Kapitel 35

Ich schließe die Tür, bevor ich Ryan aus dem Schlafzimmer rufe.

»Wer waren die?«, fragt er sofort. »Und warum haben sie solche Sachen über Mr. Frey gesagt?«

Er sieht verängstigt und ein bisschen verwirrt aus. »Sie sind FBI-Agenten. Sie glauben, Mr. Frey hätte etwas damit zu tun, was Trishs Mutter und Barbara zugestoßen ist.«

Er runzelt die Stirn. »Wie kommen sie denn darauf?«

»Das ist eine lange Geschichte, Ryan. Und sie ist nicht wichtig, weil ich weiß, dass er nichts damit zu tun hat. Das Problem wird nur sein, es zu beweisen.«

Und es gibt noch ein Problem, nämlich Ryan nach Hause zu bringen, ohne dass die beiden uns folgen. »Ich fahre dich jetzt besser nach Hause. Wir müssen die Hintertreppe nehmen. Den Aufzug und die Haustür beobachten sie bestimmt.«

»Aber Ihr Auto steht vor der Tür.«

Ich lächle ihn an. »Ich habe noch ein Auto. Das benutze ich meistens zur Arbeit. Es steht in der Tiefgarage. Ich denke, wir können dich auf dem Rücksitz verstecken und uns rausmogeln, ohne dass sie etwas bemerken.«

Er schiebt den Laptop in seinen Rucksack und hängt ihn sich über die Schulter, während ich meine Jeansjacke aus dem Schrank hole und über mein T-Shirt ziehe.

»Ich wünschte, ich könnte mit Trish reden«, sagt er leise.

Ich greife nach meiner Handtasche und krame den Autoschlüssel heraus. »Das wirst du, Ryan. Bald. Versprochen. Jetzt bringe ich dich nach Hause und rufe meinen Freund bei der Polizei an. Er wird uns sagen, was wir tun müssen, um herauszufinden, wem dieser Computer gehört. Vielleicht ist es dazu notwendig, dass du ihm den Laptop übergibst. Wärst du damit einverstanden?«

Ryans Mund ist ein schmaler Strich der Entschlossenheit. »Wenn wir dann Trish zurückbekommen, ja. Aber er darf den Laptop nicht behalten. Niemand darf ihn behalten. Wenn wir diese Kerle kriegen, werde ich ihn zerstören, damit nie wieder jemand sehen kann, wozu sie Trish gezwungen haben.«

Ich bringe es nicht über mich, ihn daran zu erinnern, dass die Videos längst im Netz stehen. Wir können nur hoffen, dass sie im Meer der zahllosen Pornos untergehen, die im Internet zugänglich sind, und irgendwann niemanden mehr interessieren. Und dass die Drecksäcke, die sich diesen Mist herunterladen, erwischt und eingesperrt werden – in einer Zelle mit einem Riesen namens Bubba.

Der Flur ist leer, als wir meine Wohnung verlassen. Ich führe Ryan zur Treppe am Ende des Ganges. Wir schaffen es ohne jeden Zwischenfall in die Tiefgarage.

Mein anderes Auto ist ein Ford Crown Victoria. Dieses Modell fahren auch die meisten Polizisten. Ryan steigt hinten ein, und ich verstecke ihn unter einer alten Decke. Im Kofferraum habe ich aus beruflichen Gründen immer ein paar praktische Requisiten, eine lange, braune Perücke, eine riesige Sonnenbrille mit auffälligem Rahmen, einen Strohhut. Ich ziehe alles an. Instant-Verkleidung.

Als wir aus der Tiefgarage fahren, stehen die Blues Brothers in ihrem alten Fairlane direkt gegenüber von meinem Jaguar. Ich hätte sie fragen sollen, was für ein Budget ihre Abteilung eigentlich hat, dass sie so eine alte Mühle fahren müssen. Aber vielleicht ist es ja auch ihre besonders schlaue Vorstellung von Unauffälligkeit, einen so ungewöhnlichen Wagen zu fahren. Jedenfalls ist das kein typisches Bullenauto.

Ich werde mich danach erkundigen, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Diesmal jedoch ist ihr seltsames Auto das Einzige an ihnen, was man vielleicht als schlau betrachten könnte. Sie widmen mir kaum einen beiläufigen Blick, als ich an ihnen vorbeifahre.

Sobald wir in sicherer Entfernung von meiner Wohnung sind, frage ich Ryan nach seiner Adresse. Er wohnt gar nicht weit von meinem Strandhaus in Mission Bay, etwa drei Kilometer entfernt. Ich setze ihn eine Querstraße vor seinem Zuhause ab, direkt vor dem Mission Café.

