6 Es flackerte.

Hell, dunkel. Hell, dunkel.

Ein helles Licht kam und ging, und mit dem Licht kam die Wärme. Mit dem Dunkel kam die Kälte zurück.

Kalt, warm. Kalt, warm.

Er spürte weiches, morsches, feuchtes Holz. Das Brett unter seiner Hand war ganz riffelig, die festen Strukturen bildeten mit den verwitterten ein mäanderndes Linienmuster. In den tieferen, verrotteten Konturen des Brettes hatte sich Wasser gesammelt. Hoffentlich war es Wasser.

Es roch. Das faulende Holz, zum einen. Es stank aber nicht, im Gegenteil. Es duftete fast, ein herber, würziger Geruch, holzig eben.

Hell, dunkel. Hell, dunkel. Warm, kalt. Warm, kalt.

Da waren noch mehr Gerüche. Es roch nach salziger Luft. Und nach Blut.

Blut, dachte Corin. Hatte er wieder Nasenbluten gehabt, in der Nacht. Mist. Er würde das Bett neu beziehen müssen. Aber besser ein rotes Laken als ein gelbes Laken.

Das Holzbett.

Moment Mal, da war ja gar kein Bett! Hatte er wieder alles weggestrampelt, bis dieses Mal nur der nackte Rahmen übrig geblieben war. Soweit musste es ja mal kommen. Er würde sicher eines Nachts im Schlaf das ganze Bett und den Fußboden dazu wegstrampeln. Und dann ein Stockwerk tiefer bei den Webstühlen landen. Vielleicht lag er ja schon auf einem Webstuhl? Vielleicht wurde er gerade zu einem schönen Unterrock verwebt? Hm. Er bewegte einen Finger, um den Webstuhl abzutasten. Die Augen könnte er später immer noch öffnen.

Ein Schmerz durchfuhr ihn in dem Augenblick, als er den Finger rühren wollte. Sein Arm schmerzte. Sein ganzer verdammter Kopf schmerzte. Sein Rücken schmerzte. Was zum Teufel war denn jetzt schon wieder los! Hatte sich Jonathan irgendeinen Racheplan ausgedacht, dafür, dass Corin ihm die verrückte alte Ente aus dem See ins Bett gelegt hatte? Okay, das Vieh war bissig und toll, und vielleicht auch ein bisschen inkontinent43, gut, ein bisschen sehr inkontinent, aber das war doch nicht so schlimm. Und zudem schon ein Jahr her. Und das Vieh war auch kein Igel gewesen.

Autsch, dachte Corin, als sein Zeh in einer Intensität schmerzte, die ihn seine anderen Wehen prompt vergessen machte. Er assoziierte den Schmerz irgendwie mit spitzen, metallenen und ziemlich gemeinen Dingen. Corin würde jetzt wohl oder übel die Augen öffnen müssen, um Jonathan endlich Einhalt zu gebieten.

Corin würde es mit dem rechten Auge versuchen. Ja, ein guter Plan, das rechte Auge war jenes, welches weiter von dem Holzding, auf dem er lag, weg war und würde ihm einen großartigen Überblick verschaffen.

Langsam öffnete er die Lider. Alles war verschwommen. Und so hell, dass Corin gar nichts erkennen konnte.

Aber jetzt wurde es wieder dunkler. Da war was an seinem Fuß! Das war doch sein Fuß? Ja, das war sein Fuß! Und daneben stand ein… ein Ding. Das Ding hatte zwei Beine und einen… das Ding war ein Vogel, eine verdammte Möwe.

Die Elfenbeinmöwe44 betrachtete Corins Fuß, als sei der etwas ganz besonderes. Etwas ganz besonders Leckeres. Und schon hackte die Möwe wieder zu, schnappte direkt nach seinem großen Zeh.

