Kapitel 30

Ich erkenne das Mädchen, das da vor mir steht, kaum wieder. Trish lächelt, ihre Augen leuchten, ihr Gesicht strahlt. Verschwunden ist die Aura von Angst und Traurigkeit, die sie vorher stets umgeben hat. Sie trägt saubere Jeans, eine frische weiße Bluse und Turnschuhe. Ihr Haar ist zurückgebürstet und hat einen gesunden Glanz. Sie duftet zart nach dem Geruch hier im Raum – Lavendel und Zitrus. Könnte das Seife oder Shampoo sein?

Sie sieht glücklich aus.

War das Sorrel?

Ich trete auf sie zu. »Geht es dir gut?«

Sie nickt. »Natürlich. Alle sind so nett. Mr. Frey hat recht gehabt, als er gesagt hat, hier wäre ich in Sicherheit.« Sie senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, lächelt aber weiter. »Ich weiß nicht genau, was das hier eigentlich ist. Mr. Frey hat gesagt, das sei ein geheimes Hauptquartier, wie im Film. Aber mehr darf ich nicht wissen, sonst müsste er mich umbringen.«

Sie kichert über einen Witz, den ich überhaupt nicht komisch finde. Und ich wundere mich über Trishs drastische Veränderung. Ich gehe zu den Sesseln hinüber und bedeute ihr, Platz zu nehmen. Sie setzt sich. Ich lasse mich ihr gegenüber nieder und komme mir vor wie eine Psychologin bei einer Therapiesitzung. Vielleicht wird dieser Raum tatsächlich so genutzt.

Aber ich weiß nicht, wie ich die Sitzung beginnen soll.

Trish sieht mich an, mit einem belustigten halben Lächeln auf dem Gesicht. »Sie sind sicher hier, weil jetzt alles viel besser aussieht, oder? Sie haben diese Männer geschnappt, und ich kann wieder nach Hause gehen. Ryan ist bestimmt schon verrückt vor Sorge. Ich durfte ihn von hier aus nicht anrufen. Mr. Frey hat mir versprochen, ihm Bescheid zu sagen, dass es mir gutgeht. Aber Ryan würde ihm nicht glauben. Er will sicher selbst mit mir reden, also wäre es besser, wenn wir auf dem Weg nach Hause noch bei ihm vorbeifahren.«

Die Worte sprudeln als einziger Wasserfall freudiger Spekulation aus ihr hervor. Sie scheint völlig vergessen zu haben, welchen Anteil ihre Mutter an dem hatte, was ihr passiert ist – oder sie hat eine Entschuldigung für ihre Mutter gefunden. Das eine erscheint mir so unfassbar wie das andere.

»Du willst wirklich nach Hause?«, frage ich sanft.

Sie nickt. Doch irgendetwas an meinem Gesichtsausdruck weckt offenbar Zweifel bei ihr, denn das Lächeln wackelt, und Unsicherheit dämpft das Strahlen ihrer Augen. »Stimmt was nicht?«

Ich zögere eine halbe Sekunde zu lang mit meiner Antwort.

Trish springt auf. »Ist meiner Mutter etwas passiert?«

Ich wünschte, ich wüsste, wie ich es ihr leichter machen könnte. Ich überlege sogar, ob ich sie daran erinnern soll, warum sie überhaupt erst hier gelandet ist, aber damit würde ich nur ein Grauen gegen das andere eintauschen. Ich stütze mich auf die Armlehnen und stehe auf.

»Trish, es tut mir leid. Ja, es ist etwas passiert. Deine Mutter wurde gestern Nacht ermordet. Die Polizei sucht schon nach dem Mörder. Und ich werde das natürlich auch tun.«

Mir fällt auf, dass ich plappere, genau wie Trish gerade eben noch. Aber nun starrt sie mich an, mit leerem Blick und offenem Mund, alle Lebhaftigkeit ist aus ihrer Miene verschwunden. Ich gehe einen Schritt auf sie zu, aber sie weicht zurück.

»Das tut mir wirklich sehr leid, Trish. Ich wünschte, ich könnte es dir irgendwie leichter machen. Deine Großmutter aus Boston ist da. Sie weiß nicht, wo du bist. Wenn du möchtest, überbringe ich ihr eine Nachricht von dir.«

Noch während ich das sage, hätte ich die Worte am liebsten zurückgenommen. Warum habe ich das gesagt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese kalte, arrogante Kuh Trish irgendeinen Trost bieten könnte. Ich weiß nur nicht, was ich ihr sonst anbieten soll. Trish weiß ja nicht, dass sie auch mit meiner Familie verwandt ist. Ich fürchte, wenn ich ihr das jetzt sage, bringe ich sie nur noch mehr durcheinander.

Trish starrt mich an, mit dem geschockten, glasigen Blick eines Menschen, dessen Gedanken ganz nach innen gewandt sind. Ich kann mir kaum vorstellen, was für schreckliche Bilder sie vor ihrem inneren Auge sieht.

»Trish? Bitte sprich mit mir, Liebes.«

Ich sehe ihrem Blick an, dass sie zu begreifen beginnt. Wie ein Ertrinkender, der aus dem Meer gezogen wurde, ringt sie keuchend nach Atem. Ihre Brust bebt, doch ich sehe keine Tränen. Sie fängt an zu zittern. Ich schlüpfe aus meiner Jacke und halte sie ihr hin. Wieder weicht sie zurück.

»Wie ist das passiert?«, fragt sie.

