26
Am nächsten Morgen.
Brad saß mit dem Rücken zum Fenster auf einem Stuhl am Schreibtisch. Die Vorhänge waren zugezogen. Lisa schlief noch, eine verkrümmte Gestalt unter den dicken Laken. Besorgt um ihre Gesundheit beobachtete er, wie sich ihre Brust beim Atmen langsam hob und senkte. Jedes Mal, wenn sie dabei stockte, zuckte Brad ein wenig zusammen und fragte sich, ob sie sich in den Klauen eines Albtraums befand. In der vergangenen Nacht war sie dreimal schreiend aufgewacht, hatte in die Luft gekrallt und zu flüchten versucht, als wäre jemand hinter ihr her. Und jedes Mal hatte Brad sie gepackt und geschüttelt, bis sie endlich ihren traumartigen Zustand abschüttelte und sich orientierungslos, mit geweiteten Augen im Zimmer umsah. Erst als die Erkenntnis eingesetzt hatte, dass sie sich in Sicherheit befand, war sie in Brads Arme gesunken und hatte bittere Tränen geweint.
Die letzten drei Stunden jedoch hatte sie ruhig geschlafen. Brad beobachtete sie weiter, während die eigene Müdigkeit schwer auf ihm lastete. Er hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, höchstens vier Stunden. Und selbst die waren rastlos verlaufen und von mehrmaligem jähem Erwachen unterbrochen worden. Den Großteil des Abends war er abwechselnd im Zimmer auf und ab gelaufen und hatte sich mit Lisa geistlose Sendungen angesehen. Jeder Versuch, mit ihr zu reden, war erfolglos geblieben. Er hatte für den Abend etwas beim Zimmerservice für sie bestellt und sich bemüht, sie dazu zu bewegen, wenigstens ein bisschen Suppe zu essen, doch sie hatte nur einen lustlosen Blick darauf geworfen. Nachdem er mit seinem eigenen Gericht fertig gewesen war, hatte Brad die Suppe selbst gegessen und das Tablett anschließend vor die Tür gestellt.
Danach hatte er wieder versucht, mit Lisa zu reden, und wieder hatte sie nicht reagiert. Er hatte ihr erzählt, dass alles gut lief, dass die Behörden laut William Grecko diesem Tim Murray auf den Fersen waren und sie bis zum nächsten Vormittag wissen sollten, ob er bereits in Haft wäre. Außerdem hatte er beteuert, dass er ihr Hilfe besorgen und diese Krise zusammen mit ihr durchstehen würde, was immer dafür nötig wäre. Danach hatte er auf eine Reaktion gewartet, auf irgendetwas – und lediglich den immer gleichen, ausdruckslosen Blick geerntet.
In seiner Not hatte er seine Eltern angerufen, um bei ihnen Trost zu suchen. Er hatte ihnen den neuesten Stand der Dinge mitgeteilt und ihnen sein Leid darüber geklagt, wie sehr es ihm zusetzte, dass es Lisa einfach nicht besser gehen wollte. Seine Mutter hatte ihn darüber informiert, dass sie in Kalifornien einen guten Psychiater für Lisa gefunden hatten. Sie hatten ihn nach einem Gespräch mit William Grecko angerufen, und William arbeitete bereits daran, Lisa in einem Krankenhaus mit optimalen Sicherheitsvorkehrungen für ihren Schutz unterzubringen, wo sie von diesem Psychiater betreut werden sollte. »Bill glaubt, dass er sie bis morgen Abend dort haben kann«, hatte seine Mutter gesagt, wodurch sich Brad ein wenig besser gefühlt hatte. Sein Vater litt offenbar immer noch unter dem Schock all dessen, was sich in den vergangengen 48 Stunden ereignet hatte, und schwieg vorwiegend, hörte am Zweitapparat mit und brachte lediglich seine Unterstützung und seine Hoffnung zum Ausdruck, dass alles bald ein positives Ende nehmen würde. Mit ihnen zu reden, hatte Brad zumindest ein bisschen aufgerichtet.
Auch Lisas Eltern hatte er angerufen. Bei ihnen hatte er nicht nur betont, dass man kurz davor stand, diese Bestien zu fassen, sondern auch, dass Lisa demnächst psychologische Betreuung erhalten würde. Lisas Mutter Emily war in Tränen ausgebrochen, als Brad erfolglos versucht hatte, Lisa zum Reden mit ihrer Mutter zu bewegen. Er hatte Emily weinen gehört, als sich Lisa standhaft geweigert hatte, das Telefon entgegenzunehmen. Lisas Vater Dean hatte daraufhin den Hörer übernommen und Brad gebeten, am nächsten Vormittag wieder anzurufen. »Auch dann, wenn sich nichts Neues ergibt«, hatte er ersucht. Brad hatte es versprochen, und damit waren die Anrufe des vergangenen Abends erledigt gewesen.
Kurz vor Mitternacht hatte Brad entschieden, dass Lisa genug ferngesehen hatte. Er hatte ausgeschaltet, sich bis auf die Boxershorts ausgezogen und sich neben sie ins Bett gelegt. Lisa hatte immer noch aufrecht gesessen und starr auf den schwarzen Fernsehbildschirm geglotzt. Brad hatte sie sanft an der Schulter geschüttelt und gemeint: »Komm, Liebling, lass uns versuchen, ein wenig zu schlafen.«
Sie in liegende Position zu manövrieren, hatte sich angefühlt, als bewege er eine Schaufensterpuppe. Letztlich hatte er es geschafft und sich neben sie gebettet. Er hatte sich ihr zugedreht und festgestellt, dass sie die Augen nach wie vor geöffnet hatte, mit demselben, vollkommen leeren Ausdruck darin. Da hatten sich die Schleusen geöffnet, und er hatte hemmungslos geweint. Schluchzend hatte er blind nach Lisa getastet, die sich weder dagegen gewehrt noch sonst irgendwie darauf reagiert hatte, wodurch er nur noch heftiger weinen musste. Dann waren seine Frustration, sein Ärger und seine Traurigkeit tief aus seiner Seele hochgestiegen, hatten in rasende Wut gegen die Männer umgeschlagen, die Lisa das angetan hatten, und die Flut seiner Tränen zum Versiegen gebracht. Dieselbe Wut hatte ihn den Großteil der Nacht wach gehalten. Beide hatten sie an die Decke gestarrt, Brad hin- und hergerissen zwischen Zorn und Kummer, Lisa in ihrer eigenen Hölle gefangen, wo sie gegen ihre Dämonen kämpfte.