»Aua!«, schrie Corin laut, jedenfalls wollte er es laut schreien, heraus kam ein heiseres, röchelndes »hiihaa!«, von dem Corin hoffte, dass es in der Sprache der Elfenbeinmöwen nicht bedeutete, »lass es dir schmecken, liebe Möwe, und nimm gerne noch einen zweiten Zeh und hoffentlich hast du dir auch den Schnabel geputzt und die Schwimmhäute gewaschen«. Corin schnellte hoch, wild mit den Händen Richtung Füße wedelnd. Ein lustiges Schmerzpotpourri durchfuhr ihn in einer Gewalt, die ihm schier den Atem verschlug. Corins Rücken, seine Zehen, seine Beine, seine Arme, gab es irgendein verdammtes Körperteil, das nicht schmerzte? Sein Kopf war allerdings der ungeschlagene Sieger in diesem Kontest45 der Wehen, nicht nur wegen der dumpfen Schmerzquellen überall in Gesicht und Nacken, sondern vor allem, weil er soeben mit voller Wucht gegen einen Holzbalken geknallt war, der es wagte, Corin Giles in die Quere zu kommen.

Corin fiel zurück auf den Boden, schlug schützend die Arme über den Kopf und wimmerte vor Schmerzen. Er öffnete beide Augen. Sein Blick wurde langsam klar. Zu seinen Füßen sah er keine Möwe mehr, nur seinen blutigen, aber glücklicherweise vollständigen, großen Zeh. Dahinter ein paar Metallstangen. Corin blickte nach links. Metallstangen. Er blickte nach rechts. Metallstangen. Er blickte nach oben. Holzdecke. Sehr, sehr niedrige Holzdecke.

Das war ein Käfig! Corin war in einem Zwinger gefangen, der etwa eineinhalb Mannslängen im Quadrat an Grundfläche maß, vielleicht drei Fuß hoch war und auf einigen Kisten in nochmals rund drei Fuß Höhe stand.

Es schaukelte. Die Sonne schien immer mal wieder in seinen Käfig hinein, dann wurde sie wieder durch die Oberseite des Käfigs verdeckt. Er hörte die Wellen und er spürte leichten Wind über sein Gesicht streichen.

Er saß in einem Käfig an Deck eines Schiffes, eines sehr großen Schiffes sogar. Er war auf dem Meer! Er war nicht zuhause! Er war mit Vater und Jonathan… Gott im Himmel, Vater war tot! Jonathan war tot! Beide ermordet! Da waren Piraten gewesen! Kämpfe!

In Panik griff Corin nach den Gitterstäben. »Hilfe!«, brüllte er heiser und rüttelte. »Hilfe!«, brüllte er wieder und wieder, verzweifelt, und seine Stimme wurde lauter und fester. Aber niemand nahm ihn wahr. Da hinten waren Leute! Corin beruhigte sich wieder. Weit hinten, auf dem erhöhten Deck der Heckaufbauten, standen vier Personen zusammen. Wer war das?

»Ah!«, krächzte eine helle Stimme neben Corin. Corin wirbelte herum. Direkt neben seinem Käfig stand ein dürrer, alter Pirat mit riesigen, hellen Augen. Corin erkannte den Mann sofort als die alte Krähe, die er als erstes besiegt, aber nicht getötet hatte. »Das Abendessen ist wach geworden«, knarrte der Pirat weiter, »mhmm, ich hoffe du schmeckst gut, Kleiner«. Mit einer leeren Schwertscheide pikste der Alte Corin durch die Stäbe hindurch in die Seite und gackerte dabei so wundervoll röchelnd, dass die Strandhexen der näheren Umgebung in Erwartung eines heißen Rendezvous sicherlich gerade ein paar weitere Schönheitswarzen auflegten und die Nasenhaare adrett zurechtkämmten.

Mit einem schnellen Griff riss Corin die Schwertscheide heran und warf sie hinter sich in den Käfig. »Wie komme ich hier rein?«, fauchte er und seine blauen Augen funkelten wie zwei polierte Lapislazuli46-Steinchen im Vollmond. »Was mache ich hier drinnen? Was ist aus der Maria geworden?«. Der alte Pirat schien von Corins Energie beeindruckt. Die Krähe zuckte mit den Achseln und sein zaghaftes Lächeln hätte man glatt für eine Art Entschuldigung halten können, als er die rechte Hand hob und diese mit einem gurgelnd-schnalzenden Geräusch langsam wankend nach unten führte; was wohl heißen sollte, dass die Maria Van Brügge untergegangen war.

