Kapitel 45
Weg da. Du hast mich schon einmal daran gehindert. Ich will es.«
»Anna.« Er flüstert meinen Namen, immer wieder. Und weitere Worte, die ich nicht erkenne oder verstehe.
Worte, die mich an diesem Fleck festhalten. Die es mir unmöglich machen, mich zu rühren.
Er hat wieder seine menschliche Gestalt angenommen. Seine Stimme hebt und senkt sich, er rezitiert einen Zauberspruch wie eine Litanei.
Ich kämpfe dagegen an, doch seine Stimme hält mich gefesselt, der Zauber bindet mich so wirkungsvoll wie eiserne Ketten.
Er wiederholt die Worte wie ein Mantra. Immer weiter, bis er – etwas bemerkt. Er hört auf.
Ich bin befreit, und die Raserei fällt so plötzlich in sich zusammen, dass ich mich schwach und desorientiert fühle. Er tritt zu mir und fängt mich auf, bevor ich falle, um mich sacht auf die Couch zu legen.
»Was zum Teufel war das?« Bradleys Stimme klingt zittrig, zögerlich.
Blinzelnd blicke ich zu Frey auf. Er ist vollständig angezogen. Er muss sich im Auto verwandelt haben und dann zurückgekommen sein. Ich weiß noch nicht, ob ich darüber froh bin oder nicht. Der Hunger hallt in meinem Körper nach, und meine Stimme dringt krächzend aus meiner Kehle. »Das ist eine gute Frage. Was zum Teufel war das?«
Bradley stößt Frey beiseite. »Sie durchgeknalltes Miststück. Sie haben mich gebissen.«
Er wendet sich Frey zu. »Sie haben gesehen, wie sie mich angegriffen hat. Ich werde sie anzeigen. Sie muss auch Darryl getötet haben. Ein Glück, dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind. Sie sind mein Zeuge.«
Er verstummt, runzelt die Stirn und fragt sich vermutlich erst jetzt, wie Frey überhaupt hierherkommt. Und wie viel er gehört haben mag, bevor er eingegriffen hat.
Frey lächelt. »Ihre Sorgen sind absolut berechtigt. Ich bin ein Zeuge. Allerdings werde ich nicht für Sie aussagen.«
Bradley tritt zurück und blickt sich um, zweifellos auf der Suche nach seiner Waffe.
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagt Frey. »Die Waffe ist nicht mehr da.«
Ich werfe einen Blick zur Tür. »Hast du die beiden draußen gesehen?«
Frey nickt. »Sind gesichert. Ich habe zufällig erwähnt, dass Bradley behauptet hat, sie wären für sämtliche Morde verantwortlich. Außerdem habe ich sie darauf hingewiesen, dass es für sie von Vorteil wäre, als Erste mit Williams zu sprechen, sobald er hier auftaucht.«
Bradleys Augen werden schmal. »Williams ist auf dem Weg hierher?«
»Zusammen mit Ihrem Partner.« Frey wirft einen Blick auf die Uhr. »Sie haben etwa fünf Minuten, um sich eine bessere Geschichte auszudenken als die, die Sie gegen Anna konstruiert haben.«
»Na so was«, sagt Bradley. »Sie stecken voller Überraschungen, was?«
»Sagen wir einfach, ich bin hochmotiviert. Wegen Boston.«
Bradley ignoriert die Bemerkung. Seinem Gesichtsausdruck nach wägt er gerade seine Möglichkeiten ab, um zu entscheiden, welche Geschichte ihn im besten Licht erscheinen ließe.
Ich beobachte all das vom Sofa aus, während ich den beinahe zwingenden Drang bekämpfe, mich wieder auf Bradley zu stürzen. Nur das Wissen, dass meine Glieder mir nicht gehorchen, meine Beine mein Gewicht nicht tragen werden, hält mich davon ab, es zu versuchen. Ich keuche, zittere am ganzen Körper und kann das wilde Flattern in der Mitte meiner Brust nicht abstellen. Es hallt bis in meinen Kopf. Ich sehe Frey an und merke, dass sein Blick auf mir ruht. Was auch immer mit mir geschieht – er tut das.
»Verdammt noch mal, Frey.« Meine Stimme ist ein Krächzen. »Hör auf damit.«
Frey legt nur den Kopf ein wenig schief. »Sie sind da.«
Und sobald sich die Tür öffnet und Donovan eintritt, bin ich befreit. Das Zittern hört auf, mein Herz schlägt wieder normal. Ich kann mich aufrichten.