Irgendwann war Brad dann eingeschlafen. Er wusste noch, dass er einmal aufgewacht war, zur Uhr auf dem Nachttisch geschaut und festgestellt hatte, dass eine gute Stunde vergangen war. Beim dritten Erwachen hatte er sich zur Seite gedreht, um nach Lisa zu sehen, da war auch sie endlich eingeschlafen gewesen. Eine Zeit lang hatte er sie auf der Seite liegend beobachtet, bis er für weitere anderthalb Stunden selbst wieder eingeschlafen war.
Als er um 6:30 Uhr erneut aufgewacht war, hatte er die Augen geschlossen und versucht, weiterzudösen. Das war ihm allerdings nicht gelungen, deshalb war er nach einer halben Stunde aufgestanden. Er spähte durchs Fenster hinaus. Der Himmel präsentierte sich bewölkt, aber es sah noch nicht nach einem Unwetter aus. Laut Nachrichten vom Vorabend wurden für den Nachmittag heftige Regenfälle in Las Vegas erwartet. Brad schlüpfte in eine Jogginghose und ein T-Shirt, setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und beobachtete seine Ehefrau beim Schlafen.
Nach einer Weile wanderte sein Blick erneut zur Uhr. 7:35 Uhr. Brad gähnte. Er selbst würde keinen Schlaf mehr finden, aber vielleicht würde Lisa noch ein wenig Ruhe vergönnt sein. Er hoffte es. Müßig überlegte er, wann sie eingeschlafen sein mochte, und schätzte den Zeitpunkt auf halb fünf oder fünf Uhr morgens. Er hoffte, sie würde mindestens bis eins schlafen. Mit diesem Gedanken stand er auf, ging zum Nachttisch, ergriff das Telefon und rief den Zimmerservice an.
William Grecko war erst seit 15 Minuten in seinem Büro in Santa Ana, als ein Anruf auf seiner persönlichen Leitung einging. Er hob beim ersten Klingeln ab. »Ja?«
»William? Hier Detective Orr. Wie geht es Ihnen heute Morgen?«
»Kommt ganz drauf an, was für Neuigkeiten Sie für mich haben«, gab William zurück. Tatsächlich fühlte er sich beschissen. Er hatte sich nicht nur beim Rasieren geschnitten, sondern auch rasende Kopfschmerzen von einem Kater. Der Kaffee kochte noch in der Maschine, und in seinem Magen brodelte es unruhig. »Was gibt’s?«
»Sie wissen, dass wir das Foto des als Jeff bekannten Verdächtigen von der Überwachungskamera noch gestern Abend verteilt haben, oder?«
»Ja. Hat sich daraus schon etwas ergeben?«
»Nichts.« Detective Orr klang frustriert. William hatte das Gefühl, dass er als Einziger des Ermittlungsteams den Fall wirklich ernst nahm. »Wir konnten ihn noch nicht identifizieren. Das FBI durchforstet gerade seine Aufzeichnungen, aber bisher ist auch von dort nichts gekommen. Wir diskutieren derzeit darüber, ob wir das Foto auf der Website des FBI und vielleicht noch anderen veröffentlichen sollen.«
»Und was hält Sie davon ab?« William spürte, wie sich seine Kiefermuskeln verkrampften.
Detective Orr seufzte. William ahnte instinktiv, was kommen würde. »Wissen Sie, wir stoßen in dieser Sache an allen Ecken und Enden auf Sackgassen. Mitarbeiter von Golgotha sind umfassend verhört worden, darunter sämtliche Mitglieder des Vorstands. Die sind stinksauer, und für das Büro des Sheriffs von Orange County gilt das gleich doppelt. Die von Golgotha reden davon, klagen zu wollen, und bisher haben wir nichts gegen sie in der Hand. Keinen DNA-Beweis, keine weiteren Zeugen, nichts dergleichen. Sie waren ja gestern mit uns bei der Hütte, William. Also wissen Sie auch, dass wir kaum etwas haben, womit wir ...«
»Und was soll ich jetzt tun?«, schnitt ihm der Anwalt mit belegter Stimme das Wort ab. »Wie soll ich meine Mandanten vor den Tätern beschützen?«
»Hören Sie, es tut mir leid. Aber wir haben nicht viel Verwertbares außer Lisa Millers Aussage, dass sie gesehen hat, wie Martinez’ Frau gefangen genommen und misshandelt worden ist. Wir haben keine Verdächtigen, zumindest keine, auf die wir den Finger legen können. In keiner einzigen Datenbank ist irgendetwas über sie aufgetaucht. Wir haben sogar ...«
»Was ist mit dem FBI?«, fiel William dem Mann ins Wort und spürte, wie seine Kopfschmerzen schlimmer wurden. Er schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und versuchte, durch die Qualen hindurchzutauchen. »Ich habe in den letzten Tagen eine Menge Scheiße über Snuff-Filme gelesen, und darin taucht immer wieder auf, dass das FBI seit Jahren gegen illegale Pornografie ermittelt.«
»Die ermitteln tatsächlich schon seit Jahren und haben bisher nichts gefunden«, bestätigte Detective Orr. »Es gibt eine Menge Gerüchte. Viele Leute behaupten, sie hätten Snuff-Filme gesehen, aber es ist alles nur aus zweiter Hand. Das FBI ist seit Mitte der 1970er an der Sache dran. Die offizielle Haltung lautet, dass es Snuff-Filme nicht gibt.«
»Und Sie glauben das?«
Der Ermittler verstummte kurz. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
»Hätte ich Ihnen 1970 gesagt, dass eine Gruppe von Typen mit Bildern handelt, auf denen erwachsene Männer Sex mit kleinen Jungen haben, weil es dafür einen Untergrundmarkt gibt – hätten Sie mir geglaubt?«
Eine betretene Pause. Damit hatte William den Mann erwischt. »Nein«, gestand Orr schließlich in etwas niedergeschlagenem Tonfall.
