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»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«

Die Mitarbeiterin am Schalter von American Airlines war jung und blond. Zuckersüß lächelte sie Mabel an.

»Ja«, erwiderte Mabel und reichte der Frau einen eselsohrigen Umschlag von American Airlines, der ihre Reiseinformationen enthielt. Ihre Hände zitterten dabei, und sie bemühte sich, dieselbe Zittrigkeit zwecks dramatischer Wirkung in ihre Stimme zu legen. »Ich hätte eigentlich heute früh um acht Uhr fliegen sollen, aber ich habe meinen Flug verpasst. Ich war hier zu Besuch bei meiner Schwester, und sie hatte gestern einen Unfall. Ich konnte nicht zum Flughafen, weil ich den Großteil des Tags im Krankenhaus war, und mein Neffe konnte mich nicht herbringen, weil ...«

Die Schaltermitarbeiterin holte das Flugticket aus dem Umschlag. »Lassen Sie mich mal sehen, ob ich Ihnen helfen kann.«

Mabel nickte und schaute niedergeschlagen drein. Es fiel ihr nicht schwer, sich entsprechend zu verstellen – sie war müde. In der vergangenen Nacht hatte sie zwar den dringend benötigten Schlaf bekommen, aber ihr gesamter Körper strotzte noch vor blauen Flecken und fühlte sich wund von dem beschwerlichen Marsch durch die Wüste an. Danach hatte sie so dringend Erholung gebraucht, dass sie die ursprüngliche Abflugzeit einfach verschlafen hatte. Sie schniefte. »Ich hoffe wirklich, dass ich es heute noch nach Hause schaffe«, jammerte sie mit leiser Stimme. »Ich musste mir hierher ein Taxi nehmen, weil wir meinen Neffen immer noch nicht finden konnten, und ich muss zurück nach Hause, um die nötigen Dokumente für das Testament meiner Schwester zu besorgen, sollte sie ... Sie wissen schon ...«

Die Schaltermitarbeiterin gab Informationen in ihren Computer ein, während Mabel wartete, und das Lächeln der jungen Frau wurde breiter. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Schneider. Wir können Sie auf den nächsten Flug von American Airlines von Las Vegas nach Philadelphia buchen.«

Mabel schaute auf und bemühte sich, hoffnungsvoll dreinzuschauen. »Wirklich?«

»Wirklich.« Die Frau tippte auf einige weitere Tasten. »Wir haben einen Flug, der in 30 Minuten abhebt. Flugnummer 293. Kommt um 22:36 Uhr an. Wäre Ihnen das recht?«

Mabel nickte. »Oh ja, das wäre wunderbar. Vielen Dank.«

»Kein Problem.« Die blonde Frau lächelte unverändert, als sie begann, Mabels neues Ticket auszustellen. Mabel lächelte. Wenn sie diese Hürde genommen hatte, würde sie es auch nach Hause schaffen. Sie hatte Stunden gebraucht, um sich einen Weg um die niedrigen Hügel herum zu bahnen, wo sie diese Miller-Schlampe erledigen wollten, und als sie endlich in dem Bereich angekommen war, in dem die Autos parkten, hatte es in Strömen geregnet.

Der Hummer war verschwunden gewesen, aber der Saturn SUV hatte noch neben dem großen Felsen gestanden. Mabel hatte sich die Schlüssel genommen, die Animal eingesteckt hatte, und seinen Körper flüchtig untersucht. Der Sadist war noch am Leben gewesen, bewusstlos zwar, mit einem aus dem Körper ragenden Messer, aber Mabel konnte sehen, wie sich sein Brustkorb langsam hob und senkte. Sie zog die Klinge heraus und stach sie in sein rechtes Auge, was ihr einen langsamen, schaudernden Höhepunkt bescherte. Dann leckte sie das Messer sauber und ging dorthin, wo der fette Kerl auf dem Boden lag. Aus seinen Ohren war eine Menge Blut ausgetreten und mittlerweile geronnen. Auch er lebte noch, zumindest glaubte sie das. Angesichts des strömenden Regens und ihrer angeschlagenen Nerven, die sie anbrüllten, schleunigst zu verschwinden, war es schwer zu sagen. Sie kniete sich neben ihn und schlitzte ihm sicherheitshalber noch die Kehle auf. Danach stieg sie in den SUV und ruhte sich einige Atemzüge lang aus, bevor sie den Motor anließ und davonfuhr.

