Farbe, das unbekannte Wesen

Die magische Strahlkraft von tiefem Lapislazuliblau, schwankendes Mauve auf seinem beständigen Balanceakt zwischen Rosa und Violett oder die kompromisslose Direktheit von klarem Rot, das sich ungefragt in den Vordergrund drängt: Farben faszinieren. Ihre Vielschichtigkeit. Ihr unendlicher Facettenreichtum.

Jeden Tag sind wir umgeben von Millionen von Farben. Man muss nur an einen klaren Frühlingsmorgen denken und seine Wirkung auf unsere Stimmung, wenn wir Farben am Himmel sehen, die geeistem Zuckerguss gleichen. Oder an das perlmuttschimmernde Blau eines sonnenbeschienenen Meeres, die unzähligen Schattierungen von Grün in einem einzigen Waldstück, zart errötende Wicken oder den goldenen Glanz von reifen Weizenfeldern. Oft werden wir uns der Bedeutung von Farben allerdings erst an grauen Regentagen bewusst, wenn sie aus allem ausgewaschen wurden und nur noch ein trister Akkord anklingt, zusammengesetzt aus dem Steingrau des Asphalts, dem Bleigrau des Himmels und dem dunklen Schiefer eines Mantels. Gerade vor dieser Kulisse sticht die limonengrüne Tasche einer Passantin oder der fröhlich orangerote Schirm eines kleinen Mädchens besonders hervor und hebt unsere Laune augenblicklich. Farben sind essenziell.

Fast jeder Moment des Tages ist bunt eingefärbt, und Farben beeinflussen uns dabei sowohl emotional, mental als auch rein physisch: Er hatte gerade seine vierte Tankstelle überfallen, dem Betreiber eine geladene Pistole unter die Nase gehalten und anschließend im Gefängnis seine komplette Zelle zerlegt. Später saß er lammfromm auf einer Pritsche – nach nur einer Viertelstunde in einem rosafarbenen Raum.1

Sie hatte eine ganze Woche lang jeden Tag eisern ihre Salatblätter an Karotteneinerlei gekaut, aber hörte auf der Party trotzdem als Erstes: »Diäten bringen also auch bei dir nichts!« – weil sie in einem gelben Kleid steckte. Farben wirken

und Farben sprechen. Unbewusst verwenden wir Farben nahezu jeden Tag, um Gemütszustände oder Stimmungen zu umschreiben, und sprechen sogar von einer Färbung der Sprache bei Ausdrücken wie »heute ist alles grau in grau«, »die Welt durch die rosarote Brille sehen« – oder man sieht gleich ganz »rot«. Sind Farben im Spiel, hat man sofort ein klares Bild vor Augen und ein Gefühl für die Situation. In der Psychologie, im Manchester Colour Wheel, werden Farben beziehungsweise deren Sprache von Wissenschaftlern sogar verwendet, um Emotionen zu kommunizieren. Patienten, die Probleme haben, sich präzise auszudrücken oder ihre Gefühle in Worte zu kleiden, wählen dabei eine Farbe aus, die ihrem Gefühlszustand entspricht, womit Farben anstelle von Wörtern als Hilfsmittel benutzt werden, um objektivierbare Aussagen zu erhalten.2

Die Farbsprache war früher vielen zumindest in Teilen geläufig. Da die Menschen im Mittelalter größtenteils weder lesen noch schreiben konnten, kam nicht nur den einzelnen Gegenständen auf Gemälden und deren Symbolgehalt eine große Rolle zu, wie etwa dem fleckenlosen Spiegel auf Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit, der von der Reinheit der Braut spricht. Die Menschen wussten damals auch etwas mit den Farben anzufangen. So erkannte man in der Verwendung der Komplementärfarben Rot und Grün für die Gewänder des Paares die Vereinigung der Gegensätze, die Vereinigung von Mann und Frau in der Ehe. Genauso wusste man, dass Grün für die aufkeimende, Rot für die bestehende Liebe steht.

Farben werden allerdings nicht nur symbolisch, sondern auch vor dem Hintergrund alltäglicher Erfahrungen gedeutet, die man mit ihnen gemacht hat. Die Interpretation einer Farbe ist dabei kulturabhängig, das heißt, das Umfeld, in dem man lebt, prägt die Wirkung einer Farbe. Deswegen steht Grün bei Wüstenvölkern für das Paradies, während es in unseren Breiten eher »nur« mit der Natur in Verbindung gebracht wird.

In eine ähnliche Richtung geht die Deutung von Farben über Assoziationen, die man mit ihnen verbindet.3 Daher wird Rot gerne mit Blut und Lebenskraft, Grün dagegen mit Unreife und Unerfahrenheit in Verbindung gebracht, da unreife Früchte meist noch grün sind. Daneben können persönliche Erlebnisse mit der Farbe eine entscheidende Rolle spielen, und manch einer mag Türkis mit einer glücklichen Kindheit verknüpfen, wenn er seine Ferien meist bei der Großmutter verbrachte, die eine blaugrün gestrichene Küche hatte.

