14
Tim verkündete die Neuigkeit fünf Minuten nach Antritt der Fahrt nach Los Angeles. »Wir gehen zuerst zu deiner Bank, um das Geld zu holen. Wo ist sie?«
Lisa spürte ein Brennen, als das Klebeband, das ihr zuvor über das Gesicht geklatscht worden war, brutal von ihrem Mund gerissen wurde und sich dabei feine Härchen und eine dünne Schicht der Haut lösten. Die Augenbinde hatte man ihr kurz davor abgenommen. Sie saß an die Seitenverkleidung gelehnt. Über ihr ragte Animal auf, der Blick der grünen Augen raubtierhaft und kalt. Verstohlen spähte sie nach vorn in den Van, wo Tim den Wagen lenkte; er begegnete ihrem Blick im Innenspiegel.
»Also?«
»Bank of America, Filiale Fountain Valley.« Sie nannte ihnen die nächstgelegene Querstraße. »Liegt direkt an der 405.«
»Gleich bei Brookhurst, sagst du?«
Lisa nickte. »Ja.«
»Ich kann von der 22 nach Brookhurst«, meinte Tim und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Die verläuft genau durch Little Saigon.«
»Wo ist die Obdachlose mit ihrem Baby?«, wollte Animal wissen. Seine Frage jagte Lisa einen eiskalten Schauder über den Rücken.
»In Burbank«, antwortete Lisa und spürte, wie abermals jenes Gefühl grausamer Beklommenheit in ihr aufstieg. »Am Burbank Boulevard. Gleich nach der Ausfahrt ist ein Ikea.«
»Ich weiß, wo das ist«, sagte Tim.
Danach schwiegen alle eine Weile, während Tim den Wagen die gewundenen Gebirgsstraßen hinablenkte. Animal saß Lisa gegenüber, musterte sie gelegentlich, schaute jedoch größtenteils durch die Windschutzscheibe hinaus. Lisa bemühte sich, nicht auf ihn zu achten, als sie den Berg hinabfuhren, doch es fiel ihr schwer. Jedes Mal, wenn er den Blick auf sie richtete, kam sie sich vor wie eine Maus, die von einer Schlange als mögliche Mahlzeit ins Auge gefasst wird, ein kaltes, unpersönliches Gefühl. Es weckte in ihr den Wunsch, sich völlig in sich selbst zurückzuziehen.
Als sie die Hauptstraße erreichten, die sie zur Interstate 10 bringen würde, wechselte Animal auf den vorderen Beifahrersitz. Lisa erschlaffte an der Seitenverkleidung und hätte beinah geschluchzt.
Oh mein Gott, warum passiert das nur!, schrie sie innerlich auf, und letztlich lösten sich die Tränen von ihren Augen, kullerten ihre Wangen hinab. Es kümmerte sie nicht mehr, ob Tim und Animal sie hörten oder nicht. Wahrscheinlich würden sie ohnehin bloß denken, dass sie vor Angst weinte. Was allerdings nicht zutraf. Sie weinte, weil sie sich schämte.
Was habe ich nur getan?
Tja, lass uns mal sehen, Lisa. Um die eigene Haut und dein und Brads ungeborenes Kind zu retten, hast du nicht nur bereitwillig diese drei blutrünstigen Psychopathen auf eine Frau angesetzt, die du nicht mal kennst, du hast ihnen zudem noch gesagt, sie könnten ihre kleine Babytochter vergewaltigen, foltern und ermorden. Mann, ist schon richtig nett, jemandem so was anzutun, findest du nicht auch?
Was hätte ich denn sonst tun sollen? Die wollten mich töten! Die wollten mich töten, obwohl sie wissen, dass ich schwanger bin!
Ja, und dir ist es gelungen, ihnen statt dir eine Frau, die du nicht kennst, und ein Baby anzudrehen. Dein eigenes Kind ist nicht einmal geboren, und Mandy ist wie alt, einen Monat? Zwei Monate vielleicht? Und Alicia? Was ist mit ihr? Du trägst hier dazu bei, zwei Menschenleben auszulöschen, Lisa!
Aber die wollten mein Baby töten! Sie wollten ...
Spar dir den Mist von wegen deinem Baby. Du willst bloß deine eigene Haut retten. Stimmt’s?
Nein! Das ist nicht wahr! Das ist ...
Blödsinn! Wieso sonst solltest du getan haben, was du gerade getan hast? Oh bitte, foltert mich nicht für einen Snuff-Film zu Tode! Ich will nicht sterben! Ich kenne jemand anders, den ihr stattdessen umbringen könnt. Und wenn ihr schon dabei seid, könnt ihr euch auch gleich das Baby der Frau vorknöpfen! Nur bitte tötet nicht mich.