Das Bild von Carolyns zerschundenem Gesicht und das Wissen darum, was man ihr angetan hat, drängen sich mir auf. Aber ich könnte Trish ebenso wenig davon erzählen, wie ich sie daran erinnern konnte, warum sie hier gelandet ist. Ich lege die Jacke über die Sessellehne und nutze die kurze Pause, um meine Gedanken zu sammeln, bevor ich antworte.

»Die Polizei ist nicht ganz sicher.« Ein letzter schmerzlicher Versuch.

Aber sie durchschaut mich sofort, und Zorn blitzt in ihren Augen auf. »Lassen Sie das«, faucht sie. »Behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind. Sie wissen, was mir passiert ist. Sie wissen, welche Rolle meine Mutter dabei gespielt hat. Wurde sie ermordet wie Barbara? War es meinetwegen?«

Das Bild, das Trish beim Eintreten von sich selbst vermittelt hat, war nur zum Teil Sorrels Werk, das wird mir jetzt klar. Trish wollte unbedingt daran glauben, dass alles, was ihr passiert ist, ein Alptraum war, aus dem sie nun endlich aufgewacht ist. Vierundzwanzig Stunden Geborgenheit in einer sicheren Umgebung und die Aussicht darauf, dass ihr Leben wieder ihr gehören könnte, haben sie vor jugendlichem Optimismus schwindeln lassen.

Herrgott, ich will nicht diejenige sein, die diese Illusion zerstört. Dennoch bin ich nun zum zweiten Mal die Überbringerin schlimmer Neuigkeiten. Ihr von Barbara zu erzählen, war schlimm genug. Wie zum Teufel soll ich ihr erklären, was ihrer Mutter passiert ist?

Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich bin hier die Erwachsene. Ich sollte instinktiv wissen, wie man so etwas macht. Aber den Kummer in ihrem Gesicht und das Grauen in ihren Augen zu sehen, macht mich sprachlos.

Ich wünschte, meine Mutter wäre hier. Die Tür geht auf, und einen verrückten Moment lang glaube ich tatsächlich, meine Mutter sei gekommen, um uns beide zu retten.

Aber natürlich ist sie es nicht. Frey kommt herein, und seine Miene wird weicher, als er Trish ansieht.

»Anna hat dir von deiner Mutter erzählt? Es tut mir sehr, sehr leid.«

Trish geht zu ihm und lässt sich von ihm in den Arm nehmen, lehnt sich an ihn, nimmt den Trost von ihm an, den sie von mir nicht haben wollte.

Das ist eine bittere Zurückweisung. Wenn ich Sorrel glauben darf, ist Trish meine Nichte. Ich sollte diejenige sein, die sie tröstet. Ich gehe einen Schritt auf die beiden zu.

Ich begegne Freys Blick, und er scheint meine Reaktion zu begreifen. Sanft schüttelt er den Kopf – eine Mahnung, Trishs Gefühle zu respektieren.

Sie wirkt. Ich weiß, dass er recht hat. Trish braucht jemanden, dem sie sich öffnen kann. Ich hatte gehofft, das würde ich sein. Aber wir kennen uns noch kaum einen Tag lang. Frey ist ein Lehrer, den sie mag und respektiert. Es ist nur natürlich, dass sie sich ihm zuwendet.

Aber es braucht mir nicht zu gefallen.

Frey führt Trish hinüber zu einem der Sessel und drückt sie sacht darauf nieder. Sie bleibt sitzen, umklammert aber seine Hand, als hätte sie Angst davor, ihn loszulassen. Er lächelt auf sie hinab und dreht sich zu mir um.

»Draußen ist jemand, der dich sprechen möchte«, sagt er.

»Mich?«, frage ich überrascht. »Wer weiß denn, dass ich hier bin?«

Er schüttelt den Kopf und setzt sich zu Trish. »Keine Sorge. Es ist jemand, den du kennst. Er wartet vor der Tür auf dich.«

Seine Worte sind ein sanfter Wink, dass ich die beiden jetzt allein lassen soll. Ich beuge mich vor, um Trish anzusehen, ihren Blick aufzufangen. »Ich bin gleich hier draußen, Trish. Wenn du mich brauchst, kann Frey mich jederzeit holen.«

Sie sieht mich an, aber ich bin nicht sicher, ob meine Worte zu ihr durchdringen. Alles, was ich in ihren Augen sehe, ist eine grauenhafte Leere.

Ich richte mich wieder auf. »Frey, kann ich dich einen Moment draußen sprechen?«

Er zögert, doch mein Gesichtsausdruck vermittelt offenbar das, was ich mit Worten nicht ausdrücken konnte. Das war keine Bitte. Er öffnet die Hand und entzieht sie sacht Trishs Klammergriff.

Sie schnappt nach Luft und greift nach seiner Rechten, doch er streicht ihr über den Kopf und sagt leise: »Ist schon gut. Ich bin direkt hinter dieser Tür.«

Sie wirkt nicht beruhigt, lässt aber die Hand in den Schoß sinken und widerspricht nicht.

Frey folgt mir hinaus. Sobald die Tür hinter uns geschlossen ist, gehe ich auf ihn los.

»Was willst du ihr denn schon sagen?«, herrsche ich ihn an. »Du weißt nicht, was Carolyn zugestoßen ist.«

Frey schaut an mir vorbei.

Ich drehe mich um, und im selben Moment drängt sich eine vertraute Stimme in meinen Kopf. Er weiß Bescheid, Anna. Ich habe ihm alles gesagt.

Vor mir steht Polizeichef Williams, jetzt nicht mehr in Uniform, aber in dieser Umgebung offensichtlich genauso zu Hause wie vor einer guten Stunde in seinem Büro.

Lockruf des Blutes
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