8 Der Rote Rabe glitt in leichter Schräglage durch die Wellen und die frühe Morgensonne sorgte bereits für eine wohlige Wärme an Deck, wärmer, als man es von einem Maitag auf dem Meer erwarten würde.
Corin lag mit sauber verbundenem Arm im Käfig und schlief, eine blaue Strickdecke mit fremdartigen Schriftzeichen hatte ihn vor der Kälte der vergangenen Nacht geschützt.
Viel war noch nicht los an Deck. Weit hinten auf dem Kastell am Heck des Schiffes lehnte der Steuermann dösend an der Ruderanlage, ein zweiter Pirat hatte es sich daneben auf dem Holzboden gemütlich gemacht. Ein dritter Mann war dabei das Hauptdeck zu schrubben, Essensreste und kleine, fiese, undefinierbare Häufchen missmutig über Bord zu fegen.
Eine der unteren Türen des Kastells schwang auf und Broklas trat auf das Hauptdeck. Er blickte hoch in den blauen Himmel und grinste. »Ha!«, begrüßte er den Morgen überschwänglich und sog die frische, würzige Seeluft tief in seine Lungen. »Guten Morgen«, begrüßte Broklas den zur Arbeit verdonnerten Piraten freundlich und dieser murmelte einen unverständlichen Gruß zurück, fegte das letzte Häufchen Undefinition über Bord und trottete dann mit dem Besen in der Hand in Richtung Bugkastell55.
Eine Elfenbeinmöwe kam angeflogen und setzte sich auf Corins Käfig. Ein paar Mal tapste sie hin und her, und starrte Broklas aus ihren glühenden, bernsteinfarbenen Knopfaugen an. »Guten Morgen«, grüßte Broklas den Vogel mit einem Augenzwinkern und hob die Hand. »Kiah«, erwiderte die Möwe den Gruß ebenso freundlich und entschied sich dann ein Stockwerk tiefer ihr Frühstück einzunehmen. Mit einem Hopser und einem Flügelschlag war das Tier vom Dach des Käfigs hinter das Gitter gesprungen, watschelte zu Corins rechtem Fuß, der unter der seltsamen Strickdecke herauslugte, und musterte einen äußerst appetitlichen großen Zeh.
»Aiii!«, brüllte Corin aus Leibeskräften. Es folgte ein dumpfes Bonk und ein jämmerliches »Oohuuu!«. Corin rieb sich den Kopf mit der einen und den Zeh mit der anderen Hand. Seine noch von Träumen befeuerte Fantasie versuchte sich in Windeseile einen möglichst fiesen, hässlichen, vorzugsweise stinkenden und starke Schmerzen verursachenden Gegenstand auszumalen, den er dem blöden Vieh, das gerade eben davon flog, hinterher werfen könnte. Aber für die Durchführung mangelte es ihm ohnehin an einem dritten Arm.
Corin murmelte ein paar Flüche und bemerkte schließlich das Wiehern hinter sich an Deck. Er drehte sich um und sah Broklas, der sich schüttelte vor Lachen und sichtbar mit seiner Fassung rang. »Einen schönen guten Morgen, Corin«, prustete der Wissenschaftler und kam ein paar Schritte näher an den Käfig heran, »ich hoffe, du hast gut geschlafen?«. Corins Antwort war glücklicherweise unverständlich, aber lautmalerisch dem Terminus Zwangskastration nicht unähnlich.
Broklas nahm einen Eimer, kicherte noch ein wenig, versicherte sich schnüffelnd, dass der Eimer tatsächlich frisches Wasser und nicht das Gegenteil enthielt, kicherte ein wenig weiter, und baute sich dann direkt neben Corins Käfig auf, den Eimer auf eine der Kisten platzierend, die auch Corins Gefängnis trugen. Dann nahm er mit beiden Händen eine Ladung Wasser, kicherte immer noch und wusch sich das Gesicht.
Johan betrat mit einem großen Keramiktopf das Hauptdeck und nahm direkten Kurs auf Corins Käfig. »Guten Morgen, großer Zauberer«, hofierte Johan den Schotten zur Begrüßung und war schon dabei eine Portion grauen Schleim in eine Holzschale zu füllen. Broklas erwiderte den Gruß in aller gebotenen Höflichkeit mit einem zuckersüßen »halt die Schnauze, Johan«, und schob ein schmieriges »Guten Morgen« hinterher. Broklas hasste es, als Zauberer bezeichnet zu werden.