Und während die Tränen über ihre Wangen strömten, wurde ihr klar, dass der Teil ihrer selbst, von dem die Anschuldigungen stammten, tatsächlich recht hatte.
Wodurch sie sich nur noch mehr schämte und vor sich selbst ekelte.
Tims Stimme schnitt durch die Geräusche ihres Schluchzens. »Halt da hinten gefälligst die verfluchte Fresse!«
Lisa stockte bei Tims barschem Befehl der Atem. Sie bemühte sich, das nächste Schluchzen zurückzuhalten, das aus ihr hervorzubrechen drohte. Klapp mir jetzt nicht zusammen, dachte sie bei sich. Du musst stark bleiben, wenn du das durchstehen willst. Du musst einen klaren Kopf bewahren, wenn du nicht nur dich selbst, sondern auch Alicia und ihr Baby retten willst. Denn das schuldest du ihr – schuldest du allen beiden. Du kommst aus der Sache raus und wirst nicht zulassen, dass sie sich Alicia und Mandy holen.
Und als der Van auf der Interstate 10 beschleunigte, begann sie, über einen Ausweg aus ihrer Notlage nachzudenken.
Sie befanden sich auf dem Freeway 57 und rauschten gerade am Stadion von Anaheim vorbei, als Animal zurück in den Fond des Fahrzeugs wechselte. Er hielt ein tödlich aussehendes Messer in der Hand. »Halt still«, forderte er Lisa auf. »Ich schneide dich bloß los, damit du dich anziehen kannst.«
»Und versuch bloß nichts Krummes«, warnte Tim von vorn. »Animal hat bisher 18 Menschen umgebracht. Wenn du irgendetwas probierst, weidet er dich schneller aus, als eine Ratte scheißen kann.«
Lisas Haut spannte sich, als Animal das Seil durchschnitt, das ihre Handgelenke aneinanderfesselte. Sie spürte, wie er am Schloss der Handschellen fingerte, dann war sie plötzlich davon befreit. Er ragte vor ihr auf und schwenkte bedrohlich das Messer, als er ihr Kleidung hinhielt. »Zieh zuerst deinen BH und deine Bluse an, danach schneide ich die Fesseln an den Füßen durch.«
Lisa rieb sich kurz die Handgelenke, bevor sie tat, wie ihr geheißen. Langsam zog sie sich an. Ihre Gedanken rasten indes. Während der vergangenen Stunde hatte sie im Geiste an die 1000 mögliche Szenarien durchgespielt und keines erschien ihr besonders vielversprechend. In einem sah sie sich die Bank betreten, höchstwahrscheinlich mit Animal, und sich dann von ihm losreißen und über den Schalter hechten. Das würde eine Szene verursachen, und Animal würde zweifellos schleunigst abrauschen. Und sie würde in Sicherheit sein ... allerdings nicht lange. Al hatte Fotos von Brad und ihr. Außerdem hatte er ihre Adresse und Telefonnummer, die er sich von einem ihrer Kontoauszüge notiert hatte. Verdammt, er hatte sogar ihre Sozialversicherungskarte. Mit all diesen Informationen würde er sie ziemlich schnell finden.
In einem anderen Szenario sah sie sich das Geld bekommen und dann durch die Eingangstür hinauspreschen. Enden jedoch würde das auf dieselbe Weise.
Und so spielte sie auf dem Weg nach Burbank eine Möglichkeit nach der anderen durch. Was würde geschehen, wenn sie ihr Ziel erreichten? Mal angenommen, Alicia und Mandy würden nicht mehr dort sein, was dann? Oder wie wollten Tim und Animal die Mutter und Tochter in den Van schaffen, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen? Je mehr sie darüber nachdachte, desto riskanter erschien ihr Alicias Entführung. Lisa hatte das Gefühl, dass es Tim ähnlich sah und sie deshalb zuerst das Geld holten.
Im einzigen Szenario, das ihr wirklich gefiel, stürmte sie auf den bewaffneten Sicherheitsmitarbeiter der Bank zu. Wenn sie ihn überraschte, würde es ihr vielleicht gelingen, ihm seine Pistole abzunehmen und auf ihn zu schießen – natürlich nur ins Bein, denn sie wollte ihn ja nicht umbringen. Dann könnte sie auf Animal schießen, wiederum ins Bein, denn sie wollte ihn lebend, damit er der Polizei gegenüber ein Geständnis ablegen könnte. Bei genauerer Überlegung – vielleicht würde es ihr gelingen, ihm die Eier abzuschießen. Ein Mann starb doch nicht daran, wenn man ihm die Eier wegschoss, oder? Jedenfalls würde sie anschließend nach draußen stürmen, Tim im Van überraschen und ihn mit vorgehaltener Waffe aufhalten, bis die Polizei eintreffen würde.
