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Am Morgen von Brad Millers Anklageerhebungstermin folgten seine Eltern William Grecko in dessen silbernem Mercedes die Interstate 5 entlang in Richtung Ventura. Drei Fahrzeuge vor dem Mercedes zeichnete sich ein weißer Van mit dem Logo des Sheriffs von Ventura County an der Seite ab. Joan und Frank hatten einen flüchtigen Blick auf Brad erhascht, als er zum Van geführt worden war. Er hatte sie gesehen und ihnen zugewunken. Joan und Frank hatten zurückgewunken. Brad hatte zu lächeln versucht, doch es hatte gezwungen gewirkt. Ihr Sohn hatte müde und niedergeschlagen ausgesehen.

In Richter Kurt Plummers Gerichtssaal führte der Gerichtsdiener Brad zum Angeklagtentisch. Als der Richter die für die Anklage eingereichten Dokumente erhielt, warf er einen Blick in den Saal. »Fall 498736, der Staat Kalifornien gegen Brad Miller ...« Sein Blick fand Brad und heftete sich auf ihn. »Sind Sie Mr. Miller?«

»Ja, Euer Ehren«, antwortete Brad. Aus irgendeinem Grund erinnerte der Richter Brad an den Schauspieler Ossie Davis; seine Stimme war tief und gebieterisch, sein ergrauendes Haar verlieh ihm ein würdevolles Erscheinungsbild.

»Und haben Sie einen Rechtsbeistand?«

William Grecko erhob sich von seinem Sitzplatz am Tisch der Verteidigung. »Ich vertrete Mr. Miller, Euer Ehren.«

»Und Sie sind?«

»William Grecko, Euer Ehren.«

Richter Plummer überflog die Unterlagen. Seine Augen zeichneten sich hinter der dicken Brille, die er trug, stark vergrößert ab. Seine Miene verfinsterte sich. »Das ist eine Jedermann-Festnahme.« Er schaute hinüber zum Tisch der Staatsanwaltschaft, wo ein Afroamerikaner in dunklem Anzug mit konservativer Krawatte aufstand. »Worauf plädieren Sie in diesem Fall, Herr Anwalt?«

»Die Bezirksstaatsanwaltschaft verzichtet darauf, Anklage gegen Mr. Miller zu erheben, Euer Ehren«, verkündete der Vertreter der Staatsanwaltschaft.

»Mit welcher Begründung?«

»Mangel an Beweisen, Euer Ehren.«

»Und Sie vergeuden 15 Minuten meiner Zeit heute Morgen, nur um diesen jungen Mann dafür in mein Gericht zu zerren? Ich sollte ein Bußgeld über Sie verhängen, Mr. Carr.«

»Tut mir leid, Euer Ehren.«

Richter Plummer klopfte mit seinem Hammer. »Die Klage gegen Mr. Brad Miller wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft abgewiesen.«

Fünf Minuten später lief Brad mit forschen Schritten aus dem Gerichtsgebäude von Ventura County, gefolgt von seinen Eltern und William Grecko. Seine Augen waren vor Angst geweitet. »Wir müssen Lisa finden!«

»Brad!«

Er blieb stehen und drehte sich um, als seine Eltern und William Grecko zu ihm aufschlossen. Grecko keuchte. Schweißperlen prangten auf seiner Stirn. Er roch leicht nach Wodka.

»Was? Wir haben keine Zeit zu verlieren, es ist inzwischen fast drei Tage her ...«

»Brad.« Plötzlich stand William vor ihm. Er fasste Brad an den Schultern und sah ihm direkt in die Augen. »Hör mir jetzt sehr genau zu.«

Brads Augen wurden noch größer. »Was ist passiert? Hat man sie gefunden? Bitte sag mir, dass man sie gefunden hat ...«

Grecko schwieg einen Moment, während sein Blick kurz zu Frank und Joan wanderte, bevor er zurück zu Brad schwenkte. Der Anwalt wirkte nervös. »Brad, lass mich dir das erklären.«

»Sag mir endlich, was los ist!« Brads Stimme wurde brüchig. Joan brach beim Anblick ihres Sohnes beinah zusammen.

»Sohn, es gibt nicht viele Ausgangspunkte«, ergriff Frank das Wort. Nervös und verunsichert wechselte er einen Blick mit Grecko, der von Brad zurücktrat. Brad drehte sich seinem Vater zu. »Bill hat einen Freund beim FBI. Der konnte ein paar Ermittler zum Motel schicken und ...«

»Sie konnten nichts finden«, beendete William Grecko den Satz. Er sah geknickt aus. »Sie haben mit allen Mitarbeitern des Motels geredet. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Kampf in ihrem Zimmer. Euer Auto steht noch auf dem Parkplatz, dein Gepäck ist noch im Kofferraum, aber Lisas Sachen ... ihre Handtasche und ihr Koffer ... sind weg ...«

»Was soll das heißen, es gibt keine Anzeichen für einen Kampf?«, stieß Brad hervor.

»Die Polizei hat Caleb Smith bislang nirgendwo gefunden«, fuhr Bill fort. »Das FBI hat eine Liste von Personen mit dem Namen erstellt und alle anhand der im Revier angefertigten Phantomzeichnung überprüft. Keiner der Männer hat sich als Smith herausgestellt. Es ist beinah so, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«

»Das kann doch wohl nur ein Scherz sein!«, brüllte Brad und riss die Hände ans Gesicht. Er wirkte einer Panik gefährlich nahe.

»Ich versuche, in der Sache so viel Druck wie möglich auszuüben, aber mein Freund beim FBI sagt, wir brauchen mehr Ausgangspunkte«, erklärte Bill, der entschieden hilflos aussah, was sich in seinen Augen, seiner Haltung, seinen hängenden Schultern niederschlug. Das Gefühl schien sogar die Luft rings um ihn zu durchdringen wie der Geruch von Wodka, der aus seinen Poren sickerte. »Wir haben nichts aus dem Motel, keinen hinreichenden Tatverdacht gegen Caleb Smith, wer immer er sein mag ... keine Zeugen, kein ...«

»Ihr müsst etwas versuchen!«, fiel Brad dem Anwalt ins Wort und packte ihn mit kraftlosen Fingern am Anzug. Sein Blick suchte Williams Gesicht ab, bevor er sich auf seine Eltern richtete. Brad konnte förmlich fühlen, wie er Stück für Stück zusammenbrach. »Bitte, ihr müsst etwas versuchen.«

»Tun wir ja«, beteuerte Grecko, ergriff Brads Hände und drückte sie kräftig. »Wir tun, was wir können.«

Brad stand in Kleidung, die er die vergangenen drei Tage getragen hatte, auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes von Ventura County und bemerkte seinen Körpergeruch gar nicht, als ihn seine Mutter in die Arme nahm. Ebenso wenig bemerkte er die eigenen warmen Tränen, die ihm über die Wangen liefen.