Corin packte erneut die Gitterstäbe und rüttelte mit aller Macht. »Was habt ihr mit meinem Vater gemacht und mit meinem Bruder?«, schrie er und spürte eine heiße Träne über seine Wange laufen, ein Affront47, denn er hatte seinen Tränendrüsen bereits vor einigen Monaten den unmissverständlichen Befehl erteilt, jegliche Arbeit bis auf schriftlichen Widerruf einzustellen. »Widerliches Pack«, klagte er, und seine Stimme brach. »Der Teufel soll euch die Herzen herausreißen und auf kleiner Flamme rösten«, quietschte Corin und sein Gesicht brannte glutrot, »und dann soll er, soll er eure Hirne, soll er, und ewig«. Das Stammeln versiegte. Corins Kopf sank nach unten und die Tränendrüsen übten sich nochmals in Befehlsverweigerung. Der junge Giles konnte nicht sehen, wie das Gesicht der alten Krähe länger und länger, und die runden Augen größer und größer wurden.

»Nanana«, brummte eine tiefe Stimme von der anderen Seite des Käfigs, »wenn du so weiter schreist, fallen noch die Möwen vom Himmel«. Corin sah auf. Ein Schrank von einem Mann mit blondem, krausen Haar, Vollbart und blitzenden, blauen Augen hatte sich zusammen mit einem sonnengegerbten schlanken Kerl neben dem Käfig aufgebaut. »Ganz schön lautes Abendessen«, murmelte die Krähe schniefend, aber niemand wollte das hören. Der Schrank lächelte Corin an, der sich mit dem Ärmel seines löchrigen Hemdes das verrotzte Gesicht abwischte.

»Warum habt ihr mich nicht umgebracht«, wollte Corin von dem Schrank wissen und seine Stimme klang nun wieder bissig und laut, »so, wie all die anderen?«. Wieder packte Corin die Gitterstäbe und rüttelte daran wie ein Berserker, sehr zum Vergnügen des Schranks. »Temperament: Ja«, bestätigte der große Mann leise seinem Begleiter, ohne Corin aus seinem Blick zu entlassen, »aber ein guter Kämpfer?«. »Ich habe es selbst gesehen«, gab der Schwarzhaarige ebenso leise zurück und die Krähe drängelte sich mit einem schrillen »ich auch!« in die Unterhaltung, wurde aber wieder ignoriert.

»Mörder!«, begann Corin erneut zu schluchzen, »ihr seid Mörder! Mögen eure modrigen, verpopelten Seelen für immer in der Hölle brennen! Verflucht sollt ihr sein, stinkendes Seeräuberpack«.

Die linke Pranke des großen Mannes schoss hervor, durch die Gitterstäbe, packte Corin am Kragen und riss ihn dicht an die Gitterstäbe, so dass sein Gesicht fest zwischen zwei Gitterstäben gezwängt wurde. Das runde Antlitz des Schranks kam Corin sehr nah. »Gottes Freund und aller Welt Feind«, brummte er Corin mit einem verschmitzten Lächeln an, »das sind wir, mein Junge. Wir nehmen es den gierigen Kaufleuten, denn reichen Hansen, denn fetten Dänen und den aufgeblasenen Engländern«. Corin wagte keinen Widerspruch. »Und wir teilen gleichsam zwischen uns und den Armen«, beendete der Hüne seine kleine Ansprache. Corin fühlte sich wie ein auf den Grillrost gepresstes Hühnchen, welches man leider vor der Zubereitung vergessen hatte zu rupfen und welchem man aus Schusseligkeit immer noch nicht die Kehle durchschnitten hatte.

Teufel auch, dachte Corin, das ist ein echter Pirat. Ein wirklicher, echter Pirat.

»Wir sind im Namen des Herren unterwegs«, unterbrach die Krähe Corins verquere Gedanken. Der Dürre hielt sich aber schnell den Mund zu, als der Schrank ihn mit einem mahnenden Blick zum Schweigen brachte.