»Und warum nicht?«
»Weil ...« Er zögerte. »Weil man sich damals einfach nicht vorstellen konnte, dass es solchen Dreck tatsächlich geben könnte.«
»In diesem Fall gilt dasselbe«, erwiderte William. Er beugte sich über seinen Schreibtisch und stützte die Ellbogen auf die Mahagonitischplatte. »Erinnern Sie sich an die Meldung in den Nachrichten vor nicht allzu langer Zeit über die Frau, die wegen Grausamkeit an Tieren verurteilt worden ist? Sie hatte Mäuse mit Stöckelschuhen für eine Reihe von Pornofilmen totgetrampelt. Erinnern Sie sich daran?«
»Ja«, bestätigte Detective Orr. Der Tonfall seiner Stimme verriet William, dass der Ermittler den Vorfall sogar kristallklar im Gedächtnis hatte. Durchaus möglich, dass Orr Insiderwissen über den Fall besaß.
»Irgendein Typ wurde zusammen mit ihr hochgenommen«, fuhr der Anwalt fort. »Sie hatten zusammen sogenannte ›Crush-Videos‹ für eine Reihe ausgewählter Kunden produziert. Es gibt Leute, die zahlen zwischen 50 und mehreren Hundert Dollar für Videobänder von Frauen, die kleine Tiere mit High Heels zerstampfen. Wenn es Menschen gibt, die derart krank sind, dass sie so etwas sexuell erregt, glauben Sie dann nicht, es könnte noch kränkere Menschen geben, die darauf abfahren, anderen beim Sterben zuzusehen?«
»Mir ist schon klar, worauf Sie hinauswollen, William, aber ...«
»Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, das zu schlucken, aber diese Scheiße ist real. Ich glaube Lisa Miller. Sie ist nicht der Typ, der anfällig für Hirngespinste ist. Was sie gesehen hat und was fast mit ihr selbst passiert wäre, ist wirklich geschehen, davon bin ich fest überzeugt. Und dass es ausgerechnet ihr fast passiert wäre, kommt mir merkwürdig vor. Soweit man hört, benutzen diese Leute Ausreißer, die niemand vermisst. Sie greifen sich keine Leute mit Familien, keine Leute, die Angehörige hinterlassen. Ich glaube, das FBI behauptet deshalb, dass Snuff-Filme nicht existierten, weil es einfach nicht gelingt, tief genug in diese Subkultur vorzudringen. Vermutlich beschränkt sich das Zielpublikum für solchen Kram auf weniger als ein paar Tausend Menschen weltweit. Im Vergleich zum Interesse an Crush-Filmen, Videos von Sex mit Tieren oder anderem extrem harten SM-Zeug ist das gar nichts. Ich vermute ja, das FBI versteift sich deshalb auf die Haltung, es gäbe keine Snuff-Filme – der Markt taucht kaum auf dem Radar auf. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Mit anderen Worten: Der Markt ist so klein, dass es sich nicht lohnt, der Sache nachzugehen.«
»Genau.«
»Das ist völliger Blödsinn, und das wissen Sie selbst«, entgegnete Detective Orr. »Wenn Menschen ermordet werden ...«
»Wer wird denn ermordet? Vielleicht irgendein Junkie aus Harlem, der seit zehn Jahren auf der Straße lebt und weder irgendwelche Angehörigen noch einen Platz hat, wo er hinkann. In diesem Land gibt es Tausende und Abertausende solcher Menschen ohne Familie, ohne Eltern, ohne irgendeine Form von Unterstützung. Sie stammen aus Pflegeheimen, Institutionen, solchen Orten. Niemand schert sich einen Dreck um sie, das wissen Sie auch. Was immer sie vielleicht an familiärem Zusammenhalten hatten, verpufft, wenn sie auf der Straße leben. Manche haben vielleicht sogar noch jemanden, der sie liebt, der sich fragt, wo ihr Sohn oder ihre Tochter steckt, das widerspenstige Kind, das zu Hause zu rebellisch wurde und nach einem abendlichen Streit einfach in der Nacht ausgerissen ist. So was kommt ständig vor. Natürlich werden nicht alle für die Kamera durch die Mangel gedreht. Die meisten verrecken an einer Überdosis oder Unterkühlung oder werden bei einer Keilerei oder so abgestochen. Oder sie sterben an AIDS. Ein paar bekommen ihr Leben unter Umständen wieder in den Griff. Aber mit größter Wahrscheinlichkeit gibt es einen kleinen Teil, sagen wir ein Prozent, der einfach verschwindet und nie wiedergesehen wird.«
»Sie reden von Leuten, die Serienmördern zum Opfer fallen«, warf Detective Orr ein.