Zurück zum Motel brauchte sie vier Stunden. Die Fahrt durch den sintflutartigen Regen war furchteinflößend, das erste Mal seit Langem, dass sie so etwas wie Angst empfand. Sie fuhr langsam, bemühte sich, nach Möglichkeit nicht über größere Steine zu rollen, und versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den Tim eingeschlagen hatte. Es dauerte allein eine Stunde, um eine befestigte Straße zu finden, eine weitere, um zurück zum Highway zu gelangen. Als sie auf die erste Straße stieß, hatte der Regen die Wüste bereits geflutet. Sie war einer Panik nah und hoffte inständig, nicht von einer Sturzflut erfasst zu werden. Erst als sie den Highway erreichte, fühlte sie sich etwas besser. Der Tank des SUV war zu drei Vierteln voll, mehr als genug, um es zurück nach Las Vegas zu schaffen. Auf dem Weg zurück ließ sie sich Zeit, und als sie die Stadt erreichte, versuchte sie, sich daran zu erinnern, wo ihr Motel lag. Den Namen wusste sie noch, nicht jedoch die Adresse, aber ein Anruf bei der Auskunft genügte, um sich mit der Rezeption verbinden zu lassen, von der Mabel eine genaue Wegbeschreibung erhielt. Gegen acht Uhr abends war sie wohlbehalten in ihrem Zimmer angekommen und hatte sich nach einem heißen Bad erschöpft ins Bett fallen lassen.

Mittlerweile lag es fast 24 Stunden zurück, dass sie versucht hatten, Lisa Miller zu wecken, um ihre Folterung und Ermordung filmen zu können. Das war ja nun definitiv nicht passiert, und eigentlich kümmerte es Mabel einen Scheißdreck. Sie war für ihre Arbeit bei der Sache bereits von Rick Shectman bezahlt worden, darauf hatte sie bestanden, sonst wäre sie gar nicht erst in das Flugzeug nach Las Vegas gestiegen; er hatte ihr das Geld in bar per Kurier aus New York überbringen lassen. Die Polizei war nicht bei ihr im Motel aufgekreuzt, und sie hatte die Nacht tief und fest durchgeschlafen. Nach dem Aufwachen hatte sie erneut heiß gebadet, ihre Sachen gepackt und ausgecheckt. Anschließend war sie zu einer Denny’s-Filiale gefahren und hatte sich Frühstück bestellt: Rührei, Pfannkuchen, Würstchen, Orangensaft und Kaffee. Danach war sie zurück in den SUV gestiegen, hatte noch einmal überprüft, ob sie ihr Ticket in der Handtasche hatte, und war zum Flughafen gefahren. Den SUV hatte sie auf dem Flughafenparkplatz abgestellt, nachdem sie das Lenkrad, den Ganghebel, das Armaturenbrett und die Türen mit einem Tuch abgewischt hatte. Sollten die Bullen den Wagen finden, würden sie vermutlich glauben, dass es einen dritten Komplizen beim versuchten Mord an Lisa Miller gegeben hatte, aber mit etwas Glück würden sie keine Beschreibung von ihr haben. Und falls doch – nun, sie war doch bloß eine zierliche alte Dame. Wem könnte sie schon etwas zuleide tun?

Die Schaltermitarbeiterin lächelte nach wie vor, als der Drucker Mabels neue Fluginformationen ausspuckte. Sie zog das Blatt Papier heraus, riss einen Streifen davon ab, faltete es zusammen und kritzelte mit roter Tinte die Flugsteignummer darauf. »Bitte sehr. Gate 14, American Airlines Flug 293. Abflug in ungefähr 30 Minuten.«

Mabel lächelte und bemühte sich um einen dankbaren Gesichtsausdruck. »Danke, meine Liebe. Sie sind mir eine große Hilfe gewesen.«

»Gern geschehen, Ma’am. Möchten Sie Gepäck aufgeben?«

»Nein danke.« Mabel ergriff ihr Handgepäck, eine kleine Reisetasche, die ihre Kleidung zum Wechseln und ihre Toilettenartikel enthielt. »Das hier ist alles, was ich dabeihabe. Vielen Dank.« Mit einem Abschiedslächeln zu der Schaltermitarbeiterin schlurfte sie davon und steuerte die Sicherheitskontrollen an.

Mabel Schneider tapste durch das Terminal. Sie lächelte und nickte dem Sicherheitspersonal freundlich zu, als sie nach vorn gewunken wurde. Sie lächelte immer noch, als ihre Reisetasche auf das Förderband gelegt wurde und sie durch den Metalldetektor ging. Auf der anderen Seite ergriff sie ihre Reisetasche wieder und lächelte einer jungen Schwarzen zu, die ihr die Tasche zurückgab, dann schlurfte sie weiter, lächelte und nickte jedem freundlich zu, der sie ansah. So bahnte sie sich den Weg zu ihrem Flugsteig, und alle, die Mabel Schneider auf ihrem Heimflug zu sehen bekamen, sollten sie als jemanden im Gedächtnis behalten, der sie an ihre betagte Großmutter erinnerte.