Der große Pirat lockerte seinen Griff an Corins Kragen, als er durch eines der Löcher in der Kleidung seines Gefangenen etwas entdeckte. Mit seiner rechten Pranke griff er durch die Gitterstäbe und umklammerte Corins linken Arm. Durch den Riss in der Kleidung über einer langen Schnittwunde war deutlich der aufgemalte Piratenkopf zu sehen, den Corin vor wenigen Tagen im Spiel auf seinen Arm gepinselt hatte. Der Schrank stutzte, drehte den Arm etwas unsanft in Richtung zu seinem schlanken Begleiter und beide fingen dröhnend an zu lachen.

Zorn pochte wieder unter Corins Schädeldecke, aber im Griff dieser Schraubzwingen vermochte er sich keinen Deut zu rühren.

Der Hüne beruhigte sich langsam und kicherte nur noch. »Broklas!«, donnerte er schließlich über das Deck und entließ Corin aus seinem Zangengriff, »wo treibst du dich wieder rum, alter schottischer Zauberer?«. Und schon stampfte er mit seinem Begleiter im Schlepptau über das Deck gen Schiffsbug.

Corin sah dem Schrank noch eine Weile hinterher. »War das der Schiffsherr?«, fragte Corin leise die Krähe, die immer noch in seiner Nähe am Käfig stand. »Das war Claas, unser Kapitän«, gab die Krähe hilfsbereit Auskunft, »und Ole, der Bootsmann. Einen Schiffsherrn48 haben wir nicht. Es ist unser Schiff. Der Rote Rabe«. Corin musterte den Alten. Da hätte er fast Lachen können, dass eine alte Krähe auf einem Roten Raben fuhr. Aber der Witz kam nicht viel höher als sein Bauchnabel. Ein paar Klauen extrem schlechter Laune packten den arglosen Witz und drehten ihm den Hals um.

»Ich bin übrigens Thore«, fügte die Krähe glucksend hinzu. Corin ignorierte Thores Vorstellung und merkte auf, als er am Ende des Decks einen älteren Mann aus den Kammern des hinteren Kastells herauskommen sah. Der Mann war auch von weitem nicht zu übersehen, hatte er doch einen großen, grauweißen Bart und trug ein langes, leuchtend rotes Gewand. Corin kam sofort ein mystischer Zauberer in den Sinn und wartete gespannt, ob aus dem Heckkastell nun Einhörner, Zwerge oder Drachen folgen würden.

»Wer ist das?«, wollte Corin von Thore wissen, ohne den Blick von dem Zauberer abzuwenden. »Das ist Broklas«, gab Thore freudig Antwort, »wir haben ihn vor bald zwei Jahren gefangen genommen, als wir ein Schiff aus dem Gefolge der dänischen Königin kapern konnten. Das war eine tolle Schlacht, sag ich dir, wir sind mitten...«. Corin unterbrach ihn mit einer Handbewegung und hatte schon die nächste Frage parat: »Gefangen? Er sieht nicht aus wie ein Gefangener«. Thore kratzte sich am Kinn und zog die grauen Brauen über den riesigen Augen hoch. »Na ja, ist er auch nicht wirklich«, versuchte er zu erklären, »er kann sich an Bord frei bewegen und Claas gibt ihm manchmal sogar einen Anteil der Beute.«

Corin musterte Broklas, der weiter hinten an Deck offensichtlich irgendetwas suchte, immer noch. »Was ist so besonders an ihm?«, wollte Corin wissen. »Oh!«, machte Thore und legte etwas Geheimnisvolles in seine knarzige Stimme, »er ist ein Hexenmeister, er stammt aus dem Nebelgebirge ganz weit im Norden Britanniens. Er beherrscht die Sterne und den Mond. Er sagt das Wetter voraus. Er hat einen kleinen Kasten mit einem Kobold, der ihm sagt, wo Norden ist49. Er verbindet die Verletzten. Und er hat jede Menge Pulver und Tinkturen die man nehmen muss, wenn einem der Arsch juckt«.

