Kapitel 23
Natürlich kann sie mich nicht wirklich verletzen, aber da sie mich überrumpelt, fliegt mein Kopf zurück, und meine oberen Schneidezähne reißen mir die Unterlippe auf. Mit einem Ausdruck der Befriedigung auf dem Gesicht sieht sie zu, wie ich mir das Blut vom Kinn wische.
Das ist das letzte bisschen Befriedigung, das sie auf meine Kosten genießen wird.
Das Geräusch der Ohrfeige, wie ein Schuss in der morgendlichen Stille, erschreckt mich fast mehr als der Schlag selbst. Alle in Hörweite halten inne und drehen sich zu uns um.
Detective Harris, ihr dicht auf den Fersen, reagiert auf einen körperlichen Angriff, der direkt vor seiner Nase stattfindet, nicht so, wie ein Polizist es tun sollte. Ein paar Schritte von uns entfernt bleibt er abrupt stehen und rührt sich nicht mehr vom Fleck. Er schaut nur zu. Das macht mich fast genauso wütend, wie geschlagen zu werden, denn ich weiß, was er da macht. Er wartet ab, ob eine von uns jetzt etwas sagen wird, das er später gegen uns verwenden kann.
Doch Mrs. Bernard vermutet das wohl auch, und er wird enttäuscht. Wir stehen da und starren einander schweigend an.
Schließlich tritt er hinzu, zieht sie ein Stück von mir weg und hält sie sacht mit einem Arm zurück. Sein Blick ruht auf mir. »Alles in Ordnung, Mrs. Strong?«
Das wäre ja sehr nett, wenn sein Gesichtsausdruck oder seine Stimme auch nur einen Hauch von Besorgnis erkennen ließen. Tun sie aber nicht.
Ich nicke und wische mir noch einmal das Kinn ab. Beinahe hätte ich danach die Finger an die Lippen geführt, um das Blut abzulecken. Mrs. Bernards Gesicht, wenn ich das täte, wäre es wert, genauso wie Harris’ schockierte Reaktion. Aber ich halte mich zurück und kühle meine Wut damit, die Frau anzustarren.
Harris’ Aufmerksamkeit wendet sich sofort wieder Carolyns Mutter zu. Sie steht still neben ihm, wehrt sich nicht, tut gar nichts, außer mich ebenfalls anzustarren. »Würden Sie mir bitte erklären, warum Sie diese Frau gerade angegriffen haben, Mrs. Bernard?«
Sie reißt den Blick von mir los. »Der Bruder dieser Frau hat das Leben meiner Tochter ruiniert. Er war ein verantwortungsloser, gewissenloser Mann, der ein liebes, unschuldiges junges Mädchen ausgenutzt hat. Er hat sie geschwängert und sie dann sitzenlassen.«
»Sie sitzenlassen?« Meine Stimme bebt vor Zorn. »Er ist gestorben. Ich habe Ihre Tochter kennengelernt, als sie mit Steve zusammen war, Mrs. Bernard. Sie mag ja alles Mögliche gewesen sein, aber lieb und unschuldig ganz gewiss nicht.«
Ihr Gesicht verzerrt sich vor Wut, und nun lehnt Mrs. Bernard sich gegen Detective Harris’ Arm auf, der sie zurückhält. »Wie können Sie es wagen?«, faucht sie. »Sie kannten meine Tochter doch gar nicht.«
»Und Sie kannten Steve nicht.«
Harris reicht es jetzt. Er packt Mrs. Bernard fest am Arm und fixiert mich mit einem stahlharten Blick. »Wollen Sie Anzeige erstatten?«, fragt er mich.
Als ich den Kopf schüttele, fährt er fort: »Dann schlage ich vor, dass Sie jetzt gehen, Mrs. Strong. Falls ich weitere Fragen an Sie haben sollte, melde ich mich bei Ihnen.«
Gehen ist das Letzte, was ich jetzt tun will. Ich habe nichts über Carolyns Tod erfahren, was mir helfen könnte, die Verantwortlichen aufzuspüren. Aber mir ist auch klargeworden, dass ich das habe, wonach diese Männer gesucht haben – oder zumindest weiß, wo es ist –, nämlich den Computer. Und vermutlich weiß ich auch schon, wie sie aussehen – die beiden vor Freys Wohnung.
Ich habe viel mehr als die Polizei.