»Serienmörder und Abzocker, die aus ihrem Elend Kapital schlagen.« William blätterte durch die Zettel auf seinem Schreibtisch, suchte nach etwas. Gleich darauf fand er es. »Hören Sie sich das an. Das habe ich gestern von einer Website ausgedruckt. Es ist ein Artikel, der ausführlich auf die illegale Pornoindustrie sowie den Markt für Kinderpornografie eingeht. Und hier heißt es, dass um die 75 Prozent der Kinder, die in billig produzierten Pornos ...«
»Mich interessieren keine Statistiken, William«, fiel ihm Detective Orr in barscherem Tonfall ins Wort. »Wissen Sie, es tut mir echt leid, aber da ist nun mal nicht viel, womit ich arbeiten kann. Wir haben eine vergrößerte Aufnahme des Verdächtigen, der Lisa Miller entführt und ihr Geld gestohlen hat. Dieser Verdächtige und dieser Tim Murray werden derzeit wegen Freiheitsberaubung und Erpressung gesucht, und das war’s. Dasselbe gilt für diesen Al Pressman. Wir können daraus keinen Mordfall machen, bis wir mehr Beweise haben oder einer von denen ein Geständnis ablegt.«
William Grecko seufzte. Sein Schädel pochte. Er brauchte Kaffee, und zwar dringend. »Na schön«, gab er sich letztlich geschlagen. »Was steht für heute auf dem Programm?«
»Warten Sie einfach ab. Wir haben immer noch die Fahrzeugsuche nach dem Van am Laufen. Außerdem forschen wir nach der obdachlosen Frau, die Lisa als Alicia identifiziert hat. Wir haben einen Phantomzeichner aufgrund von Lisas Beschreibung eine Skizze anfertigen lassen, die wir gerade verteilen. Dabei arbeiten wir auch mit Fernsehsendern und einigen Regionalzeitungen zusammen. Vielleicht erkennt sie jemand und wir bekommen eine eindeutige Identität. Wenn wir sie finden, könnte das eine Menge Fragen beantworten.«
»Und was, wenn Sie die Frau nicht finden?«, wollte William wissen. Er stand auf, ging zur Kaffeekanne und schenkte sich eine Tasse ein. »Was, wenn sich Lisas Geschichte als richtig erweist? Was, wenn sich dieser Exfreund von Alicia ein Herz fasst, sich meldet und alles zusammenpasst, was er Ihnen zu sagen hat? Was dann?«
»Damit befassen wir uns, wenn es so weit ist«, gab Detective Orr zurück.
Titan ruhte seinen muskulösen, knapp zwei Meter großen Körper auf dem extra-großen Bett aus. In Reichweite auf dem Nachttisch stand eine Tasse Kaffee. Die Jets wischten gerade mit Philadelphia den Boden auf, und er hatte 300 Mücken auf das Spiel gesetzt. Obwohl er es im Fernsehen verfolgte, beschäftigten ihn vorwiegend die letzten 24 Stunden. Alle Berichte vom Sicherheitspersonal des Hotels waren negativ ausgefallen. Es gab keinerlei Anzeichen auf irgendjemanden, der Tim Murray, Al Pressman oder diesem Jeff ähnelte. Die Beschreibungen der Männer waren an alle Sicherheitsmitarbeiter des Hotels verteilt worden, und auch die Leute an den Monitoren der Überwachungskameras des Kasinos waren angewiesen worden, die Augen nach ihnen offen zu halten. Bisher hatte sich nicht das Geringste ergeben.
Womit Titan kein Problem hatte. Solange die Millers in ihrem Zimmer blieben, waren sie in Sicherheit. Titan oder jemand anderer aus dem Sicherheitsteam waren rund um die Uhr gleich auf der anderen Seite des Flurs zur Stelle. Und irgendjemand von ihnen war immer bewaffnet. Titan wusste, dass John oder er einen Anruf erhalten würde, sollte jemand das Hotel betreten, der einem der Verdächtigen ähnlich sah. Zwischen dem vergangenen Vormittag und Abend waren es insgesamt fünf Personen gewesen, die sich alle als falscher Alarm herausgestellt hatten. In jedem dieser Fälle hatten sie einen ihrer Männer hinuntergeschickt, um sich an die Fersen des Verdächtigen zu heften. Es war immer dieselbe Meldung zurückgekommen: »Der Typ sieht zwar aus wie der Kerl von der Phantomzeichnung, ist es aber nicht. Dürfte ein Tourist sein, hat eine Frau und fünf Kinder dabei.«
So viel dazu.
Titan gähnte und griff gerade nach seinem Kaffee, als es an der Tür klopfte.
Mürrisch schaute er hinüber. John Panozzo war vor drei Minuten in die Küche hinuntergegangen, um den Millers ihr beim Zimmerservice bestelltes Frühstück zu holen. Abermals klopfte es, zwar nicht kräftig, aber beharrlich. Titan schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und steuerte auf die Tür zu.
Als er durch den Spion hinausspähte, sah er eine zierliche alte Dame, die völlig hilflos und verloren wirkte. Sie sah aus, als könnte sie zwischen 65 und 90 sein und trug ein blaues, kariertes Kleid. Mit ihren kurzen, schütteren weißen Haaren und der dürren Gestalt wirkte sie großmütterlich.
Titan öffnete die Tür. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die alte Dame schaute zu ihm auf, die wässrigen, blauen Augen vor Verwirrung geweitet. »Tut mir leid«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Ihre Hände zitterten, als litte sie an Parkinson. »Ich ... ich bin von meiner Kirchengruppe getrennt worden. Wir haben separate Fahrstühle genommen, und ...« Sie leckte sich über die Lippen. Irgendwie wirkte sie verängstigt, was nicht weiter verwunderlich zu sein schien – eine weißhaarige Greisin wie sie, die sich so unverhofft jemandem wie Titan gegenübersah – hoch aufragend, muskelbepackt, rasierter Schädel, ebenholzschwarze Haut –, musste vor Schreck wohl einem Herzinfarkt nahe sein. »... ich habe mich verlaufen. Könnte ... könnte ich wohl bitte Ihr Telefon benutzen?«
Titan spähte flüchtig den Flur hinab. Weit und breit keine Spur von John. Die alte Dame schien unter seinem Blick zu erzittern. Mit leberfleckigen Händen umklammerte sie ein kleines, weißes Täschchen. Im Luxor übernachteten ständig irgendwelche Seniorengruppen. Zweifellos hatte die Gruppe, zu der diese arme alte Dame gehörte, es versäumt, zu überprüfen, ob alle beisammen waren. Vermutlich wollte sie ein Mitglied der Kirchengruppe auf dem Mobiltelefon anrufen. Falls dem so war, hatte sie Pech gehabt. »Tut mir leid«, gab er zurück. »Versuchen Sie’s nebenan.«
»Bitte!«, stieß die Frau hervor. Titan hatte ihr schon beinah die Tür vor der Nase zugeknallt, als er plötzlich innehielt. Die kannst du doch zerbrechen, indem du sie nur anhauchst. Was zum Teufel könnte die schon machen?
