Kapitel 46
Frey und ich entwischen über den Zaun in den Nachbarsgarten. Die vielen Polizeiautos vor der Tür geben uns die Sicherheit, dass der Nachbar, selbst wenn er zu Hause ist, wohl eher nicht nach draußen kommen wird, um nachzusehen, was da los ist. Wir warten, bis die Leute von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin im Haus verschwunden sind, und gehen dann ruhig zum Auto. Er nimmt mir die Schlüssel ab und hält mir die Beifahrertür auf.
»Ich fahre. Du siehst fertig aus.«
Da widerspreche ich ihm nicht. Ich fühle mich, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir, zu müde, als dass es mich noch interessieren würde, ob ich es über die Ziellinie geschafft habe. Ich will nur, dass es vorbei ist. Und trotz allem, was ich getan habe, kann ich Trish vielleicht nicht davor beschützen, dass ihre Videos in einem Gerichtssaal gezeigt werden. Und Williams’ Worte über mich selbst haben mich erschüttert und verwirrt. Sie erinnern mich an das, was Casper mir gesagt hat. Zweimal schon. Ich verliere allmählich die menschliche Anna an den Vampir in mir.
»Soll ich dich zu deiner Wohnung fahren?«
Ich schüttele den Kopf. »Wir müssen Ryan nach Hause bringen, und Trish zu meinen Eltern.«
»Was ist mit Trishs Großmutter?«
»Um die kümmern wir uns morgen. Ich habe meiner Mutter versprochen, Trish bis heute Abend nach Hause zu bringen. Und dieses Versprechen werde ich halten.«
Frey schweigt kurz und hält den Blick auf den Verkehr vor uns gerichtet. »Was wirst du Trish sagen?«
Ich weiß es nicht. »Die Ergebnisse des Gentests bekomme ich erst morgen.« Ich erlaube mir, laut vor mich hin zu denken. »Ich sage ihr einfach, dass meine Mutter sich erboten hat, sie über Nacht bei sich aufzunehmen. Dass die Presse nach den Neuigkeiten über Bradleys Festnahme das Haus ihrer Großmutter belagert und wir dachten, es wäre besser, sie nicht den Reportern und Kameras auszusetzen.«
Frey nickt.
»Könnten wir im Büro vorbeischauen? Ich will mein Auto abholen.«
Frey erfüllt meine Bitte. Davids Hummer steht auf seinem Parkplatz vor dem Gebäude. Ich möchte unbedingt da hinein, das Gesicht meines absolut menschlichen Partners berühren und ihm sagen, dass ich morgen wieder zur Arbeit komme.
Aber ich lasse es, weil ich nicht sicher bin, ob ich wirklich kommen werde.
Ich folge Frey in meinem Wagen zum Park. Unterwegs rufe ich meine Mutter an und sage ihr Bescheid, dass sie uns erwarten kann. Ich gebe ihr eine kurze Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse und erinnere sie daran, dass das Ergebnis des Vaterschaftstests morgen vorliegen wird. Damit will ich ihr zu verstehen geben, dass sie Trish noch nichts sagen soll, solange wir keine Gewissheit haben.
Sie reagiert allerdings nicht darauf. Sie ist so aufgeregt vor Freude, Trish bald wohlbehalten bei sich zu Hause zu haben, dass ihr alles andere unwichtig erscheint. Aber sie ist verärgert über mich; das höre ich an ihrer Stimme. Als sie sich bei mir bedankt, bevor wir auflegen, geschieht das mit steifer Förmlichkeit.
Wir wollen die Kinder abholen, doch trotz der Umstände, die sie hierher geführt haben, zögern beide. Für sie geht etwas zu Ende, das sie vor allem als großes Abenteuer betrachten. Die Unverwüstlichkeit von Teenagern. Nur Freys Versprechen, sie könnten wieder zu Besuch hierherkommen, bewegt sie zum Aufbruch.
Frey erbietet sich, Ryan nach Hause zu fahren, also steigen Trish und ich in mein Auto.
»Wo fahren wir hin?«, fragt sie. Nun, da wir beide allein sind, klingt ihre Stimme nicht mehr so sprudelnd und freudig. Das gequälte, verängstigte kleine Mädchen ist wieder da.
Ich strecke die Hand aus und berühre sie an der Schulter. »Wir fahren an einen sicheren Ort. Meine Eltern haben angeboten, dich über Nacht bei sich aufzunehmen.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Na ja, genau genommen hatte meine Mutter die Idee. Sie weiß, dass die Presse nach dir sucht. Die wollen natürlich wissen, wie du auf all das reagierst. Aber sie werden bestimmt nicht auf die Idee kommen, dich im Haus deiner Schulrektorin zu suchen.«
Trish blinzelt. »Ihre Mutter ist die Mrs. Strong?«
Über ihr Gesicht muss ich lachen. »Jetzt wirst du sie von einer anderen Seite kennenlernen. Sie ist eine wunderbare Mutter.«
Ich zögere, denke an das, was Darryl mir erzählt hat, und bin mir bewusst: Was ich Trish jetzt erzähle, wird das Bild ihrer Mutter, das sie im Gedächtnis behält, für immer prägen. Zögerlich fange ich an.