MENSCHLICHE KÖRPERTEILE UND KNOCHEN

IN HORRORHAUS EINER UNLÄNGST

VERSTORBENEN GROSSMUTTER GEFUNDEN

15. September 1998

Lancaster, PA – AP

In einem der wohl bizarrsten Fälle in den Annalen des modernen Verbrechens gibt den Behörden in der Kleinstadt Lititz in Pennsylvania die Entdeckung der teilweisen Überreste mehrerer Personen im Haus einer unlängst verstorbenen Großmutter Rätsel auf.

Wie Quellen berichten, soll die als Mabel Schneider identifizierte, 83-jährige Frau allein in einer ruhigen Allee gewohnt und oft ihre Kinder und Enkelkinder zu Gast bei sich gehabt haben. Außerdem soll Mabel Schneider regelmäßig Kuchen für Spendenaktionen der Kirche beigesteuert haben und galt in der Nachbarschaft als still und freundlich. Als ihre älteste Tochter Miriam, 57, vergangenen Monat ihre eines natürlichen Todes gestorbene Mutter fand, hatte sie noch keine Ahnung, was für ein Medienrummel sie und ihre Familie erwarten sollte.

Unter Mrs. Schneiders Besitz fand man in einem Kellerraum mehrere Kartons mit Einmachgläsern, die verschiedene menschliche Körperteile enthielten. »Es handelt sich nicht um entsorgte Laborproben«, nimmt Detective Barney Hillman dazu Stellung. »Wir haben eine Routineanfrage an alle Krankenhäuser in der Umgebung gestellt, und eine DNA-Überprüfung einer Probe ergab eine Übereinstimmung mit einem ungelösten Mordfall von vor fünf Jahren.« Jener Fall, der Mord an dem damals 18-jährigen Doug Sawyer aus der Spring Valley Road, hatte den Ermittlern, die sich intensiv um Aufklärung bemüht hatten, bis zum heutigen Tag Rätsel aufgegeben. Sawyer wurde zuletzt am 2. Mai 1992 gegen 20 Uhr von seiner Mutter gesehen, als er das Haus verließ, weil er zum Weis Market in der Broad Street wollte. Er ist nie zurückgekehrt. Teilweise Überreste seiner Leiche fand man in einem Straßengraben entlang der Route 772 außerhalb von Brownstown, aber es hatten sich keine handfesten Hinweise ergeben. Bis Mrs. Schneider vergangenen Monat verstarb.

»Ich kann überhaupt nicht fassen, dass Mrs. Schneider etwas mit Dougs Tod zu tun gehabt haben soll«, so ihre Nachbarin Claire Ellerwood in einer gestrigen Stellungnahme. »Sie war eine so nette alte Dame, immer freundlich und gut gelaunt. Sie ist zwar größtenteils für sich geblieben, aber sie war eine so nette Person.«

Laut Kriminaltechnikern könnten einige der Überreste bis zu 40 Jahre alt sein und von Kindern stammen. Andere haben bereits Übereinstimmungen mit Personen ergeben, die seit mindestens 1958 als vermisst gelten. Unter den Gegenständen im Keller wurde eine Jacke des Abschlussjahrgangs 1959 der High School von Lititz gefunden, die eindeutig als die Jacke identifiziert wurde, die das Teenagermädchen Bonnie Febray getragen hatte, als sie im November 1958 verschwand. Mabel Schneider und ihr Ehemann George, der 1989 verstarb, wohnten Ende der 1950er-Jahre nur wenige Häuser von der Familie Febray entfernt. Bisher konnten keine der entdeckten menschlichen Überreste als die von Miss Febray identifiziert werden.

Ebenso wurden unter dem Besitz der Verstorbenen verschiedene Vorrichtungen für ungewöhnliche Sexualpraktiken sowie pornografisches Material gefunden, darunter Kinderpornografie. »Das gesamte beschlagnahmte pornografische Material ist eindeutig der extremen Seite zuzuordnen«, sagt Hillman. »Es ist zutiefst krank und bestialisch, und mir persönlich fällt es schwer zu glauben, dass die Personen, die auf den von uns gefundenen Fotos und Videos dargestellt sind, die brutalen Misshandlungen überlebt haben können.«

Dem Vernehmen nach sind Mrs. Schneiders Tochter und zwei Söhne zutiefst schockiert über die Erkenntnisse und Anschuldigungen, verweigern jedoch jeden Kommentar dazu. An sie gerichtete Anfragen werden an ihren Anwalt Joseph B. Lockerman weitergeleitet, der bisher ebenfalls keinen Kommentar zu dem Fall abgegeben hat.