Wiederum aus einem anderen Blickwinkel betrachtet man Farben, zieht man die traditionelle Deutung heran. Diese erklärt Farben meist anhand ihrer Rolle in der Geschichte der Farbgewinnung, weshalb Purpur etwa als würdevoll und ausgesprochen luxuriös gilt, da die Herstellung der Farbe aus einer speziellen Schneckenart früher sehr aufwendig war. Purpur eingefärbte Kleidung war daher nur Königen und hohen Würdenträgern vorbehalten.

Versuche, die Sprache der Farben zu entschlüsseln, gibt es demnach viele, doch häufig zeichnen sie kein klares, kein eindeutiges Bild einer Farbe. So ist Gelb zum einen als Synonym für die Sonne und das Göttliche bekannt. Zum anderen gilt es aber auch als Farbe der Geächteten einer Gesellschaft. Die Zuordnungen zu Violett reichen von fromm über eitel bis zu sündig. Wo aber liegt der Kern, die Persönlichkeit der Farbe?

Das Herauslesen von Farbbedeutungen zum Beispiel aus der historischen Verwendung der Farbe lässt einen sicherlich nicht nur faszinierende Geschichten über Farben entdecken, sondern ist ein wichtiger Weg, um sie zu deuten. Historische oder symbolische Deutungen leiten die Farbbedeutungen dabei allerdings von bestimmten Dingen oder Umständen ab, die mit der Farbe verknüpft sind. So wird Grün sehr häufig als giftig angesehen, was ein Paradebeispiel dafür ist, wie, so Eva Heller, »ein einzelnes sprachliches Klischee« die Farbwirkung prägen kann: »Giftgrün« ist ein feststehender Begriff, und Grün wird folglich als giftig wahrgenommen. Diese Zuordnung hat allerdings nichts mit dem Wesen von harmonischem und ausgleichendem Grün zu tun. Das »Giftgrün« leitet sich lediglich von der hochgiftigen Malerfarbe Schweinfurter Grün ab: in Arsen gelöster Kupfer-Grünspan – beides giftige Komponenten. Bei der Verarbeitung nahmen die Maler die Giftstoffe auf und starben an der sogenannten Malerkrankheit. Das berühmteste Opfer des Schweinfurter Grüns war wohl Napoleon, der an den giftigen Ausdünstungen der Farbe starb, mit der auch Tapeten eingefärbt wurden. Diese grüne Malerfarbe war zweifellos hochgiftig. Doch den reinen Farbimpuls Grün, der für Balance, Ruhe und – ganz im Gegensatz zu tödlichem Gift – für Heilung und Erneuerung steht, tangiert dies nicht.

Um zur Kernbedeutung einer Farbe vorzudringen, muss man demnach umgekehrt vorgehen: Man leitet ihren Inhalt nicht von ihrem Vorkommen oder ihrer Verwendung ab, sondern setzt die Farbe an die erste Stelle – und zwar die isolierte Farbe, losgelöst von allen Deutungen, die ihr im Laufe der Zeit zugeschrieben wurden. Diesen reinen Farbimpuls, der in vielen Fällen nicht mit den landläufigen Auslegungen übereinstimmt, gilt es freizulegen und auf sich wirken zu lassen. Von den Empfindungen, die man beim Betrachten der reinen Farbe hat, leitet sich dann ihre Deutung ab, denn: »Farbe ist nicht übertragbar«, wie der Grafikdesigner Milton Glaser es ausgedrückt hat. Er stützt sich bei seinen farbenfrohen Entwürfen teils auf traditionelle Farbbedeutungen, sagt aber auch: »Es gibt einen Moment, wenn die Logik nicht mehr greift; bei Farbe geht es um Intuition.« Auch Johannes Itten erinnert in seiner Kunst der Farbe an den berühmten Satz des Kleinen Prinzen, wenn er sagt, dass das innerste Wesen der Farben dem Verstand verborgen bleibt und nur intuitiv – mit dem Herzen – erfasst werden kann. Farben sind eine lebendige Kraft. Man muss sich ihnen öffnen, sie erleben, um zu ihrem Kern vorzudringen. Sieht man die Farbe dann losgelöst von jedem Symbolgehalt oder Ähnlichem, erkennt man: »Rosa ist nicht Haut, Grün ist nicht Natur, Grau ist nicht Traurigkeit. Farbe besitzt eigenes Leben, eigene Sensibilität.«4 Jede Farbe besitzt ein eigenes Wesen.

Rot ist kraftvoll, Blau zurückhaltend: Ein Wörterbuch der Farben

Um eine Basis zu haben und sich später »in Farbe« ausdrücken zu können, geht es in den folgenden Farbportraits zunächst darum, das Wesen der Farben zu bestimmen. Die Bedeutung der einzelnen Farbtöne ist dabei identisch mit jenem »eigenen Leben«, der geheimen Seele der Farben, mit dem, wie Franz Marc es ausdrückte, »geistigen Wesen der Farben«.5

Hat man es erkannt, kann man Begriffe finden, die den Charakter der einzelnen Farben einfangen. Mit anderen Worten: Die Vokabeln der Farbsprache, sprich die einzelnen Farbtöne, werden in unsere Sprache übersetzt – und dieses Buch ist der Versuch, eine Übersetzung, eine Semantik der Farben anzubieten.