Auf einmal kam er sich wie ein Arsch dafür vor, sie so rüde abgewiesen zu haben, und schwang die Tür wieder auf. Die alte Frau stand nach wie vor im Flur, mittlerweile mit Tränen in den Augen. »Kommen Sie rein, aber machen Sie schnell«, forderte er sie auf und hasste sich bereits dafür, wegen einer weinenden alten Dame weich geworden zu sein.
Die alte Frau schniefte und tapste mit unsteten Schritten herein. Titan schloss die Tür und folgte ihr ins Zimmer. Dann stieß er mit ihr zusammen, als sie plötzlich stehen blieb und zu ihm herumwirbelte. Er spürte, wie ihr Gesicht seine Brust streifte, als er versuchte, den Schwung seiner Vorwärtsbewegung zu bremsen. Dabei hoffte er, sie nicht verletzt zu haben ... und verspürte einen jähen Schmerz im Bauch.
Als er an sich hinabblickte, versuchte sein Verstand, zu begreifen, weshalb auf einmal ein Messer in ihm steckte. Die um den Griff geschlungenen Hände waren klein und zierlich wie die Füße eines Vogels, bestanden nur aus Haut, die sich über Knochen spannte. Dann bewegten sie sich mit einem Ruck nach oben und schlitzten ihn auf. Titan sog scharf die Luft ein und starrte mit entsetzt geweiteten Augen auf die alte Dame, die mittlerweile einen völlig anderen Ausdruck im Gesicht hatte. Keine Spur mehr von betagter Verwirrung, Sanftmut und Tränen; stattdessen strahlte die Frau etwas aus, das Titan nur von wesentlich jüngeren Leuten kannte, insbesondere Mitgliedern von Straßenbanden. Aus ihren blauen Augen sprach blanke Bösartigkeit, als sie grinste. »Hab dich überlistet, was?« Als sie das Messer herauszog, spürte Titan, wie seine untere Körperhälfte taub und nass wurde. Stechende Schmerzen explodierten in seinem Bauch.
Den Blick nach wie vor auf die Greisin gerichtet wankte er zurück, dann schaute er nach unten auf das Blut, das auf den Teppichboden spritzte. Er konnte fühlen, wie es seine Jeans durchtränkte. Titan sah wieder zu der Frau. Er versuchte immer noch zu begreifen, weshalb sie auf ihn eingestochen hatte, als sie das Messer erneut mit fachkundiger Präzision zum Einsatz brachte. Der Hüne nahm flüchtig wahr, wie die Klinge mit einer geschickten Bewegung vor seinem Sichtfeld vorbeisauste. An seiner Kehle entbrannte eine Linie sengender Schmerzen, auf die eine warme Nässe folgte, die über sein Hemd strömte. Er öffnete den Mund zum Schreien, doch seine Stimmbänder verweigerten den Befehl. »Das gefällt mir am besten daran, alt zu sein«, meinte die Greisin. Ihre Stimme klang zwar immer noch brüchig, der Tonfall hingegen entschlossen und selbstbewusst. »Man kann so viele Opfer so leicht überrumpeln.«
Titan unternahm den Versuch, sie anzugreifen, um ihr das Messer zu entwinden, doch sein Körper erschlaffte einfach. Sein Bauch brannte wie Feuer, als er auf die Knie sackte, seine Kehle loderte vor Schmerzen, und während sein Blick trüber wurde, stieg ihm der Geruch seines eigenen Blutes in die Nase.
Mabel Schneider verlor keine Zeit. Sie wischte das blutige Messer an der Tagesdecke ab, dann ging sie zur Tür und spähte durch den Spion hinaus.
Sie wusste, dass jede Minute ein anderer Mann mit einem Tablett vom Zimmerservice auftauchen würde. Der Plan war erst an diesem Vormittag überstürzt geschmiedet worden, dennoch funktionierte er wunderbar. Und sie persönlich fand am besten daran, dass sie sich ein Souvenir nehmen durfte! »Eines der Augen«, hatte sie am Vortag telefonisch von Rick Shectman gefordert, als sie darüber gesprochen hatten, dass sie herkommen und bei der Entführung eines Opfers für einen Snuff-Film helfen sollte. »Wenn dieser Animal sie beim Dreh nicht zum Platzen bringt, indem er den Schwanz in die Augenhöhlen steckt, will ich eines davon haben. Vielleicht auch beide, wenn sie unbeschädigt sind. Ich hatte schon lange keine gekochten Augäpfel mehr.«
Shectman hatte unter der Bedingung zugestimmt, dass sie sich ihre Mahlzeit noch an dieser Küste zubereiten würde. »Ich kann nicht riskieren, dass man bei der Sicherheitskontrolle Körperteile bei dir findet, bevor du am Freitag ins Flugzeug steigst«, hatte er es begründet. »Falls das mit den Augen nicht klappt, sorge ich dafür, dass dir jemand ein Kind beschafft. Was hältst du davon?«
»Kinder kann ich mir selbst beschaffen«, hatte sie ihm entgegengespien. »Das ist einfach. Kinder kommen wie von selbst zu mir, weil ich sie an ihre Großmutter erinnere. Wenn ich die Augen nicht bekomme, lasse ich mir etwas anderes einfallen. Vielleicht kannst du deine Bestie ja dazu überreden, mich in den Arsch zu ficken oder so.«
»Ich werd’ sehen, was ich tun kann«, hatte Shectman erwidert.
Mabel verstaute das Messer wieder in der Handtasche, die sie offen ließ, um die Waffe für das nächste Opfer schnell herausholen zu können. Rasch warf sie einen Blick auf sich im Spiegel. Sie hatte nichts vom Blut des großen Kerls abbekommen, was gut war. Ihr Blick fiel auf ihn, konzentrierte sich auf seine Brust. Keinerlei Bewegung. Er war mausetot.
Somit konnte sie sich beruhigt der nächsten anstehenden Aufgabe widmen. Langsam öffnete sie die Tür, spähte hinaus, um sich zu vergewissern, dass sich niemand im Korridor befand, trat nach draußen und zog die Tür hinter sich zu.
