Kapitel 41

Ich laufe weiter, weg von Darryl und seiner sorgfältig präparierten, vergifteten Falle. Sobald ich die Freeway-Brücke erreicht habe, halte ich an. Ich habe meine Handtasche nicht dabei; sie liegt in Bradleys Auto. Was bedeutet, dass ich kein Handy habe, um mir ein Taxi zu rufen oder Williams zu warnen. Das Einzige, was mir übrig bleibt, ist zu Fuß zum Polizeihauptquartier zu laufen.

Ich renne los und empfinde das Laufen bald als erholsam. Ich pumpe im Rhythmus meiner Schritte mit den Armen, und als ich mein Ziel erreiche, habe ich das Gefühl, sämtliche Giftstoffe aus meinem Körper gelaufen zu haben. Ich fühle mich stark und wach und bin sehr, sehr wütend.

Und wie es der Zufall will, entdecke ich, geparkt vor dem Polizeihauptquartier, kein anderes Auto als den Fairlane. Ich spähe hinein, doch wie ich vermutet hatte, hat Bradley meine Handtasche entweder irgendwo aus dem Fenster geworfen oder in den Kofferraum gepackt. Da ich einen überwältigenden Drang zur Gewalttätigkeit verspüre, beschließe ich, gleich im Kofferraum nachzusehen. Ich packe den Rand mit beiden Händen und schäle das Metall förmlich hoch, bis die eine Hälfte des Kofferraumdeckels auf die andere geklappt ist. Am liebsten hätte ich das Ding einfach herausgerissen, aber es könnte mich ja jemand beobachten.

Meine Handtasche ist tatsächlich da drin, in einer Ecke, zweifellos aufbewahrt, um zum passenden Zeitpunkt an einem verdächtigen Ort plaziert zu werden. Ich schnappe sie mir und frage mich, ob ich Williams vorwarnen sollte, dass ich auf dem Weg nach oben bin, oder lieber einfach auftauchen und zusehen, wie Bradley sich windet.

Du kannst da nicht raufgehen, Anna.

Ich wirbele herum. Casper?

Du musst sofort zu Ryan. Bradley vermutet ihn im Strandhaus. Er ist gerade auf dem Weg dorthin, mit zwei von Darryls Freunden.

Caspers Stimme klingt irgendwie anders. Es liegt eine Dringlichkeit darin, die ich noch nie bei ihm gehört habe. Ich weiß nicht, wie ich dorthin kommen soll.

An der Straßenecke gegenüber wird ein Motor angelassen. Ich drehe mich nach dem Geräusch um.

Anna, denk daran, was ich dir gesagt habe. Du stehst an einer Wegkreuzung. Der Pfad, den du jetzt wählst, entscheidet darüber, was du sein wirst.

Einen flüchtigen Augenblick lang werden meine Sorgen von Aufregung ausgeblendet.

Ich werde endlich Casper kennenlernen. Das muss er sein.

Ich warte darauf, dass der Wagen vom Straßenrand losfährt.

Das tut er nicht.

Ungeduld flammt in mir auf. Verdammt noch mal, Casper. Komm schon.

Ich bekomme keine Antwort, und der Wagen rührt sich immer noch nicht vom Fleck. Wütend stapfe ich über die Straße und reiße die Fahrertür auf.

Der Motor läuft, Schlüssel baumeln vom Zündschloss. Der Fahrersitz ist leer.

Scheiße. Warum machst du das jedes Mal?

Aber ich weiß schon, dass ich keine Antwort erhalten werde. Und meine Wut an niemandem auslassen kann. Ich springe auf den Sitz und fahre mit quietschenden Reifen los. Ich hoffe, dass das sein Auto ist. Und dass ich gerade jeden Zentimeter Gummi an den verdammten Reifen verbrenne.

Der Wagen ist ein kleiner Miata, schnell und wendig. Ich flitze durch den morgendlichen Pendelverkehr in Richtung Mission Beach. Als ich mein Häuschen erreiche, fahre ich es über die Hintergasse an, um erst mal nach dem Rechten zu sehen. Vor meiner Garage parkt ein Auto, ein schwarzer Chevy Suburban mit getönten Scheiben. Ich stelle mich dahinter und blockiere so den Fluchtweg.

Dann überprüfe ich die Hintertür. Sie ist abgeschlossen. Durch die Fenster kann ich nicht viel sehen, nur die Küche und ein Stück Flur dahinter. Ich höre auch keine Stimmen. Ich will gerade ums Haus herum nach vorne gehen, als mich eine Hand auf meinem Arm zusammenzucken lässt.

Ich habe beide Hände an seiner Kehle, bevor mein Gehirn registriert, dass er keine Bedrohung darstellt, und die Vernunft sich wieder einschaltet. »Himmel, Ryan.« Ich drücke ihn aus Erleichterung an mich, und um mich bei ihm zu entschuldigen. »Was tust du hier?«

Er legt den Zeigefinger an die Lippen und deutet aufs Haus. »Dieser Mann vom FBI ist da«, flüstert er. »Er hat noch andere dabei. Er hat gesagt, ich sollte mit ihnen gehen, aber ich traue ihm nicht. Ich habe ihm gesagt, ich müsse schnell meine Sachen holen, und bin dann hinten rausgeschlichen. Seitdem verstecke ich mich in der Garage und warte auf Sie.«

Ein beinahe mütterlicher Impuls, ihn zu tadeln, weil ich ihn doch ermahnt hatte, niemanden hereinzulassen, flackert in mir auf. Doch ebenso rasch ist er wieder verflogen. Dies ist keine Zeit für Strafpredigten. Stattdessen drehe ich ihn bei den Schultern herum und schiebe ihn zum Gartentor. »Dein Instinkt ist gut. Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.«

Wir schleichen uns um die Tür herum und haben beinahe das Auto erreicht, als ein Ruf von oben unsere Köpfe zu dem Balkon vor meinem Schlafzimmer hochfahren lässt. Bradley steht dort oben, mit einem Gesichtsausdruck, der Verwirrung und Wut widerspiegelt.