Broklas und Kapitän Claas waren gerade aufeinander getroffen und redeten miteinander. Corin konnte nichts verstehen, aber er sah Broklas mehrfach wild mit den Armen rudern, was Claas aber völlig unbeeindruckt ließ. Nun schien Claas sogar zu lachen, während Broklas, immer noch wild mit den Armen rudernd, sich fluchend davon machte und über das Deck jagte.

Corin sah wieder Thore an, der das Intermezzo auch interessiert verfolgt hatte. »Wollt ihr mich wirklich aufessen?«, kam Corin auf eine nicht unwichtige Äußerung Thores bezüglich des eigenen Schicksals zurück. Seltsamerweise schien das Thore irgendwie unangenehm zu sein. Er wackelte mit dem Kopf, drehte beschwichtigend beide Hände und seine Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren. »Nein. Natürlich nicht. Nicht wirklich«, beruhigte er Corin, konnte sich ein Witzchen aber doch nicht verkneifen. »Na ja, vielleicht ein Bein. Oder so«, keuchte er augenzwinkernd, und tat das, was Corin künftig lachhusten zu nennen gedachte. Für einen winzigen Moment zuckte auch Corins Mundwinkel. Doch sein Magen rebellierte umgehend und befahl irgendeinem Henkersknecht in seinem Kopf, das sich ankündigende Lächeln auf der Stelle festzunehmen und hinzurichten. Der Befehl wurde pflichtbewusst ausgeführt.

»Thore!«, rief Broklas von weitem und das R im Namen der Krähe rollte mit voller Kraft voraus. Hektisch kam der Alte angelaufen und sein rotes Gewand flatterte im Wind. Gerade wollte Broklas auf Thore einreden, da bemerkte er Corin in seinem Käfig. Verblüfft musterte Broklas erst Corin, dann den Käfig und schließlich wieder Corin. »Oh«, machte der Schotte entschuldigend und reichte Corin die Hand, »einen guten Tag mein Freund!«. Völlig baff ergriff Corin die große Pranke und schüttelte sie zweimal schlaff. Der Zauberer lächelte freundlich und wandte sich dann wieder an die Krähe, der er allerdings kein Lächeln zu schenken gedachte. »Thore«, nörgelte er mit seinem schottischen Akzent, »ich brauche die Holzkiste mit dem großen Astloch, die hier immer stand«. Broklas ließ seine Arme umherzeigen, wie zum Beweis, dass die Kiste verschwunden war. »Der Kapitän will nach Gotland zurückkehren und ich soll mein Experiment einpacken«, berichtete der Alte und die Worte sprudelten immer schneller, »Pah! Es steht die ganze Zeit hier, sogar wenn sie sich gegenseitig die Kehlen durchschneiden, aber vor Gotland soll es in die Kiste. Das verstehe einer!«.

Thore grinste und hob die Schultern. »Die Kiste liegt unten im Laderaum. Ich kann sie dir holen lassen, Broklas«, versuchte Thore zu beschwichtigen. »Wärst du so nett, ja?«, bat Broklas. Die Krähe nickte bestätigend, drehte sich um und ging davon.

Broklas warf die Arme nach oben und holte tief Luft. »Ein Schiff ist das hier, ich kann dir sagen«, klagte er und sah Corin an, als sei das Martyrium Christi im Vergleich zu seiner Behandlung ein Erholungsurlaub gewesen. »Heute so, morgen so. Aber entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin…« – »Broklas«, beendete Corin den Satz leise. »Mein Ruf eilt mir voraus«, vermutete Broklas korrekt, »und wer bist du, junger Mann?«. »Corin«. »Corin«, sagte Broklas fröhlich, »freut mich sehr dich kennen zu lernen, Corin. Ich hoffe, es lässt sich einigermaßen aushalten, in diesem Ding«. Broklas klopfte gegen die Stangen des Käfigs und Corin nickte zurückhaltend. »Keine Sorge, frieren und hungern lassen die dich schon nicht«, suchte Broklas zu beruhigen und zeigte dann schelmisch auf die beiden Holzeimer, die ebenfalls in Corins Gefängnis standen. »Du musst nur aufpassen, dass du die beiden Eimer nicht verwechselst«, riet er diskret, »der eine ist für oben rein und der andere für unten raus, wenn du verstehst was ich meine«.

