Kapitel 43
Ich parke ein paar Häuser weiter, steige aus und stecke die Schlüssel in die Tasche. Es ist eigenartig still hier für einen ganz normalen Morgen. Keine Pendler machen sich auf den Weg zur Arbeit, keine Kinder warten an der Ecke auf den Schulbus. Ich sehe, wie sich die Kante einer Wohnzimmergardine sacht auf und ab bewegt, als ich auf dem Bürgersteig vorbeigehe, aber solange ich in Bewegung bleibe, werde ich wohl keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.
Auch vor Darryls Haus ist alles still. Ich erwarte den Chevy Suburban, der vor meiner Garage stand, hier zu sehen – Fehlanzeige. Darryls Garagentor ist aber offen, und der VW steht drin. Ich freue mich, dass wir ihn zu Hause antreffen werden.
Ich werfe einen Blick auf das Tor. Es ist mit einer schweren Kette und einem gewaltigen Vorhängeschloss gesichert. Trotzdem fällt es mir nicht schwer, das Tor mit einem Tritt zu öffnen. Und der Lärm, als das schmiedeeiserne Ding auf die Einfahrt kracht, hat die gewünschte Wirkung.
Darryl tritt aus der Haustür.
Er starrt mich an. Seine Miene drückt weder Überraschung noch Ärger aus, sondern ehe eine milde Neugier. Sein Hemd und seine Jeans sind mit feuchtem Blut getränkt. Ich rieche es sogar auf diese Entfernung. Normalerweise wäre das genug, um meinen Hunger zu wecken. Aber der widerliche Gestank von Knoblauch an ihm ist immer noch stärker.
Bis ich Frey sehe, muss ich mich so weit von Darryl fernhalten, wie ich kann.
Endlich bewegt er sich, wendet sich halb ab, als wolle er wieder hineingehen. Doch als er sich plötzlich zu mir herumdreht, hält er eine Waffe in der Hand. Er betrachtet das Gewehr, dann mich.
»Ich weiß, dass ich dich damit nicht töten kann«, sagt er nachdenklich, als spräche er eher mit sich selbst als mit mir. »Aber ich vermute, es tut ganz schön weh.« Er lädt durch und zielt auf meine Brust.
Ich hechte zu Boden, und das Geschoss prallt gegen den Beton der Mauer. Ich rolle beiseite, als der zweite Schuss den Boden Zentimeter neben meinem Kopf aufreißt. Bevor er den dritten Schuss abgeben kann, bin ich aufgesprungen und stürze mich auf ihn.
Es ist ein schwächlicher Angriff, denn der Knoblauch bremst mich wie ein unsichtbares Kraftfeld. Aber es reicht, um ihn von den Füßen zu reißen und ins Wohnzimmer zu schleudern. Bedauerlicherweise verliert er dabei nicht seine Waffe. Ich springe von ihm weg, ducke mich in eine Ecke und warte ab, was er als Nächstes tun wird.
Langsam steht er auf und lächelt. »Ich habe vor ein paar Minuten von Bradley gehört. Er war überrascht, dich zu sehen. Hat gesagt, es wäre wirklich Pech für mich, dass ich dich habe entwischen lassen. Na ja, vielleicht habe ich ja jetzt die Chance, das in Ordnung zu bringen. Ich wette, ich kann dir eine Menge schmerzhafter Löcher schießen. Könnte doch sein, dass du dann kooperativ genug bist, uns zu sagen, wohin du Trish und ihren Freund gebracht hast.«
Er hebt die Waffe und zielt. Mein Körper spannt sich an, bereit, aus der Schusslinie zu springen. Wo zum Teufel bleibt Frey?
Der Schuss kracht in dem beengten Raum wie Kanonendonner. Doch die Kugel geht weit daneben und lässt einen kleinen Sandsturm aus Putz von der Decke herabflirren. Darryl beginnt zu kreischen. Der Staub ist so dicht, dass ich nicht sehen kann, was passiert, doch das hässliche Geräusch eines brechenden Knochens lässt keinen Zweifel aufkommen.
»Bring ihn nicht um«, bitte ich Frey. »Jedenfalls noch nicht.«
Der Staub legt sich ein wenig, und ich gehe hinüber zu den Fenstern, ziehe die Vorhänge auf und öffne weit die Fenster. Neben dem, durch das ich vorhin gesprungen bin, sind es noch zwei weitere. Sonnenlicht und frische Luft strömen herein. An der Decke baumelt gefährlich ein Ventilator – Darryls Schuss hat den Putz darum herum bröckeln lassen. Den schalten wir besser nicht ein. Aber auf dem Boden im Nachbarzimmer steht ein weiterer Ventilator. Ich hole ihn ins Wohnzimmer, stöpsele ihn ein und lasse den kühlen Luftzug den restlichen Staub vertreiben.