Nur gab es mit dieser Traumvariante mehrere Probleme. Was, wenn es in der Bank mehr als einen Sicherheitsmitarbeiter gab und sie erschossen würde, bevor sie den Rest in die Tat umsetzen könnte? Was, wenn es ihr nicht gelang, die Pistole zu erbeuten und Animal während des Kampfs um die Waffe die Flucht ergriff? Was, wenn die Polizei zu schnell vor Ort wäre und stattdessen sie erschoss? All diese Stolpersteine rasten ihr innerhalb von Sekunden durch den Verstand, während sie BH und Bluse anzog.
»Klatsch dir ein wenig Make-up ins Gesicht«, befahl Tim. »Wir sind fast da.«
Lisa spähte durch die Windschutzscheibe hinaus. Sie befanden sich auf dem Freeway 22 in nördlicher Richtung. Ihre Ausfahrt näherte sich. Immer eins nach dem anderen, dachte sie, als sie die Schuhe anzog.
Als sie die Bank erreichten, hatte sie etwas Make-up aufgetragen und sich im Spiegel inspiziert. Ungeachtet allem, was sie in den vergangenen drei Tagen durchgemacht hatte, sah sie nicht allzu übel aus. Müde vielleicht, aber keineswegs schlecht.
Tim rollte auf einen Parkplatz in der Nähe des Eingangs der Bankfiliale, stellte den Motor ab und drehte sich um. »Animal geht mit dir rein. Falls du versuchst, zu schreien oder so, rennt Animal zurück nach draußen, und wir sind weg. Du wirst nicht wissen, wann wir dich wieder erwischen, aber das werden wir. Und dann bist du zusammen mit deiner gesamten beschissenen Familie fällig, klar? Dann filmen wir, wie Animal euch alle foltert und umbringt, kapiert?«
Lisa nickte stoisch.
»Ist dieses Sparkonto ein gemeinsames Konto?«, fragte Tim.
Lisa nickte. »Ja.«
»Kennt irgendjemand von den Schalterangestellten dich und deinen Mann?«
»Nein.«
»Also werden sie nicht merken, dass Animal nicht mit dir verheiratet ist, richtig?«
Sie nickte und straffte die Schultern. »Sie werden es nicht merken.«
»Gut. Dann spielt Animal für heute deinen Mann. Animal, gib deinem Frauchen einen Kuss.«
Animal grinste, beugte sich zu ihr und leckte ihr seitlich über den Kopf. Lisa verzog angewidert das Gesicht, als seine Zunge über ihr Kinn, ihre Wange und ihre Lippen schleckte, bevor sie an der Nase innehielt. Sie spürte, wie Ekel in ihr aufstieg, und musste gegen den Drang ankämpfen, zu würgen und ihn von sich zu stoßen. Animals Zähne tasteten verspielt wie die eines Liebhabers über ihre Nasenspitze. »Mmm. Schmeckt gut. Hab noch nie versucht, einer Schlampe mit den Zähnen die Nase abzureißen.«
Tim lachte. »Denk dran ... falls du Mist baust, tut es Animal wirklich, wenn wir uns das nächste Mal begegnen.«
»Ich werd’ keinen Mist bauen«, gab Lisa etwas trotzig zurück, als Animal sich von ihr entfernte und begann, sein eigenes Äußeres im Kosmetikspiegel zu überprüfen.
»Müssen beide Ehepartner unterschreiben, um Geld von eurem Konto abzuheben?«, fragte Tim.
»Nein.« Angewidert wischte sich Lisa mit der Handfläche Animals Speichel aus dem Gesicht und rieb die Finger dann an ihrer Jeans sauber.
»Gut. Dann hast du großes Glück, kleine Lady. Großes Glück. Was ist mit euren Pensionskonten?«
»Es sind getrennte Konten«, erwiderte sie und griff nach ihrer Handtasche, um sich zu vergewissern, dass sie alles Nötige dabeihatte.