Donovan geht zuerst zu Darryl. Er beugt sich über die Leiche und tastet nach dem Puls. Sacht dreht er Darryls Kopf hin und her. »Blutergüsse von perforierten Blutgefäßen am Hals, weiche Gewebsstrukturen zerstört. Gebrochenes Genick.« Er steht auf und sieht seinen Partner an. »Sieht aus, als wäre er von einem großen Hund angegriffen worden.«
Bradley zeigt auf mich. »Frag sie, was passiert ist. Sie war hier. Herrgott, siehst du, was sie mit mir gemacht hat?« Er lässt die Hand von seinem Hals sinken und zeigt ihm die Wunde. »Die muss auf irgendeinem verrückten Stoff sein.«
»Willst du damit sagen, sie hat ihn umgebracht?«
»Wer denn sonst? Ich bin hier angekommen und habe ihn so vorgefunden. Außer ihr war niemand hier.«
»Warum?«, fragt Donovan leise.
»Warum was?«
»Warum bist du hierhergekommen?«
Bradley zieht scharf den Atem ein. »Ich bin ihr gefolgt.«
»Wie denn? Dein Auto steht vor dem Polizeihauptquartier.«
Donovan geht von Darryl weg und auf seinen Partner zu. »Die zwei Kerle da draußen. Wer ist das?«
»Ich weiß es nicht. Sie sind zur gleichen Zeit hier angekommen wie ich.«
»Da behaupten sie aber etwas anderes. Sie sagen, du hast sie hierher gebracht. Um Darryl zu besuchen.« Er wirft einen Blick auf die Leiche. »Ich erkenne ihn, Tom. Das ist der Sohn des Mannes, den wir in Boston haben hochgehen lassen. Der, von dem du behauptet hast, er hätte mit den schmutzigen Geschäften seines Vaters nichts zu tun. Der, den du vom Haken gelassen hast.«
Er blickt sich um, und Erkenntnis und Enttäuschung spiegeln sich auf seinem Gesicht. Er hätt eines der Videobänder vom Couchtisch hoch. »Du bist in sein Geschäft eingestiegen. Herrgott. Du bist bei ihm eingestiegen.«
Bradley breitet in einer hilflosen Geste die Arme aus. »Wie kannst du so etwas von mir denken? Ich bin aus demselben Grund hier wie du, um dem Dreckskerl das Handwerk zu legen. Ich weiß nicht, was die beiden Jungs da draußen dir erzählt haben, aber du glaubst ihnen doch hoffentlich nicht mehr als mir? Sie haben ein vierzehnjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet. Vermutlich haben sie auch Carolyn Delaney umgebracht. Es gibt nichts, was mich mit all dem in Verbindung …«
»Der Laptop.«
Ich bin nicht sicher, ob ich die Worte wirklich laut ausgesprochen habe.
Die beiden Männer drehen sich zu mir um.
»Wie bitte?«, fragt Donovan.
»Der Laptop. Er hat ihn mir heute Morgen im Café weggenommen. Seine Fingerabdrücke müssten darauf sein. Er hat mich hierhergebracht, während Sie mit Williams bei der Bürgermeisterin waren.«
Bradley wischt meine Worte mit einer abfälligen Handbewegung weg. »Das ist doch lächerlich.«
Donovan zieht Latex-Handschuhe aus seiner Jackentasche. »Wo ist er?«, fragt er mich.
Ich deute auf die Videos auf dem Couchtisch. »Irgendwo da drunter.«
Er holt ihn heraus und hält ihn vorsichtig an den Ecken fest.
Bradley weicht einen Schritt zurück. »Selbst wenn meine Fingerabdrücke da drauf sind, heißt das noch gar nichts. Ich habe ihn berührt, als ich hier ankam und sie mit der Leiche gefunden habe.«
»Und dann hast du ihn unter diesen Haufen Müll geschoben?« Donovan schüttelt den Kopf. »Verdammt, das glaube ich einfach nicht, Tom.«
»Es wird schon mehr als ein paar Fingerabdrücke brauchen …«
Doch bevor er aussprechen kann, geht die Haustür auf. Williams und zwei uniformierte Polizisten betreten das Haus. »Ich hatte gerade eine hochinteressante Unterhaltung mit Ihren beiden Kumpels da draußen, Bradley. Ich denke, wir machen uns jetzt auf den Weg in die Stadt.« Er gibt den beiden Officers einen Wink, die sofort neben Bradley treten. »Sie haben sicher nichts dagegen, diesen beiden Herren Ihre Waffe zu übergeben.«
Frey hat die ganze Zeit über still neben dem Sofa gestanden. Jetzt meldet er sich zu Wort. »Ich habe seine Waffe«, sagt er. »Er hat sie fallen lassen.«
Er streckt sie Williams hin, mit dem Griff voran. Williams nickt und nimmt sie. Zum ersten Mal sieht er dann mich an. »Der Gerichtsmediziner ist unterwegs. Vielleicht solltet du und Frey jetzt besser gehen.«
Bradley erstarrt. »Sie lassen sie gehen? Sie hat mich angegriffen und Darryl vermutlich umgebracht. Sie verhaften mich, und die lassen Sie laufen?«
Williams winkt ab. »Ab sofort würde ich mir an Ihrer Stelle nur noch Gedanken darum machen, wie Sie Ihren eigenen Arsch retten könnten, Special Agent Bradley. Die Staatsanwaltschaft hat sich vermutlich bereits mit dem FBI in Verbindung gesetzt. Die werden sich Ihre Kontoauszüge mal genauer ansehen. Und Darryls. Ich wette, Sie beide waren nicht so schlau, wie Sie glauben.«
Einer der Cops zückt seine Handschellen. Bradley weicht zurück, doch der andere Polizist schneidet ihm den Weg ab, und Bradley muss erkennen, dass er keine andere Wahl hat. Sobald er gesichert ist, wird er zur Tür geführt. Donovan folgt ihm, den Laptop in den Händen.