Frey, in seiner Panthergestalt, starrt Darryl mit gebleckten Zähnen aus nächster Nähe ins Gesicht. Er hat ihn auf den Rücken geschleudert, und das hässliche Geräusch, das ich gerade gehört habe, muss von dem Arm gekommen sein, den Darryl nun an seine Brust drückt. Das Gewehr ist nicht mehr zu sehen.
Darryl wimmert und versucht, rückwärts von Frey wegzukriechen. Doch wie eine Katze, die eine Maus belauert, folgt der Panther lautlos jeder seiner Bewegungen, beobachtet ihn gebannt und völlig konzentriert und wartet auf den richtigen Moment für den tödlichen Sprung.
»Ich an deiner Stelle würde keine plötzlichen Bewegungen machen«, rate ich Darryl. »Sonst reißt er dir den Kopf ab.«
Als wolle er das untermalen, lässt Frey den mächtigen Kiefer schnappen.
Darryl jault auf und weicht zurück.
Ich lege Frey eine Hand auf den Kopf. »Ich werde mich mal umsehen. Wenn er sich bewegt, tötest du ihn.«
Frey stupst meine Handfläche mit der Schnauze an und nimmt dann seine Wache wieder auf.
Das, was ich suche, finde ich in einem der hinten gelegenen Schlafzimmer – drei Computer, sämtliche Hard- und Software, die man braucht, um die Stapel von DVDs und VHS-Videos zu produzieren, die auf dem Boden aufgereiht sind. Einige sind schon für den Postversand verpackt, andere erst mit Hüllen versehen. Es sind ein Dutzend Stapel. Genauso viele Videos, wie sie mit Trish gedreht haben.
Ich trete nach den Sachen auf dem Boden, verstreue sich überall und trample darauf herum, bis kaum mehr als Kunststoffsplitter und zerknäultes Videoband übrig sind.
Doch mein Zorn ist noch längst nicht besänftigt.
Ich kehre ins Wohnzimmer zurück.
»Beiß ihn«, sage ich zu Frey. »Ins Bein.«
Darryl beginnt zu kreischen, noch ehe Frey die Reißzähne in den Unterschenkel seines rechten Beins gräbt. Ich sehe zu, wie Frey kräftig zubeißt und den Kopf schüttelt, an dem Bein herumzerrt und es beutelt wie eine Katze einen Vogel. Ich lasse ihm eine volle Minute lang seinen Spaß, ehe ich ihn abrufe.
Frey weicht nur ein kleines Stück zurück, schnuppert mit leuchtenden Augen und leckt das Blut auf, das von Darryls Bein tropft.
Ich hocke mich neben Frey, lege ihm sacht eine Hand auf den Kopf und wende mich wieder Darryl zu. »Du weißt doch noch, wie das geht, nicht wahr, Darryl? Ich stelle dir eine Frage, und du gibst mir eine Antwort. Nur diesmal werde nicht ich es sein, die dich beißt, wenn mir nicht gefällt, was ich höre. Sondern mein neuer Freund hier.«
Darryls Augen sind trübe vor Angst. Sein Blick ist auf die Raubkatze fixiert und weicht keine Sekunde von ihr ab, während er fragt: »Was willst du wissen?«
»Gab es noch andere Mädchen außer Trish?«
Er schüttelt den Kopf, und die Bewegung entlockt Frey ein unwillkürliches Grollen. Darryl erstarrt, und seine Stimme ist ein kaum hörbares Flüstern, als er antwortet: »Nein. Nur Trish.«
»Wer sind die Männer, die auf den Videos mit Trish zu sehen sind?«
Darryl schließt die Augen. Als er nichts sagt, gebe ich Frey einen Wink. »Das andere Bein.«
Darryl reißt die Augen auf. »Nein. Bitte. Ich sag’s dir.«
Mit einem Nicken halte ich Frey zurück.
Darryl hebt vorsichtig den unverletzten Arm und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich habe sie in einer Bar kennengelernt. Sie studieren am College. Manchmal fahren sie mit mir nach Beso de la Muerte. Letztes Mal waren sie auch dabei. Du weißt schon, als wir zusammen waren.«
Ich erinnere mich. Die beiden Typen an der Bar. »Namen.«
Er spuckt sie aus, und ich speichere sie ab, zusammen mit den Gesichtern, die ich mir in Erinnerung gerufen habe. Jetzt weiß ich, dass ich sie erkennen werde, wenn ich sie wiedersehe.