Der Junge starrte den Zauberer nach wie vor an. Corins Kinn fing an zu beben und seine Tränendrüsen kosteten ihre neuen Freiheiten aus, indem sie zu einer spontanen Großdemonstration aufriefen.

Ein paar Augenblicke lang studierte der alte Mann Corins Gesicht. »War schlimm für dich, was?«, fragte der Zauberer schließlich. Corin nickte wieder. Salziges Wasser tropfte im Zweitakt seines Herzschlags über das Kinn hinab auf den Käfigboden.

»Oh«, machte Broklas und war sichtlich bewegt, »das ist… das tut mir leid, Junge. Wirklich«. Er nahm Corins Hand und drückte sie.

»Weißt du«, fing Broklas mit verschwörerischem Unterton an und sah sich kurz um, »es gibt nicht viel Gutes über die Leute hier zu berichten, aber, du wirst erstaunt sein, dass viele von ihnen doch ein Herz haben«. Broklas lächelte. »Man braucht eine Weile, bis man es entdeckt, aber…«, ließ der alte Mann den Satz offen und wackelte mit dem Kopf. Das Lächeln war ansteckend und Corin fing es sich ein. Zum zweiten Mal wischte sich der Junge das Gesicht mit seinem zerrissenen Ärmel trocken. Ein drittes Mal, da war sich Corin sicher, und das verrotzte, blutbefleckte Kleidungsstück würde zum begehrtesten Folterinstrument Kontinentaleuropas aufsteigen, dessen Anblick jedem Delinquenten50 sofort in tödlichem Ekelanfall das Hirn verschrumpeln ließ. Corin müsste sich jede Menge sammelwütiger Henker vom Halse halten. Diese Leute wollten ja immer das Neueste vom Neuen haben.

»Ihr seid schon seit zwei Jahren an Bord des Roten Raben, stimmt das?«, fragte Corin leise. Broklas winkte ab, als wolle er unangenehme Erinnerungen verscheuchen. »Mehr als zwei Jahre«, murmelte er. »Anfangs war es…«. Broklas fand keine Worte und holte tief Luft. »Dann gewöhnt man sich irgendwie daran«.

»Warum seid ihr nie geflohen?«, wollte Corin wissen und Broklas war froh über die Fragen des Jungen, denn sie waren klares Indiz, dass es ihm nicht ganz so schlecht ging, wie Broklas im ersten Augenblick befürchtet hatte. »Wann? Wohin?«, stellte Broklas die Gegenfrage. »Die einzigen Schiffe, die ich näher zu sehen kriege, liegen kurz darauf auf dem Meeresgrund. Auf Gotland wimmelt es nur so von Piraten. Dort zu entkommen ist unmöglich«. Der Alte stöhnte, bemerkte dann aber die Schnittwunde an Corins Arm. »Du bist ja verletzt?«, fragte Broklas überflüssigerweise.

»Das ist nichts«, antwortete Corin schüchtern und hielt sich sofort den Arm, um den Totenkopf zu verdecken. »Zeig mal her«, forderte Broklas den jungen Giles auf und sein Ton duldete absolut überhaupt gar keinen Widerspruch.

Der Alte zog Corins Arm aus dem Käfig und krempelte den Hemdsärmel sehr weit hoch. Den Totenkopf ignorierte er einfach, wofür Corin ihm sehr dankbar war. Die lange Wunde blutete zwar im Moment nicht, war aber voll mit frischem Schorf, Dreck und irgendwelchen Sekreten, denen man nicht im Dunkeln begegnen wollte. »Junge, das muss behandelt werden«, stellte Broklas fest und auch jetzt war keinerlei Widerspruch vorgesehen.

Broklas sah sich um, immer noch Corins Arm haltend. Ein dünner, rothaariger Matrose war ein paar Schritte weiter mit dem Sortieren von Tauwerk beschäftigt. »Johan!«, gab Broklas dem Matrosen zu verstehen, dass dieser seine Aufmerksamkeit umgehend auf den Schotten zu richten hatte, »geh und hol mir den roten Beutel aus meiner Kiste. Du weißt schon«. Johan war offensichtlich ein wenig schwer von Begriff, aber Broklas machte ihm mit einem »na los, beweg dich!« erfolgreich Beine.