Keiner von beiden verabschiedet sich.
Williams wartet, bis sie weg sind, ehe er sich mir zuwendet. »Geht es dir gut? Du bist ziemlich blass.«
Erst will ich behaupten, natürlich ginge es mir gut – das ist ein Reflex. Doch Freys Blick hält mich davon ab. Im selben Augenblick beobachte ich, was mit Darryl geschehen ist, und dann mit Bradley. Er projiziert die Bilder in meinen Kopf, genau so, wie er mir Trish in dem Hauptquartier im Park gezeigt hat. Und mich überkommt dieselbe Raserei, derselbe Drang zu töten, der alles andere unwichtig erscheinen lässt. Ich hätte sie beide umgebracht. Ich wollte sie töten.
Ich wollte es.
Williams nimmt meinen Arm. Er sitzt neben mir auf der Couch. Jetzt erst wird mir klar, dass ich das durch Williams geistige Augen gesehen habe, nicht durch Freys.
Du hast alles gesehen?
Frey hat es mir gezeigt, und ich dir.
Natürlich – die telepathische Verbindung zu Frey ist für mich ja unterbrochen. Ich fahre mir mit einer Hand übers Gesicht. Was geschieht mit mir?
Nichts, was du nicht in den Griff bekommen könntest. Aber du musst lernen, wie, und du musst sofort damit anfangen. Was du mit Bradley gemacht hast, wird einiger Erklärung bedürfen. Ich kümmere mich darum, aber so etwas darf nicht noch einmal vorkommen.
Ich habe mich als Vampir zu erkennen gegeben.
Er nickt. Du verfügst über gewaltige Kräfte, Anna. Du kannst sie zum Guten gebrauchen. Aber es erfordert einiges Training, zu lernen, wie man den Hunger kontrollieren kann. Du hast so hart darum gekämpft, dir deine Menschlichkeit zu erhalten. Du musst auch darum kämpfen, die andere Seite deines Wesens unter Kontrolle zu bringen, sonst wird sie das aus dir machen, was du am meisten fürchtest.
Ich dachte, ich hätte es im Griff.
Das hat Frey gesehen. Er hat dich davon abgehalten, zu töten. Zwei Mal.
Und dann hat er Darryl getötet.
In seiner Tiergestalt. Er hat befürchtet, dass er dich nicht von Darryl würde abhalten können. Das Feuer war in deinem Blut. Er hat es getan, damit du ihm nicht nachgibst.
Und wenn ich ihn getötet hätte?
Dann wärst du verloren gewesen.
Das verstehe ich nicht.
Williams steht auf und tritt einen Schritt zurück. Als er sich wieder zu mir umdreht, wirken seine Augen kalt und ausdruckslos.
Regle die Sache mit Trish. Und deine Angelegenheiten mit deinen Eltern. Es ist höchste Zeit, mit deiner Ausbildung zu beginnen. Warte nicht zu lange, Anna.
Er sieht Frey an. Frey nimmt mich beim Arm. »Der Gerichtsmediziner ist da. Wir gehen hinten raus.«
Ich rapple mich vom Sofa hoch. Als ich zu Williams zurückblicke, ist er schon auf dem Weg zur Haustür.
»Warte.«
Er dreht sich um.
»Was wird aus Trish und den Videos auf diesen Computern? Was passiert jetzt damit?«
»Das sind Beweismittel, Anna. Ich kann dir nicht versprechen, dass sie nicht vor Gericht verwendet werden.«
Er muss mir meine Bestürzung angesehen haben, denn er fügt hinzu: »Wenn es uns gelingt, Bradley und die beiden da draußen von einem Deal zu überzeugen, kommt es vielleicht gar nicht zu einem Prozess. Ich spreche mit der Staatsanwaltschaft. Mehr kann ich nicht tun.«