»Wo wohnen sie?«
»In einem Apartment in der Nähe der San Diego State University. Montezuma Road sechs-drei-null-null.«
»Schön.« Ich tätschele sein heiles Bein. »So weit, so gut. Also weiter, was ist mit Barbara Franco passiert? Wer hat sie getötet?«
Darryls Stimme wird zu einem Wimmern. »Das war keine Absicht. Wir wollten ihr nur einen Schrecken einjagen, damit sie den Mund hält.«
»Wir?«
»Die Jungs von den Videos und ich. Wir haben sie auf dem Schulweg aufgesammelt und sind mit ihr raus in die Wüste gefahren. Aber sie wollte ja nicht hören. Sie hat sich gewehrt. Einer der Jungs hat seinen Gürtel ausgezogen und sie damit geschlagen. Dann hat er ihr das Ding um den Hals gelegt. Es ging so schnell. Sie ist einfach gestorben.«
»Und dann haben die kranken Schweine sich noch ein bisschen mit ihr amüsiert, nicht wahr?« Das ist meine eigene Stimme, aber sie scheint von einer Stelle in mir zu kommen, die ich kaum kenne. Die rasende Wut ist wieder da.
Frey hört es auch, die Muskeln spielen unter dem dunklen Fell, und ein tiefes Knurren dringt aus seiner Brust. Er bleckt die Zähne und gibt ein dumpfes Grollen von sich.
Ich will auch, dass er es zu Ende bringt. Aber eines muss ich noch wissen.
»Die Leute, die deine Filmchen kaufen. Ich will wissen, wer sie sind.«
»Ist alles im Computer. Ich kann dir die Adressen geben.«
Die Antwort kommt zu schnell.
»Ich bin nicht dumm, Darryl. Was hast du gemacht, den Computer so präpariert, dass du alles mit einem Klick löschen kannst, wenn es sein muss?«
Er schweigt.
Ich denke an meine Unterhaltung mit Max zurück. »Ich glaube, ich habe die Lösung. Ich werde deine Computer mitnehmen und sie Chief Williams übergeben. Seine Experten werden uns schon beschaffen, was wir brauchen.«
Darryls Augen werden schmal. »Aber wenn du das tust, kriegen sie auch die Videos. Da ist alles drauf. Alles, was wir mit Trish gemacht haben. Willst du wirklich riskieren, dass sich jemand noch eine Kopie davon macht?«
Nein. Will ich nicht. Die Vorstellung, dass der Abschaum, der diese Filmchen gekauft hat, ungeschoren davonkommen und sich anderen Opfern zuwenden wird, lässt mein Blut zu Eis gefrieren. Aber ich fände es genauso schlimm, Trish weiterer Demütigung auszusetzen, wenn sie vor Gericht gegen diese Kerle aussagen müsste.
Darryl grinst über die Zwickmühle, in der ich stecke. Der selbstzufriedene Ausdruck auf seinem Gesicht ist zu viel. Er macht mich so wütend, dass ich die Knoblauchkonzentration in seinem Blut außer Acht lasse. Ich weiß nicht, welche Wirkung es auf mich haben wird, wenn ich jetzt von ihm trinke, aber in meiner glühenden Wut ist es mir egal. Ich beuge mich fauchend über ihn, und meine Zähne berühren schon die Haut an seinem Hals, als Frey mit einer Pranke zuschlägt. Der Hieb schleudert mich von Darryl herunter. Ich stürze mich sofort wieder auf ihn.
Wie Tiere, die um einen saftigen Knochen kämpfen, stehen Frey und ich uns gegenüber. Ich will Darryl fertigmachen. Ihn leer trinken. Ihn kreischend sterben lassen. Das will ich so sehr, dass ich bereit bin, mit Frey darum zu kämpfen. Jeder Muskel in meinem Körper, jede Zelle bereitet sich auf den Kampf vor. Ich hocke auf allen vieren da, wie der Panther, und die Laute, die aus meiner Kehle kommen, klingen ebenso wild wie die, die er von sich gibt.
Etwas Menschliches blitzt in Freys Augen auf. Er faucht, die Lefzen weit hochgezogen, lange, weiße Zähne wie blanke Dolche gebleckt, doch er greift nicht an. Er beobachtet mich, völlig reglos. Sein Atem wird zu einem leisen Säuseln, das einzige Geräusch im Raum. Darryl liegt starr vor Angst neben uns, und sein Herz pocht so hektisch, dass ich seinen Herzschlag ebenso laut wie meinen eigenen hören kann.
Eine Stimme, die ich kaum erkenne, bricht aus meiner Kehle hervor. »Ich will es beenden.«
Frey bewegt sich so plötzlich, dass ich keine Chance habe zu reagieren. Mit einem Schnappen seiner mächtigen Kiefer bricht er Darryl den Hals.
Und damit ist es für Darryl vorbei.