»Deine Mutter ist gestorben, um dich zu schützen, Trish. Der Mann, der sie ermordet hat, dachte, sie wüsste, wo du dich versteckst.«
»Er hat nach dem Computer gesucht.«
Ich nicke. »Ja. Aber deine Mutter hat ihm nichts verraten.«
Trish gibt ein bitteres Lachen von sich, das eher wie ein Schluckauf klingt. »Aber nur, weil sie nichts wusste.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie sich mit dem Handrücken über die Augen fährt. Sie holt zittrig Luft und fragt: »Wer war es?«
»Er heißt Darryl Goodwin.«
»Darryl?« Sie richtet sich auf. »Dieses Ekel? Der hatte aber mit den Videos nichts zu tun. Oder?«
»Er war derjenige, der das alles eingefädelt hat. Aber es überrascht mich nicht, dass du nichts davon wusstest. Er war vorsichtig und hat darauf geachtet, dass er nie da war, wenn diese anderen Männer …« Ich weiß nicht, wie ich es aussprechen soll, also beende ich den Satz mit einem lahmen »… bei euch waren«.
Lange herrscht Schweigen. »Was passiert jetzt mit ihm?« Ihre Stimme klingt verängstigt und leise.
»Er kann dir nichts mehr tun, Trish, falls du dir deswegen Sorgen machst. Er ist tot.«
Sie senkt den Kopf und sieht mich schräg von unten an. »Haben Sie ihn getötet?«
Ihre Stimme deutet an, dass sie glaubt, ich hätte es getan. Ist es so offensichtlich, dass ich das wollte?
Woher weiß sie das? Kann sie den Rausch spüren?
Spüren andere Menschen ihn auch, wenn sie mich ansehen?
Als ich nicht antworte, zuckt sie mit den Schultern. »Ist auch egal. Was ist mit den anderen Männern?«
Sie braucht nicht deutlicher zu sagen, wen sie damit meint.
»Die sind verhaftet. Sie haben den Mord an Barbara gestanden.«
»Verhaftet?« Die Bestürzung in ihrer Stimme ist unverkennbar. »Heißt das, es gibt jetzt ein Gerichtsverfahren?«
»Die Staatsanwältin wird tun, was sie kann, um die Männer dazu zu bringen, dass sie ein umfassendes Geständnis ablegen, damit dir der Prozess erspart bleibt. Immerhin werden ihnen Mord und andere schreckliche Verbrechen vorgeworfen. Aber, Trish, es ist möglich, dass sie auf einen Prozess bestehen. Niemand will, dass du das durchmachen musst. Aber wir können es möglicherweise nicht verhindern.«
Sie fährt im Sitz zu mir herum. »Warum haben Sie sie dann nicht auch umgebracht? Dann wäre alles vorbei.«
Ihr hitziger Vorwurf lässt die Luft um uns herum vibrieren. Als ich sie ansehe, verblüfft über diese heftige Reaktion, funkeln ihre Augen mich an, um sich sogleich wieder zu verdunkeln.
»Entschuldigung«, sagt sie.
Einen Moment lang stecke ich zu tief im Zwiespalt meiner eigenen Gefühle, um etwas zu erwidern. Ein Teil von mir gibt Trish absolut recht. Ich hätte sie töten sollen. Ich wollte es. Ich hätte die Computer mitnehmen oder mitsamt dem Haus zu Asche verbrennen können. Das wäre ganz leicht gewesen, und Trish wäre jetzt frei.
Frey hat mich daran gehindert.
Was, wenn er das nicht getan hätte? Habe ich ihn nicht genau deshalb gebeten, mich zu begleiten? Wusste ich instinktiv, dass ich mir nicht trauen durfte? Und Frey war einverstanden, weil er das auch wusste. Und Williams ebenfalls.
Erst jetzt beginne ich zu begreifen.
Ich bin nicht so stark wie der Lockruf des Blutes. Ich bin nicht so stark wie die Gier. Das war ich nie.
Trish regt sich auf dem Sitz neben mir. Ich habe zu lange mit meiner Antwort gewartet, und sie wird unruhig.
»Ist schon gut, Trish. Es ist nur natürlich, dass du so fühlst. Mir geht es ganz genauso. Ich habe Darryl nicht getötet. Aber ich wollte es. Ich wollte auch diese Männer töten für das, was sie dir angetan haben. Ich hätte es vielleicht wirklich getan, wenn die Polizei nicht im richtigen Moment gekommen wäre. Wir werden wohl beide Zeit brauchen, und ein bisschen Unterstützung, um diese Sache verarbeiten zu können.«
Sie schweigt kurz. Dann fragt sie: »Unterstützung? Sie meinen einen Seelenklempner?«
Für sie, ja. Für mich wäre wohl eine andere Art Therapie besser. Aber ich lächle nur und nicke. »Meine Mom weiß sicher Rat. Sie ist eine sehr kluge Frau. Du kannst ihr vertrauen.«
Trish verfällt in Schweigen. Als wir auf die Einfahrt vor dem Haus meiner Eltern einbiegen, steht meine Mutter schon unter dem Vordach, hält Ausschau nach uns, wartet. Irgendein Instinkt muss mit im Spiel sein, denn Trish geht ganz ohne Vorbehalte auf sie zu. Mom lächelt mich an, bittet mich aber nicht, zu bleiben. Ich verabschiede mich, sobald ich mich vergewissert habe, dass die beiden zurechtkommen werden.
Dann fahre ich allein nach Hause, um Williams anzurufen.