Als er unter der Decke hervorkrabbelt und mein Aussehen bemerkt, macht er große Augen. Dann grinst er. »Ziemlich gute Verkleidung. Sie müssen sich wohl öfter vor solchen Kerlen davonschleichen?«

Da ich nicht genau weiß, wie er das meint, und es ganz sicher nicht wissen will, reagiere ich lieber nicht darauf.

»Denk daran, du musst sehr vorsichtig sein, Ryan«, sage ich zu ihm, als er aussteigt. »Halte deine Hunde immer schön in deiner Nähe.«

Das Grinsen verschwindet. »Keine Sorge. Ich bleibe heute Abend zu Hause. Mit den Hunden. Vergessen Sie nicht, mich anzurufen, wenn Sie mit Ihrem Freund gesprochen haben.«

Ich nicke und sehe ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden ist. Dann greife ich nach meinem Handy.

Als ich versuche, Williams im Büro zu erreichen, sagt man mir, er hätte schon Feierabend gemacht. Vermutlich hat er es satt, nach Mrs. Bernards Pressekonferenz von Reportern gelöchert zu werden. Bei Frey geht auch niemand ans Telefon.

Ich überlege, ob ich mich mal bei meiner Mutter melden sollte, als das Handy klingelt. Ich werfe einen Blick auf die Nummer des Anrufers.

»Gutes Timing, Mom. Ich wollte dich gerade anrufen.«

»Ich habe den ganzen Nachmittag lang versucht, dich zu erreichen. Dein Telefon war ständig besetzt. Die Polizei war hier, Anna.«

Ihr Tonfall ist vorwurfsvoll, ihre Aussprache knapp, als müsse sie sich bei jedem Wort beherrschen, um sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen.

Ich versuche, ihre Feindseligkeit durch aufrichtige Neugier zu besänftigen. »Geht es um Barbara?«

»Und um Carolyn. Warum hast du mir nicht gesagt, dass Trishs Mutter ermordet wurde?«

Genervt schließe ich die Augen. »Das hätte ich tun sollen, Mom, du hast recht. Es tut mir leid.«

»Die Polizei glaubt, du hättest etwas damit zu tun. Du und Daniel Frey. Und ein Lehrer hat mir gesagt, er hätte gesehen, wie du und Frey heute Nachmittag zusammen die Schule verlassen habt. Ist das wahr?«

Irgendetwas am missbilligenden Tonfall meiner Mutter macht es mir unmöglich, sie anzulügen – zumindest in dieser Sache. »Ja. Ich habe Frey heute Nachmittag abgeholt.«

Sie zieht scharf den Atem ein. »Weiß er, wo Trish ist? Weißt du es?«

O Gott, was jetzt? Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird sie mich zwingen, damit zur Polizei zu gehen. Wenn ich lüge, wird sie es dank mütterlicher Intuition sofort merken, und ich hätte bei ihr wohl endgültig verschissen.

»Mom, diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Noch nicht. Du musst mir noch ein bisschen Zeit geben, das zu regeln.«

»Was regeln?«

»Bitte. Vertrau mir einfach. Du weißt, dass ich nie das Leben eines Kindes gefährden würde. Ich habe mit der Polizei gesprochen. Die glauben jetzt nicht mehr, dass ich etwas damit zu tun hätte.« Nur die halbe Wahrheit. Das FBI hält mich für eine Hauptverdächtige. Deshalb füge ich hinzu: »Es könnte sein, dass sich noch zwei Agenten bei dir melden.«

Wieder atmet sie zischend ein. »Du meinst diese beiden Gestalten vom FBI?«

Ich beiße die Zähne zusammen. »Haben sie sich etwa schon mit dir in Verbindung gesetzt?«

»Allerdings. Die Agenten Donovan und Bradley haben mich in der Schule aufgesucht. Sie haben mir den Eindruck vermittelt, du und Frey wärt ein Liebespaar. Möchtest du mir das vielleicht erklären?«

Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. »Es tut mir leid, Mom.«

»Mir auch, Anna. Ich bedaure es, zugelassen zu haben, dass du in all das verwickelt worden bist.«

Ich höre die Enttäuschung in ihrer Stimme und winde mich förmlich auf meinem Autositz. Eine Weile herrscht Schweigen, dann ergreift sie wieder das Wort.

»Ich gebe dir noch vierundzwanzig Stunden. Bis dahin musst du Trish hierherbringen, Anna. Es ist mir egal, wie du das anstellst. Aber ich will dieses Kind sicher und wohlbehalten hier zu Hause haben, wo es hingehört. Ist das klar?«

Sie wartet meine Antwort nicht ab. Das ist auch nicht nötig. Sie legt auf, und ich fühle mich wie versengt von ihrem hitzigen Befehl.

Lockruf des Blutes
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