Danach wartete sie.
Als John Panozzo um die Ecke bog, erblickte er eine alte Frau, die durch den Flur tappte und dabei die Nummern an den Türen betrachtete, als suche sie etwas. Nach jenem flüchtigen Blick auf sie schenkte er ihr keine Beachtung mehr und schob weiter den Servierwagen vor sich her. Das Aroma von frischen Pfannkuchen und Kaffee ließ ihn selbst Hunger verspüren. Mir war gar nicht klar, was für Kohldampf ich habe, bis mir der Duft in die Nase gestiegen ist. Mann, riecht das gut!
John schob den Wagen zu Brad und Lisa Millers Zimmer und klopfte an die Tür. Er trug die offizielle Aufmachung der Zimmerservicemitarbeiter des Luxor Hotels. John hatte es für eine gute Idee gehalten, den Großteil seines Teams wie Hotelmitarbeiter zu kleiden, um keinen Verdacht zu erregen. Sollte es jemand auf Brad und Lisa Miller abgesehen haben, würde derjenige nicht ahnen, dass er nicht nur vom Sicherheitspersonal des Hotels, sondern auch von einem der besten Personenschutzunternehmen in Las Vegas beobachtet wurde. Das würde ein Gefühl von falscher Sicherheit erzeugen. Natürlich würde das nicht funktionieren, wenn ...
»Entschuldigung. Sir?«
Es war die alte Frau. Sie hatte ihn bemerkt und näherte sich ihm zögerlich. John sah sie an. Sie wirkte, als hätte sie sich verirrt. Er drehte sich der Tür zu, als er Schritte vernahm, die darauf zusteuerten.
»Sir?« Ihre Stimme wurde eindringlicher. Sie klang, als wäre sie den Tränen nahe.
John schaute erneut zu ihr, als er hörte, wie drinnen der Riegel geöffnet wurde. »Eine Minute, ja?«
Er wandte sich wieder der Tür zu, als Brad Miller öffnete. »Zimmerservice«, sagte John und schob den Wagen an Brad vorbei.
»He!«, hörte er Brad rufen. John schob den Wagen in die Mitte des Raums und bemerkte mit einem raschen Blick, dass der Fernseher lief, sich Lisa Miller noch im Bett befand und auf der rechten Seite lag, der Tür zugewandt. Als er sich umdrehte, stellte er überrascht fest, dass ihm die alte Frau ins Zimmer gefolgt war.
»Äh ... kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, fragte John und trat auf die Greisin zu.
»Ich hab mich verlaufen«, erwiderte sie mit einer Stimme so brüchig wie trockenes Laub. »Meine Kirchengruppe hat mich auf dem Weg zum Fahrstuhl verloren. Haben Sie ein Telefon, das ich benutzen kann?«
Brad stand immer noch an der offenen Tür, sichtlich verdutzt darüber, dass sich die alte Dame einfach an ihm vorbei ins Zimmer gedrängt hatte. John näherte sich ihr einen weiteren Schritt, und seine Professionalität übernahm das Kommando. »Tut mir leid, Ma’am, aber ich muss Sie bitten, zu gehen.«
»Bitte!«, blökte sie eindringlich und fing zu weinen an. Sie umklammerte mit zerbrechlich wirkenden Händen ihre Handtasche. John erreichte sie in dem Moment, als Brad die Tür schloss. »Lassen Sie die Frau doch das Telefon benutzen, John. Was kann das schon schaden?«
John drehte sich gerade Brad zu, um etwas zu erwidern, als er spürte, wie das Messer in seinen Hals gestoßen wurde.
Das Erste, was Brad sah, als er nach dem Schließen der Tür in das Zimmer zurückkehrte, war John, der seinen Hals umklammerte und verzweifelt die Blutfontäne zu stoppen versuchte, die daraus hervorschoss. Ein Messer mit einer über 20 Zentimeter langen Klinge ragte an der Stelle aus seiner Kehle, wo sich der Adamsapfel befinden sollte. Seine Augen quollen aus den Höhlen, seine Haut wurde bleich, während er erfolglos nach dem Messer tastete. Das Bild traf Brad wie ein Vorschlaghammer und entsetzte ihn mit seiner brutalen Intensität. Wie erstarrt stand er da, als die alte Frau die Hand nach dem Messergriff ausstreckte und die Finger um ihn legte. Sie zog daran, und Brad konnte beobachten, wie die Sehnen an ihrem Oberarm hervortraten, als sie die Klinge aus Johns Hals wand. Als das Messer herausglitt, sprudelte das Blut plötzlich umso wilder hervor; es war, als wäre im Sommer ein Gartenschlauch voll aufgedreht worden. Es spritzte auf den Boden und auf das Bett, ein Teil davon traf Lisa.
Das kann nicht passieren, das kann nicht wirklich passieren ..., schoss Brad durch den Kopf. Er versuchte, seine Glieder in Bewegung zu setzen, irgendetwas zu unternehmen, doch sie verweigerten den Befehl, und er blieb erstarrt vor Schock angesichts der entsetzlichen Szene.
John Panozzo fiel auf die Knie, krallte mit den Fingern weiter an seinem Hals, wollte den Blutstrom irgendwie stillen. Brads Brust fühlte sich wie zugeschnürt an, als ihn die Wände des Zimmers plötzlich zu erdrücken drohten, dann stand die alte Frau vor ihm, die Züge zu einer irren Grimasse verzerrt, das blutverschmierte Messer in der linken Hand. Brad war dermaßen schockiert, vor blankem Grauen dermaßen erstarrt, dass seine Reaktion so zäh ausfiel, als bewege er sich durch ein Meer von Sirup.