»Dann sagst du am Schalter, dass du das Geld von eurem Sparkonto abheben und dein Pensionskonto auflösen willst. Wahrscheinlich musst du einen Arschvoll Formulare ausfüllen, das könnte eine Zeit lang dauern. Sorg dafür, dass du vom Pensionskonto alles bekommst und sie keine Steuerabzüge vornehmen. Die kann man auch später bezahlen. Heb einfach die Kohle vom Sparkonto ab, füll die beschissenen Formulare für das Pensionskonto aus, krall dir das Geld und komm schleunigst wieder raus. Wie viel ist auf deinem Pensionskonto?«
»30.000.«
»Wahrscheinlich behalten sie ein paar Riesen an Gebühren wegen vorzeitiger Auflösung oder so ’nem Scheiß ein. Damit bleiben uns dann nur 85.000 oder so. Was ist mit deinem Ring?«
Lisa blickte auf ihren Ehering und begann, ihn vom Finger zu ziehen. Es handelte sich um einen 24-Karat-Diamanten in einem fein gearbeiteten Goldring. Er hatte Brad fast 6000 Dollar gekostet, als er ihn vor drei Jahren für sie gekauft hatte, und sie hatte später zusätzlich Diamantsplitter in das Gold einsetzen lassen. Darauf wies sie Tim hin, als sie ihm das Schmuckstück aushändigte. »Wahrscheinlich könnt ihr zehn Riesen dafür bekommen, wenn ihr ihn auf Kommission verkauft.«
»Oder die Hälfte, wenn wir ihn direkt an einen Juwelier verhökern.« Kurz inspizierte Tim den Ring, bevor er ihn einsteckte. »Wenn du mit dem Bargeld rüberkommst, betrachten wir die Summe als erfüllt. Wie klingt das?«
»Gut.« Was hätte sie auch sonst sagen können? Immerhin standen ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes auf dem Spiel.
»Ich erwarte euch in 20 Minuten zurück«, warnte Tim. »Wenn ihr bis dahin nicht wieder da seid, weiß ich, dass es Schwierigkeiten gibt, und mach die Wolke. Wenn ...«
»Warte! Was ist, wenn ...?«, protestierte Lisa, der die Nerven durchgingen.
»Unterbrich mich gefälligst nicht«, mahnte Tim und schaute zu Animal. »Falls du dich lange anstellen musst, ruft mich Animal auf dem Handy an.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf ein kleines Mobiltelefon in seiner Brusttasche. »Das macht er gleich, nachdem ihr reingegangen seid. Aber falls ich mitbekomme, dass sich irgendetwas Merkwürdiges abspielt, mach ich ’nen Abflug, hast du mich verstanden? Ich warte nicht auf Animal. Er kennt den Ablauf, sollte er von den Bullen eingesackt werden; ihm passiert nichts.«
Lisa lauschte furchtsam, als Tim fortfuhr. Er holte sein Mobiltelefon aus der Hemdtasche hervor. »Animal hat auch eines dieser Babys.« Animal grinste und tätschelte seine Jeanstasche, an der eine Ausbuchtung durch ein kleines Handy erkennbar war. »Animal weiß, dass wir in 20 Minuten von hier verduften sollten. Falls es danach aussieht, dass es aus ungefährlichen Gründen länger dauert, ruft mich Animal nach exakt 19 Minuten an, um mir das zu sagen. Bekomme ich diesen Anruf nicht, sind deine Familie und du Hundefutter, kapiert?«
Lisa nickte und schluckte einen trockenen Kloß im Hals hinunter. »Verstanden.«
»Bleib einfach cool und gib dem Bankpersonal keinen Hinweis darauf, dass du entführt worden bist, indem du den Leuten einen Zettel zusteckst oder so. Animal würde es merken, und dann haut er ab. Du wirst es wahrscheinlich nicht so sehen, aber es wäre äußerst vorteilhaft für dich, Animal die nächsten 30 Minuten lang an deiner Seite zu haben. Denn weißt du, was passiert, wenn ich ihn aus der Bank kommen sehe und du nicht bei ihm bist?«
»Ja, weiß ich«, antwortete Lisa.
»Sag es.«
Sie schleuderte Tim einen finsteren Blick zu, und ihr drehte sich der Magen um. »Dann sind meine Familie und ich Hundefutter.«
»Und nicht nur Hundefutter. Filmstars!« Er stimmte ein krankes, perverses Lachen an. Das Geräusch brachte Lisa zum Zittern. Es war das Lachen eines Menschen ohne Gewissen.
»Okay!« Tim klatschte in die Hände. »Dann legen wir mal los.«
Animal schob die Tür des Vans auf, und Lisa folgte ihm hinaus. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie versuchte, normal zu erscheinen, während sie gleichzeitig verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt, die nicht in einer Katastrophe enden würde.