Nicht einen Augenblick lang bin ich versucht, Mrs. Bernard von Trish zu erzählen. Immerhin hat sie auch noch nicht daran gedacht, nach ihrer Enkelin zu fragen.
Meine Lippe blutet nicht mehr. Ich spüre das Kribbeln, wo die Wunde sich selbst repariert, die Schwellung zurückgeht und die gerissene Haut sich wieder schließt. Wenn ich in zehn Minuten die Stelle berühre, wo Carolyns Mutter mich geschlagen hat, wird keine Spur einer Wunde mehr zu ertasten sein.
Alles, was bleibt, ist brennende Wut.
Ich halte in der Einfahrt meiner Eltern. Mit meinem eigenen Schlüssel schließe ich auf und finde Trishs Bürste und Steves Milchzahn, in Watte eingewickelt, auf dem Esstisch, wie meine Mutter es versprochen hat.
Ich wickele den Zahn aus, betrachte dieses winzige Erinnerungsstück an den Verlust meiner Familie, und neuer Ärger auf Carolyns Mutter wallt in mir auf. Sie hat Steve die Schuld an allem gegeben, was ihrer Tochter zugestoßen ist, ohne die geringste Rücksicht auf meine Gefühle. Ich bin froh, dass meine Eltern ihre Bitterkeit nicht erleben mussten. Aber zumindest haben ihre Worte eines bestätigt. Auch sie glaubt, dass Steve Trishs Vater ist. Warum hat Carolyn Trish also all die Jahre lang belogen? Offensichtlich gab es kaum Kontakt zwischen Trish und ihren Großeltern. Denn sonst hätte Trish schon längst erfahren, dass Steve ihr richtiger Vater war.
Hat Carolyn also auch gelogen, als sie behauptet hat, Trish sei einmal zu ihren Großeltern weggelaufen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mrs. Joseph Bernard dem unehelichen Kind ihrer Tochter irgendetwas anderes als Verachtung entgegenbringt.
Zu viele Fragen und zu wenig Antworten.
Meine Finger schließen sich um den Zahn meines Bruders. Vielleicht kann ich zumindest auf eine Frage eine Antwort bekommen.
Ich habe keine Ahnung, wie man einen Vaterschaftstest durchführen lässt. Ich könnte unsere Hausärztin fragen, aber sie hat mich schon ein paar Mal angerufen, weil mein jährlicher Gesundheitscheck längst überfällig ist, und den werde ich so bald sicher nicht machen. Vielleicht finde ich etwas im Telefonbuch?
Das erste Stichwort, das ich in den Gelben Seiten suche – Gentest –, gibt es nicht. Aber unter »Laboratorien – medizinische« finde ich eine Anzeige mit dem Wort »Vaterschaftstests« in dicken Buchstaben. Ich wähle die kostenfreie Nummer und werde von einer Frau namens »Marty« begrüßt. Ich erkläre die Situation, und die Stimme am anderen Ende antwortet in mitfühlendem Tonfall:
»Es tut mir leid«, sagt sie, »aber es ist so – mit einem Milchzahn können wir nichts anfangen. In Kanada gibt es ein Labor, das solche Tests anhand von Knochen oder Zähnen durchführen kann, aber das ist eine sehr teure Angelegenheit und dauert lange. Und das Haar aus der Bürste ist auch nicht ideal. Wir brauchen mindestens zehn bis fünfzehn Haare mitsamt den Follikeln, und die Probe sollte vor maximal zehn Tagen entnommen worden sein.«
Ich greife nach Trishs Haarbürste. Typisch Teenager, die Bürste sieht aus, als würde sie nie gereinigt – seit sie in Gebrauch ist. In den Borsten haben sich viel mehr als fünfzehn Haare verfangen. Und da Trish erst vor zwei Tagen weggelaufen ist, kann ich annehmen, dass zumindest ein paar davon frisch genug sind.
»Okay, der Zahn nützt uns also nichts. Womit könnten wir es denn noch versuchen?«
Sie erkundigt sich nach den Umständen, unter denen der Vater verstorben ist, und ich erkläre ihr, was Steve zugestoßen ist und wann.