Die Greisin fasste mit der rechten Hand in ihre Tasche und holte etwas heraus, und auch, als sie den Abzug des Gegenstands drückte, konnte Brad immer noch nicht fassen, dass dies wirklich geschah. Wie konnte das passieren? Sie standen doch unter Schutz, ein bewaffnetes Sicherheitsteam passte auf sie auf! Und als die alte Frau mit der Elektroschockwaffe auf ihn schoss, spürte Brad, wie sein Körper vor Schmerzen taub wurde. Schlaff sackte er zu Boden und schlug sich den Kopf am Schreibtisch an. Er versuchte, sich zu bewegen, sich umzudrehen, als die alte Frau gackernd meinte: »Hab dich überlistet, was?« Abermals drückte sie den Abzug der Elektroschockwaffe, jagte Tausende Volt durch Brads Körper und lähmte ihn. Das Letzte, was Brad Miller sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war seine Frau, die mit geweiteten Augen auf dem Bett kauerte, und es war die erste Gefühlsregung, die sie seit ihrem Zusammenbruch im Badezimmer zeigte.
Als es vorbei war, verstaute Mabel Schneider den Elektroschocker und das blutige Messer in ihrer Handtasche und zückte stattdessen ein Handy. Dabei behielt sie die Frau auf dem Bett im Auge, um sich zu vergewissern, dass sie ihre Bewusstlosigkeit nicht bloß vortäuschte. Mabels Anweisungen hatten gelautet, auch die Frau mit dem Elektroschocker zu betäuben, doch das war nicht nötig gewesen – sie war ohnmächtig geworden. Erschlafft lag sie auf der Seite, die Zunge baumelte aus ihrem Mund, die Haare hingen ihr strähnig vors Gesicht. Ihre Atmung wirkte flach. Vor dem Verstauen des Messers hatte Mabel vorsichtig die Hand ausgestreckt und die Frau berührt. Hätte sie ihre Ohnmacht nur gespielt, wäre sie wahrscheinlich mit einem Schrei hochgeschreckt. Mabel hatte über ihre Wange gestreichelt und sie dann leicht geschlagen. Keine Reaktion. Die Greisin lächelte. Sie fragte sich zwar, weshalb Rick ein so großes Risiko einging, um sich ausgerechnet diese Frau als Opfer für einen Snuff-Film zu holen, doch eigentlich zählte nur, dass er sie für ihre Arbeit gut bezahlte. Was juckte es sie, was Shectman mit ihr vorhatte?
Mabel richtete die Aufmerksamkeit auf das Mobiltelefon. Sie schaltete es ein und drückte die Kurzwahltaste für die bereits einprogrammierte Nummer. »Alles erledigt«, verkündete sie, als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde. »Ich warte.« Damit legte sie auf, klappte das Telefon zu, trippelte um die blutige Sauerei auf dem Boden herum und begab sich zur Tür, um zu warten.
Kaum hatten sich die Türen des Fahrstuhls geschlossen, hoffte Tim Murray, der Aufzug würde nicht für andere Hotelgäste anhalten.
Auf dem Weg nach unten spähte er aus dem Augenwinkel zu Mabel Schneider. Sie sah wie eine harmlose alte Dame aus, wie man sie bei Kirchenpicknicks oder in Altersheimen antraf oder wie sie gleich Schildkröten durch Lebensmittelläden und Einkaufszentren schlurften. Tim wusste nicht, wo Rick Shectman sie aufgegabelt hatte. Bis zum Vortag hatte er nicht einmal gewusst, dass es sie überhaupt gab. Erst da war Tim in den Plan für die Entführung von Lisa Miller eingeweiht worden.
Anfangs hatte Tim nicht wirklich geglaubt, dass Rick Zugriff auf eine 81-jährige Psychopathin haben könnte – Woher zum Teufel kennt er bloß so viele Sadisten? Shectman hatte Tim erklärt, Mabel sei eine alte Freundin seines Vaters. »In den 1940ern gehörte ihr ein SM-Studio im Viertel meines Vaters in Pennsylvania«, hatte er verraten. »Gerüchten zufolge ist sie auf den Geschmack von Extremfolterungen gekommen, nachdem sie versehentlich einen Kunden getötet hatte. Dabei ist ihr wohl klar geworden, dass sie wirklich keinerlei Skrupel hatte, Menschen zu verletzen. Ich bin ihr zufällig vor zehn Jahren bei einer Geschäftsreise nach New York begegnet. Sie hatte ein Foltervideo von einem Kind bestellt, und als ich die Lieferung überbrachte, hatten wir ein ... wie soll ich sagen? ... nettes Gespräch.«
Der Tonfall von Ricks Stimme hatte Tim Schauder über den Rücken gejagt, und er hatte sich rasch damit abgefunden, dass er mit einer 81-jährigen weiblichen Version von Animal zusammenarbeiten würde. Nur flüchtig hatte er sich gefragt, woher so alte Perverse wie Mabel Schneider kommen mochten, dann hatte er den Gedanken verworfen. Sollte Animal 81 Jahre alt werden, würde er wahrscheinlich genau wie Mabel sein. Ein alter, tatteriger Greis, der vollkommen harmlos wirkte. Ein alter, tatteriger Greis mit einer Vorliebe für zutiefst groteske Dinge und dafür, anderen Menschen extreme Schmerzen zu bereiten.
Bemerkenswert fand Tim, wie es der alten Schachtel gelungen war, keinerlei Blut abzubekommen. John Panozzos Kleidung war völlig davon durchtränkt gewesen. Nachdem sich Tim vergewissert hatte, dass der Bodyguard tot war, hatte er rasch Brad Miller mit Klebeband verschnürt und ihm einen Streifen davon über den Mund gepappt. Anschließend hatte er sich Lisa Miller gewidmet und sie bombenfest gefesselt.
Mabel hatte seelenruhig an der Tür gewartet, und Tim war mit John Panozzos Schlüsselkarte in das Zimmer auf der anderen Seite des Gangs geeilt, ohne von jemandem gesehen zu werden. Nach einem flüchtigen Rundumblick hatte ihn erneut erstaunt, wie schnell und präzise alles abgelaufen war. Danach hatte er sich umgezogen, war in die Kleidung geschlüpft, die er in einer hellbraunen Segeltuchtasche dabeihatte: braune Hose, braune Schuhe, beiges Hemd. Die andere Aufmachung hatte er in der Tasche verstaut, bevor er sich dem großen Karton zugewandt hatte, den er ungefaltet mitgebracht hatte.