Johan beachtete den Wissenschaftler nicht weiter und schob die Holzschale in Corins Käfig. »Frühstück«, kommentierte Johan mit einem freundlichen Lächeln und machte sich mit dem Keramiktopf davon.
Corin starrte auf das Zeug in der Holzschale und wartete darauf, dass es sprechen, schreien, jammern, sich bewegen, oder aufgrund seiner elenden Existenz Selbstmord begehen würde. Aber das hatte der Schleim entweder schon getan oder er stellte sich für den Augenblick tot. »Das ist sehr gesund«, erklärte Broklas stolz. »Nach meinem Rezept«. Corin schüttelte die Schale ein wenig um das Zeug zu animieren, seine wahre Natur zu zeigen. »Oh mein Gott«, skandierte56 er schließlich, »aus welch armer Kreatur habt ihr das herausgepresst?«.
Broklas sah Corin ein paar Augenblicke mit mürrisch zusammengekniffenen Augen an, dann nahm er einen Beutel unter seinem weiten, roten Gewand hervor, und streute unter Corins neugierigen Blicken ein graues Pulver auf den eigenen Zeigefinger. Vorsichtig nahm Broklas den Finger hoch in den Mund und begann sich mit dem Pulver die Zähne zu putzen57.
Das wäre die Gelegenheit für das Zeug in Corins Frühstücksschale gewesen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, denn Corin verfolgte jede kleine Bewegung von Broklas mit konzentriertem Staunen.
»Ersht esshen, dann Shäne putshen«, mahnte Broklas und zeigte mit der freien Hand auf die Schale, »gilt auchsh für disch!«. Corin gehorchte und begann, den grauen Schleim herunterzuwürgen.
»Was habt Ihr gemacht, bevor die Piraten Euch erwischt haben?«, verschaffte sich Corin eine kleine Schleimpause. »Oh!«, antwortete Broklas und spülte das Marmorpulver aus seinem Mund, »ich war der Hofastronom der Königin von Dänemark«. »Ihr kennt eine Königin?«, ereiferte sich Corin und war Feuer und Flamme. »Höchstpersönlich«, erwiderte Broklas und wurde ein Stück größer, als er ohnehin schon war. »Ich kannte sie schon, als sie noch sooo klein war«, führte er weiter aus und deutete mit Daumen und Zeigefinger eine lächerlich winzige Form an. »Meine Güte, wie viele Streitgespräche wir hatten, Philosophie, die Wissenschaften, Theologie«, kamen Broklas uralte Erinnerungen, »und sie hat sie verdammt noch mal alle verloren! Ha!«. Broklas lachte und sein Blick blieb in der Ferne haften.
Das Lachen verstummte und Broklas räusperte sich. Sein Unterkiefer mahlte, als alte Gedanken vorbeizogen, wieder verschwanden und neue ihren Platz einnahmen. »Wir waren auf dem Weg nach England«, fuhr der Wissenschaftler schließlich fort, »ohne Margarete an Bord. Und – pang – haben sie uns erwischt«.
»Wie ist sie denn so?«, wollte Corin wissen. »Margarete?«, fragte Broklas rhetorisch und nickte nachdenklich. »Nun ja. Sie ist schlau. Sie ist fromm, soweit man das als erfolgreicher Herrscher eben sein kann. Liebt ihr Land und ihr Volk. Eine ungeheure und unbändige Kraft steckt in ihr, die sie alle Widrigkeiten überstehen lässt«. Broklas sah Corin an und das Blitzen in Corins Augen verriet ihm, dass er jetzt nicht aufhören durfte zu erzählen.
»Mit zehn hat man sie dem norwegischen König zur Frau gegeben, der ist prompt gestorben und bums – war sie Regentin von Norwegen. Dann starben ihre Eltern und ihr Bruder und bums – machte sie sich zur Königin von Dänemark. Dann starb ihr einziger Sohn, Olaf, und sie adoptierte einen entfernten Verwandten um das Thronerbe zu sichern. Dann starb der schwedische König, ohne Erbe, und Margarete quatschte die schwedischen Adligen rund, besser sie auf den Thron zu setzen, als das Haus Mecklenburg und bums – hatte sie auch noch die schwedische Krone«.
»Da wurde aber viel gestorben«, resümierte Corin leise und senkte seinen Blick auf die mittlerweile fast leere Holzschüssel.
Broklas nickte stumm.
»Das ist unglücklicherweise eines der großen Probleme der Menschheit, Corin«.