraucht hat. Aber ich wusste, wenn ich das Bedürfnis hatte, meine Neigung auszuleben, hatte ich dafür ein Ventil. Ich hatte das Glück, das Vertrauen dieser Gruppe zu erlangen. Ich war gut darin, die Klappe zu halten, mich nur bei den Versammlungen zu zeigen, mir die Sachen anzusehen, jede Summe zu bezahlen, die dafür verlangt wurde, und danach wieder zu verschwinden. Aber dann ...«
»Warum Lisa, Frank?«
Immer noch mit dem Rücken an der Wand war Frank in sitzende Haltung auf den Boden gerutscht. Der Arm, der die Waffe hielt, wirkte mittlerweile ziemlich ermattet und zittrig, trotzdem wagte William nicht, vorzustürmen und zu versuchen, Frank die Pistole zu entreißen. Er hoffte stattdessen, den Mann durch Reden zur Aufgabe bewegen zu können. »Kaum hatte ich sie gesehen, wusste ich, dass sie diejenige war.«
Der Anwalt starrte Frank Miller an. »Wie meinst du das?«
»Von dem Moment an, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, ist sie mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Bei jeder Begegnung mit ihr habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, mit ihr ... die Dinge anzustellen, die ich in ein paar Snuff-Filmen gesehen hatte. Immer und immer wieder hatte ich Fantasien darüber, wie es sich anfühlen würde, sie zu foltern, sie beim Leiden zu beobachten. Vielleicht ist das der springende Punkt für ... Leute, die auf so etwas abfahren. Jedenfalls war es für mich so. Ich habe nie dafür bezahlt, mir anzusehen, wie irgendeine anonyme Hure erledigt wird, ich habe mir dabei immer vorgestellt, ich wäre der Täter, und das Opfer wäre jemand anders. Und ... in den letzten Jahren habe ich mir immer ausgemalt, es wäre Lisa.«
William Grecko wurde speiübel dabei, sich das anzuhören, aber er musste es tun. Es überstieg seinen Verstand, dass nicht etwa Bösartigkeit, Gier oder finanzielle Gründe Frank dazu getrieben hatten, Lisas Ermordung zu arrangieren, sondern die schlichte Lust, ihr beim Leiden und Sterben zuzusehen.
»Lange Zeit habe ich mich nur Fantasien darüber hingegeben«, fuhr Frank keuchend fort. »Ich hatte Tagträume darüber, und das war in Ordnung, aber dann ... dann hat sich Brad mit ihr verlobt, und die beiden haben uns häufiger zusammen besucht. Lisa ... sie ist ein Teil der Familie geworden, und dann haben sie geheiratet, und ich fing an, mich ... emotional stärker zu ihr hingezogen zu fühlen. Ich konnte die Gedanken nicht mehr beherrschen, sie wurden stärker und stärker, und ich ... ich wollte nicht eines Tages die Kontrolle über mich verlieren, wenn wir am Nachmittag oder so allein gewesen wären. Ich hatte Angst, ich würde mich irgendwann bei einer solchen Gelegenheit nicht zurückhalten können und sie anmachen. Das hätte mächtig Ärger gegeben, und Brad und Joan ... sie hätten mich für immer gehasst. Also habe ich weiter versucht, diese Gefühle zu unterdrücken, aber sie wollten einfach nicht verschwinden! Sie waren immer da, ganz gleich, was ich versucht habe!«
»Also hast du es getan«, ergriff William das Wort und konnte kaum noch die Abscheu bändigen, die er für den Mann empfand, der ihm als zusammengesacktes Häufchen Elend gegenübersaß. »Du hast nicht mal versucht, dir psychologisch helfen zu lassen, oder? Stattdessen hast du das Geld zusammengekratzt und wolltest sie vergewaltigen und umbringen lassen, damit sie dir gehört hätte, weil du das Gefühl hattest, dass du ihr gehörst! Die einzige Möglichkeit, die du gesehen hast, um deine kranken Gefühle für sie zu kontrollieren, bestand darin, sie selbst zu kontrollieren, und die einzige Möglichkeit dafür wiederum war, ihr dabei zuzusehen, wie sie leidet und stirbt, und eine bildliche Dokumentation davon zu besitzen! So ist es doch, Frank, oder?«
Frank schaute zu ihm auf. »Also verstehst du es?«
»Nein, ich verstehe es nicht. Und ich will es auch gar nicht erst versuchen.«
»Das dachte ich mir schon. Deshalb muss ich das hier tun.« Und mit einer flinken Bewegung steckte sich Frank Miller den Lauf der Pistole in den Mund und drückte den Abzug.
Ein lauter Knall ertönte, und die Plötzlichkeit der Tat ließ William aufschreien und heftig zusammenzucken. Er prallte mit dem Rücken gegen die Eingangstür und spürte Nässe im Schritt, als er sich unwillkürlich anpinkelte. Die Wucht des Schusses schleuderte Franks Schädel gegen die Wand zurück, bevor er auf den Boden zusammensackte und blicklos zur Decke starrte. Blut strömte in zwei Rinnsalen aus seinen Nasenlöchern wie Wasser aus einem aufgedrehten Hahn. Die Waffe, mit der er sich erschossen hatte, ruhte in seiner erschlafften rechten Hand, die auf dem Fliesenboden der Herrentoilette zum Liegen gekommen war. Von der Leiche breitete sich rasant eine riesige Lache aus. Weiteres Blut hatte die Wand und den Spiegel mit einem willkürlichen Spritzmuster überzogen.
William Greckos Magen krampfte sich zusammen. Er beugte sich vornüber, wankte einen Schritt zurück, übergab sich und bekam nicht einmal mit, dass er dabei um Hilfe rief.