Corin war baff. So kommandierte ein Gefangener hier Piraten umher? Sein Mundwinkel zuckte. Der gigantische Trauerkloß in seinem Magen schien gerade ein Nickerchen zu machen, denn das Zucken wurde für einen kurzen Augenblick zu einem Schmunzeln.

»Und sie lassen Euch an Bord arbeiten?«, fragte Corin, der den alten Zauberer von Augenblick zu Augenblick immer faszinierender fand. »Ich helfe ihnen bei der Navigation«, begann Broklas mit einem kleinen Vortrag. »Ich bin ihr Medikus. Und damit die ganze Zeit nicht völlig verschwendet ist, arbeite ich noch an meinen Forschungen«. Seine Stimme wurde wieder verschwörerischer. »Kapitän Claas gibt mir alles, was ich brauche, und glaub mir, auf den Handelsschiffen, die wir überfallen, findet man praktisch alles, was man sich wünschen kann«, fuhr er fort, bemerkte aber sofort seinen Fauxpas und stampfte wütend mit dem Fuß auf, »ach Gott, jetzt sage ich schon wir!«.

Broklas grunzte kurz, dann konzentrierte er sich wieder. »Übrigens, da drüben…«, sagte er mit dem Finger auf eine große Kiste auf der anderen Seite des Decks zeigend, »da versteck ich mich immer drin, wenn es hier eine Schlacht gibt. Da vermutet man niemanden. Ist sicherer, als unter Deck«.

»Was erforscht ihr denn?«, wollte Corin wissen und der alte Mann hätte vor Freude die Hand des Jungen ekstatisch schütteln können. »Ha!«, machte der Wissenschaftler, »ich entwickle ein neues Navigationsinstrument. Es besteht aus einem Winkelmesser und einem Tick«. »Was ist denn ein Tick?«, konnte Corin seine Neugier nicht zügeln und wunderte sich, ob der Trauerkloß vielleicht seinen Magen verlassen hatte, um einen ausgedehnten Spaziergang über das Schiff zu machen und kleine Nagetiere zu deprimieren.

»So eine Art Turmuhr, nur in klein«, erklärte Broklas und seine grauen Augen blitzten. »Es läuft noch nicht so besonders, aber…51.«.

Johan kam mit einem roten Beutel zurück und reichte ihn wortlos Broklas. »Danke sehr, Johan«, lobte Broklas und nahm den Beutel, während sich Johan schleunigst davon machte.

Aus einer kleinen Keramikflasche spritzte der Wissenschaftler ein paar Tropfen Flüssigkeit auf ein sauberes Stück Stoff. Dann zog er wieder Corins Arm aus dem Käfig und setzte zur Behandlung an.

Eine Elfenbeinmöwe flog einsam über dem Roten Raben.

Gerade hatte einer der Piraten am Heck des Seeräuberschiffes traumhaft schöne Fischeingeweide aus einem Eimer ins Meer geschüttet. Die Sonne schien. Es hätte ein perfekter Nachmittag werden können.

Wenn nicht plötzlich dieser dumme Menschenjunge angefangen hätte, die Wolken vom Himmel zu brüllen.

43 Wenn man die Ausscheidung von Harn oder Kot nicht kontrollieren kann

44 In Nordeuropa sehr seltene Möwenart, die praktisch vollständig weiß ist

45 Wettbewerb

46 Ein blauglänzendes Mineralgemisch, das häufig als Schmuckstein eingesetzt wird

47 Provokation, Beleidigung

48 Bei den Kaufleuten fuhr der Besitzer des Schiffes – oder ein Repräsentant – häufig als Schiffsherr mit

49 Den Kompass kannte man schon seit gut 200 Jahren

50 Verurteilter

51 Was Broklas hier zu erfinden versucht, ist ein Sextant, der mit Hilfe einer genauen Uhr eine Positionsbestimmung überall auf der Erde ermöglicht. Durchgesetzt hat sich das erst Jahrhunderte später.