»Hat man Ihnen die Kleidung Ihres Bruders übergeben?«, fragt sie. »Die Sachen, die er zum Zeitpunkt des Unfalls getragen hat?«
Darüber muss ich nachdenken. Ich habe eine vage Erinnerung daran, dass ich mit meinen Eltern nach New York gefahren bin, um Steves Leichnam zu identifizieren. Ich musste auf einem Klappstuhl im kalten Wartezimmer eines Leichenschauhauses irgendwo in der Nähe der Universität warten. Ich schließe die Augen, stelle mir die Szene aus der Erinnerung vor – welche Angst ich hatte, weil meine Eltern so schrecklich aussahen, als jemand sie von mir weggeführt hat, und wie ich mir auf die Lippe gebissen habe, um nicht zu weinen, als sie zurückkamen, Schock und unerträgliche Trauer auf den Gesichtern.
Aber mein Vater hielt etwas in der Hand, als er zurückkam. Er hatte den rechten Arm meiner Mutter um die Schultern gelegt, und in der anderen Hand war irgendetwas.
Eine braune Papiertüte.
Ich muss erst die schrecklichen Bilder abschütteln, ehe ich wieder sprechen kann. »Ich glaube, das könnte sein.«
Die Stimme am anderen Ende klingt weicher. »Wenn Blut daran ist, auch nur der kleinste Fleck, dann können wir das für den Test benutzen. Sofern die Kleidung nicht in Plastikfolie versiegelt wurde, ist die Probe noch brauchbar.«
Ich danke Marty und sage ihr, dass ich mich wieder melden werde, wenn ich die Kleidung gefunden habe. Dann lege ich auf. Ich reibe mir das Gesicht. Ich weiß, wo die Kleider sein müssten, wenn meine Eltern sie nicht weggeworfen haben. Aber die Aussicht, Steves Sachen zu durchsuchen, erfüllt mich mit Grauen, das sich wie Eis in meinem Körper ausbreitet. Das Einzige, was mich schließlich vorantreibt, ist der Gedanke an Trish. Carolyns Mutter, kalt und arrogant, steht mir plötzlich vor Augen. Ich komme nicht dagegen an, ich bin inzwischen fest davon überzeugt: Ich kann Trish nur retten, wenn ich beweise, dass sie Steves Tochter ist, und sie für alle Zukunft von dieser Frau fernhalte.
In Kaliforniern haben die Häuser keine Keller. Deshalb sind es Garagen und Dachböden, die zum Auffangbecken für das Treibgut des Lebens werden, für Dinge, die nur noch einen Schritt davon entfernt sind, im Müll zu landen oder wohltätigen Organisationen gespendet zu werden. Da meine Eltern ihre Garage tatsächlich für ihre Autos brauchen, weiß ich, wo ich nach Steves Sachen suchen muss.
Auf den Dachboden gelangt man über eine herausziehbare Leiter an einer Luke in der Decke des Gästezimmers. Mit einem scheußlichen Gefühl im Magen klettere ich die Streben hinauf. Der letzte Dachboden, auf den ich mich vorgewagt habe, war Averys. Was ich dort gefunden habe, war ein Vorgeschmack auf das, was ich nun für meine eigene Zukunft befürchte – die Überreste seiner Beziehungen zu Sterblichen. Buchstäblich die Überreste. Ich rechne zwar nicht damit, auf dem Dachboden meiner Eltern Leichen zu finden, aber wie in den meisten Familien, kann man dort schon mal über das eine oder andere stolpern.
Es ist heiß auf dem Dachboden. Die Hitze staut sich unter den Dachbalken. Und es ist dunkel, was allerdings kein Problem ist. Ich sehe im Dunkeln sogar besser als bei Tageslicht. Ein Überbleibsel, nehme ich an, aus den Zeiten, als Vampire tatsächlich Geschöpfe der Nacht waren. Ich setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen und balanciere auf den Balken, um nicht etwa durch die Decke zu krachen, falls ich ausrutsche. Hier oben ist nicht viel. Ein Haufen Bettzeug und Vorhänge. Ein paar Bücher, aufgestapelt auf einer Palette. In der Ecke stehen ein paar Kartons.
Ich arbeite mich zu den Kartons vor. Wenn Steves Kleider hier irgendwo sind, dann da drin.