»Stehen bleiben.« Sein Befehl hallt bellend durch den Garten. Er tastet unter seiner Jacke nach etwas herum.

Ich schubse Ryan zum Auto, und wir hechten hinein. Eine Kugel schlägt auf der Motorhaube ein und wird auf die Scheibe abgelenkt. Das Sicherheitsglas platzt, ein Muster bildet sich darin, das sich wie ein kompliziertes Spinnennetz nach außen ausdehnt.

Ich drücke Ryans Kopf herunter und lasse den Motor an.

Der zweite Schuss durchschlägt die Scheibe und bleibt im Armaturenbrett stecken. Durch die Windschutzscheibe kann ich kaum mehr etwas sehen. Ich lege den Rückwärtsgang ein und manövriere mich mit Hilfe der Spiegel aus der schmalen Gasse hinaus. Sobald wir die Straße erreicht haben, schlage ich auf das Glas ein, bis die Windschutzscheibe ganz herausfällt. Auf dem Bürgersteig bleiben die Leute stehen und starren mich an. Aus dem Augenwinkel sehe ich Bradley und einen zweiten Mann die Gasse entlang auf uns zurennen.

Mein Fuß tritt das Gaspedal durch, und wir sind verschwunden, noch bevor sie die Straße erreichen.

Für ein Kind bleibt Ryan ziemlich cool. Er umklammert den Haltegriff an der Tür so fest, dass seine Knöchel weiß schimmern, aber er drückt sich nicht schlotternd in den Sitz, brüllt irgendwelche ablenkenden Fragen oder verlangt heulend, nach Hause gebracht zu werden.

Er wird mir immer sympathischer.

Aber was soll ich jetzt mit ihm anstellen?

Uns bleiben nur Minuten, bis Bradley uns wieder auf den Fersen sein wird. Ich muss das Auto loswerden. Direkt vor uns liegt der Belmont Park mit der Giant-Dipper-Achterbahn und dem Plunge, einem riesigen Salzwasser-Schwimmbad. Das Ganze ist entweder ein achtzig Jahre altes, historisches Juwel oder eine Beleidigung für das Auge, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hat, je nachdem, wie man es betrachten will. Jedenfalls ist die Anlage ein belebter Freizeitpark voller Menschen und damit genau das, was ich brauche.

Ich biege auf den Parkplatz ein und suche nach dem richtigen Plätzchen. Ich finde es zwischen zwei dicken Jeeps. Ein perfektes Versteck für den winzigen Miata. Ryan und ich springen heraus, und ich dränge ihn zum Eingang. Wir gehen aber nicht in den Park, sondern beobachten den Parkplatz von einem sicheren Aussichtspunkt neben den Kassenschaltern und warten auf den schwarzen Wagen.

Der kommt auch, beinahe sofort. Doch zu meiner Erleichterung biegt er nicht auf den Parkplatz ab, sondern fährt weiter in Richtung Mission Bay Drive zur Innenstadt.

Vermutlich wollen sie zu Darryl. Mit ein bisschen Glück ist der Scheißkerl inzwischen verblutet.

Nun, da die unmittelbare Gefahr vorüber ist, werden Ryans Augen groß vor nachträglicher Panik. »Wo ist der Computer?«, fragt er. »Sie haben ihn nicht mehr, oder?«

»Ist schon gut, Ryan.« Ich lege ihm beruhigend einen Arm um die Schultern. »Wir brauchen ihn nicht mehr. Ich weiß, wer für diese Videos verantwortlich ist.«

»Wer ist es?«

»Ich glaube nicht, dass er dir je begegnet ist. Er war ein Freund von Trishs Mutter.«

Seine Schultern verkrampfen sich. »Aber nicht Trishs Stiefvater, oder?«

Da ist etwas Neues in seinem Tonfall, etwas, das vorher nicht da war. Es klingt bitter und vorwurfsvoll. »Stiefvater?«

Ryans Augen werden schmal. »Trish hat ihn immer Dad genannt. Aber ich wusste, dass er nicht ihr richtiger Vater war. Ich habe einmal gehört, wie ihre Mutter sich mit ihm unterhalten hat, und sie wusste nicht, dass ich zuhöre.«

»Was hast du gehört?«

»Trishs Mutter hat ihn gewarnt, er sollte die Finger von Trish lassen, und er hat gelacht und gesagt, warum denn? Da sie ja keine Blutsverwandten seien, wäre das doch kein Problem? Mir war ganz schlecht.«

Mir wird auch schlecht. Und ich koche schon wieder vor Zorn. Was Trish durchmachen musste, ist abscheulich. Carolyn ist tot, und ich habe keine Ahnung, wer dieser Stiefvater ist. Aber Bradley und Darryl sind mir wohlbekannt und lebendig, und ich schwöre mir im Stillen, dass sie dafür bezahlen werden.

Lockruf des Blutes
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