Nachdem er den Karton aufgerichtet hatte, war er nach unten in die Lobby gefahren, um sich einen Gepäckwagen zu besorgen. Er hatte den Karton auf den Wagen gestellt und anschließend einiges an Zeit und Kraft gebraucht, um Lisa Millers gefesselte Gestalt in den Karton zu befördern. Tim hatte ihr genug Morphium gespritzt, um sie zuverlässig ruhigzustellen, denn in völlig schlaffem Zustand gestaltete es sich einfacher, sie zu bewegen. Er hatte sie in den Karton gestopft, ihre Arme über dem Kopf verschränkt, ihre Knie an die Brust geschoben. Danach hatte er den Karton geschlossen und mit Klebeband versiegelt. An den Seiten gab es genug Löcher, um für Luftzufuhr zu sorgen, wenngleich das keine große Sorge darstellte. Sie würde ohnehin nicht mehr besonders lange leben.
Tim Murray beobachtete die Anzeige des Fahrstuhls, während die Kabine rasant nach unten fuhr. Wie von Rick verlangt hatten sie Brad Miller gefesselt im Zimmer zurückgelassen und die Tür geschlossen. Bis es dem Mann gelingen würde, sich zu befreien, wäre seine Frau längst eine Spielwiese für Animal.
Die alte Frau ergriff das Wort, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Rick Shectman hat gesagt, ich könnte ein Auge haben.«
»Hä?« Tim sah sie an, und zum ersten Mal fielen ihm ihre wässrigen Augen auf. Die Alte wirkte verrückt. Wahnsinnig.
»Ihre Augen«, wiederholte die Greisin. »Ich esse gerne Augen. Rick hat gesagt, ich könnte eines haben.«
»Soll mir recht sein, Lady«, gab Tim zurück und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Türen. Unterwegs musste er die alte Vettel noch in einem Motel in der Spring Street am Stadtrand von Las Vegas absetzen. Darauf freute er sich nicht sonderlich.
»Die Augen mag ich am liebsten«, verriet die Greisin in so nüchternem Tonfall, als spräche sie über ein Rezept für Apfelkuchen. »Aber ich hab festgestellt, dass die Augen von Kindern am allerbesten schmecken. Hintern mag ich auch. Die Augen koche ich in einer Brühe, die ich aus dem Blut mache, die Ärsche backe ich im Ofen mit Zwiebeln und Speckstreifen.«
Tim sah sie an und spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. »Verscheißern Sie mich?«
»Aber nein«, entgegnete sie in einem Tonfall, aus dem sprach: Wieso um alles in der Welt sollte ich lügen?
»Sie essen Menschen?«
»Wenn ich kann«, bestätigte sie ungerührt. Ihre knochigen Hände umklammerten ihre Handtasche. »Ich würde ja auch die junge Frau essen, die Sie in dem Karton haben, wenn Rick mich lassen würde, aber er will sie für dieses Schwein aufheben, dass ihr bei diesen Snuff-Filmen benutzt. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich die Augen will. Ich mag Augen.«
»Scheiße!« Angewidert schüttelte Tim den Kopf. Und er hatte gedacht, Animal sei ein durch und durch kranker Irrer.
»Falls ihre Muschi noch unversehrt ist, wenn Animal sie durch die Mangel gedreht hat, lässt er mich vielleicht auch die haben. Ich mag den Geschmack von Muschi.«
»Wir sind da«, kündigte Tim an, als der Aufzug anhielt. Dieser alten Schachtel dabei zuzuhören, wie sie darüber redete, Muschis zu verspeisen, verursachte ihm Übelkeit. Die Türen öffneten sich in der Lobby, wo eine Schar von Touristen darauf wartete, den Fahrstuhl zu betreten. Tim rang sich ein Lächeln ab und wartete, bis Mabel ausgestiegen war, bevor er den Gepäckwagen hinter ihr herschob. »Das Auto steht in der Parkgarage«, sagte er und blieb mit Mabel auf einer Höhe, als er den Wagen durch die Lobby zu dem Ausgang bewegte, der in die Garage führte. »Dritte Ebene.«
»Gut«, erwiderte Mabel, die für eine Frau ihres Alters mit ziemlich forschen Schritten lief.
Auf dem Weg zur Parkgarage, vorbei an etlichen Touristen, schaute Tim unwillkürlich erneut zu der Greisin, der er mittlerweile einen kleinen Vorsprung gelassen hatte. Wo um alles in der Welt grub Rick Shectman nur solche Freaks aus? Schlimm genug, dass es kranke Scheißer auf der Welt gab, denen einer dabei abging, sich Filme anzusehen, in denen Menschen vergewaltigt und aufgeschlitzt wurden, aber die Vorstellung, dass es alte Leute gab, die genauso krank waren wie Animal, überstieg Tims Verstand. Was stimmte nicht mit solchen Typen?
Tim Murray hielt die Augen nach allem offen, was Bullen oder Sicherheitspersonal ähnelte, als sie sich dem vom Schrottplatz mitgenommenen Hummer näherten. Die Luft schien rein zu sein – offensichtlich suchte niemand nach einem Kerl, der bloß seine alte Großmutter begleitete. Er gab Mabel Schneider ein Zeichen. »Der Hummer dort ist meiner.« Mabel bestätigte mit einem Nicken, ihn verstanden zu haben. Tim entriegelte das Fahrzeug mit der Fernbedienung und öffnete rasch die Seitentür. Mabel wartete geduldig, umklammerte mit den Händen ihre Tasche, während Tim den Karton ins Auto hievte. Als er gesichert war, schloss er die Tür und schob den Gepäckwagen beiseite. Mabel öffnete die Beifahrertür und stieg ein, während Tim auf dem Fahrersitz Platz nahm und den Motor anließ.
Dann fuhren sie vom Luxor weg in Richtung des Stadtrands von Las Vegas.