Die ersten zwei, die ich öffne, enthalten Schulkram – alte Jahrbücher, linierte Notizblöcke, Hefter, Zeugnisse mit Klebestreifen am Rand, weil sie mal am Kühlschrank befestigt waren. Ich durchsuche den Stapel und werde ein bisschen traurig. Er hat nie etwas anderes als Einsen bekommen – nie. Als wir noch klein waren, fand ich das sehr nervig. Für mich war eine Eins etwas Besonderes, nicht die Norm. Aber jetzt sind diese Zeugnisse nur ein weiterer Hinweis darauf, was Steve alles Großartiges hätte erreichen können, wenn er nicht gestorben wäre.
Was Trish erreichen könnte, wenn sie die Chance dazu bekommt. Aber ich denke schon wieder zwei Schritte zu weit voraus. Das Wichtigste zuerst.
Im dritten Karton finde ich, was ich suche. Er enthält nur eine große braune Papiertüte. Mit zitternden Fingern rolle ich das obere Ende auf und blicke hinein.
Steves Kleider sind sorgfältig zusammengefaltet. Ich hole ein Hemd heraus, Jeans, Boxershorts, ein Paar Socken. Ganz unten liegen Nike-Turnschuhe mit abgewetzten Schnürsenkeln. An den Schuhen kann ich kein Blut sehen. Jetzt erinnere ich mich: Steve wurde mit solcher Wucht von dem Wagen erfasst, dass er buchstäblich aus den Schuhen geschleudert wurde.
Meine Finger zittern so heftig, dass ich sie verschränke und einen Moment lang zusammenpresse. Dann falte ich vorsichtig ein Kleidungsstück nach dem anderen auseinander und lege sie einzeln auf die Kartons. Jeans, Hemd, Boxershorts. Kein Blut. Das erscheint mir unmöglich. Wie kann man von einem Auto erfasst werden und nicht jede Menge Blut verlieren? Doch dann höre ich auch diese Worte in mir widerhallen: innere Verletzungen.
Als Letztes nehme ich mir die Socken vor. Die linke hat ein ausgefranstes Loch, wo ein Stück herausgeschnitten wurde. Ich spüre ein aufgeregtes Kribbeln. Die Polizei muss dieses Stückchen für den Prozess gegen den Fahrer gebraucht haben. Aber dazu ist es dann doch nicht gekommen. Der Fahrer hat ein volles Geständnis abgelegt und dafür einen guten Deal bekommen. Wegen seines jugendlichen Alters bekam er zwei Jahre in einem Jugendknast aufgebrummt, und fünf Jahre Bewährung.
Was bedeutet, dass er jetzt irgendwo da draußen ein Leben lebt, das er meinem Bruder gestohlen hat.
Aber wenn ich darüber nachdenke, werde ich nur wieder wütend. Im Moment gibt es wichtigere Dinge, über die ich mich aufregen sollte.
Die rechte Socke ist in der Mitte gefaltet. Ich brauche sie nicht einmal auseinanderzufalten, um zu finden, was ich suche. Da ist ein Fleck, alt und braun, am Bündchen, und ein weiterer an der Ferse.
Blut, sogar längst getrocknetes Blut, ruft bei einem Vampir eine instinktive Reaktion hervor. Sie ist unwillkürlich und nicht kontrollierbar. Es ist das Blut meines Bruders, das ich an dieser Socke »spüre«. Trotzdem lässt es mich mit den Zähnen knirschen und löst eine Gier aus, gegen die ich ankämpfen muss. Ich halte mir die Socke vors Gesicht und sauge tief die Luft ein, weil ich gar nicht anders kann. Sie riecht nach Salz und Erde und der Essenz dieses Lebens. Meine Nerven brennen vor Hunger.
Also tue ich das Einzige, was ich tun kann. Ich warte, bis der Durst nachlässt. Dann, endlich, lege ich Steves Kleider zurück in den Karton und schließe ihn. Die Socke stecke ich in dieselbe braune Tüte, die meine Eltern vor so vielen Jahren mit nach Hause gebracht haben.
Ich muss damit aufhören, Erinnerungen nachzuhängen, und mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt. Das wollte Avery mir begreiflich machen. Und Culebra. Als Vampir werde ich ewig dieselbe bleiben. Meine menschliche Familie aber nicht. Irgendwann, wenn allzu offensichtlich wird, dass ich nicht altere, werde ich sie verlassen müssen. Dann werden meine Eltern erneut gezwungen sein, den Verlust eines Kindes zu ertragen.
Diesmal werden sie mich verlieren.
Trish muss Steves Kind sein.