Genau wie in jedem Kurs, den man bucht, um eine Fremdsprache zu lernen, sind hier für die Farbsprache also zunächst einzelne Vokabeln (Farbtöne) aufgelistet und »übersetzt« beziehungsweise interpretiert worden. Das Ergebnis ist ein Wörterbuch der Farben nach dem Muster »Farbe-Deutsch/Deutsch-Farbe«.6

Genauso, wie es Voraussetzung ist, den Basiswortschatz im Englischen zu beherrschen, will man sich in der Sprache unterhalten, muss man wissen, was zum Beispiel Gelb, Blau oder Apricot bedeutet. Es kann bei den Farben zwar keine Eins-zu-eins-Übersetzung geben wie etwa vom Englischen ins Deutsche, wo bread schlicht mit Brot übersetzt werden kann. Doch man kann den Farbtönen mehrere Begriffe zuordnen, die ihre Qualität umschreiben. Ordnet man sie wie Mosaiksteine nebeneinander an, lassen sie im Gesamtbild den Charakter der jeweiligen Farbe erkennen.

Die Deutungen der einzelnen Farben beruhen größtenteils auf farbtheoretischen Überlegungen. Trotzdem kann das Phänomen Farbe nie in einem streng wissenschaftlichen Rahmen abgehandelt werden. Bei der »Übersetzung« hat es mir zwar geholfen, auf theoretische Grundlagen zurückzugreifen, sie mussten aber mit einem Gefühl für Farbe Hand in Hand gehen. Farbtheorie und meine eigenen Beobachtungen und Empfindungen beim Betrachten von isolierter Farbe sind demnach die gemeinsame Basis.

Oft wird gerade der letzte Punkt harsch kritisiert. Man hört, dass das Farberleben zutiefst subjektiv und daher nicht zu verallgemeinern sei. Doch tatsächlich gibt es von Mensch zu Mensch keine gravierenden Unterschiede in der Wahrnehmung von Farben, was Wassily Kandinsky in einem Vergleich veranschaulicht hat: »Das Hören der Farbe ist so präzis, dass man vielleicht keinen Menschen findet, welcher den Eindruck von Grellgelb auf den Basstasten des Klaviers wiederzugeben suchen oder Krapplack dunkel als eine Sopranstimme bezeichnen würde.« Auch in der Farbpsychologie geht man davon aus, dass das Farbempfinden bei nahezu allen Menschen gleich ist, da es eine sogenannte Urprägung sei, die in unserer Genetik verankert ist. Daher stuft jeder Mensch Orange beispielsweise als eine warme Farbe ein, unabhängig von persönlichen Erfahrungen.7 C. G. Jung konnte sogar nachweisen, dass das Unbewusste sich in Bildern und Symbolen (zu denen auch Farben gehören) ausdrückt, die bereits vorhanden sind, das heißt nicht erst mühsam erlernt werden müssen. Die Menschen früherer Jahrhunderte drückten es blumiger aus, wenn sie die Farben als »Sprache der Seele« bezeichneten. Aber auch sie gingen wie selbstverständlich davon aus, dass jeder das Wissen um die Farbensprache in sich trägt – es muss nur wieder ins Bewusstsein gebracht werden.

Rotes Quadrat und blauer Kreis: Die Parallelismen

Sieht man das Wesen einer Farbe klar vor sich, und hat man es in Worte übersetzt, erkennt man auch ihre Entsprechungen, die Parallelismen der Farbe in anderen Bereichen. Man kann einer Farbe dann bestimmte Klänge sowie Zahlen, Duftnoten, Formen, Stile oder Materialien zuordnen, die den gleichen inneren Gehalt haben. Neben dem praktischen Nutzen, auf den ich weiter unten eingehen werde, gewinnt man durch die Parallelismen ein umfassenderes Bild von einer Farbe. Wenn man beispielsweise weiß, dass mildes Apricot ähnliche Eigenschaften hat wie weiche, anschmiegsame Stoffe oder der Duft von Neroli und Vanille, dann kann man ihr Wesen deutlich besser einordnen und ein Gefühl für die Farbe bekommen – in einem Zusammenspiel der Sinne. Neben der allgemeinen Charakterisierung habe ich daher die vorgestellten Farbtöne auf Bereiche wie Formen, Materialien und Duftnoten abgeklopft und jeden Farbton in seine individuelle Formensprache, seinen eigenen Stil und seine persönliche Materialpalette übersetzt.

So wird ein mittleres Grün unter anderem von ausbalancierten, ruhigen Stilen umschrieben sowie von solchen, die maskuline und feminine Einflüsse harmonisch in sich vereinen. Begründet werden kann das aus der Stellung von Grün im Farbkreis, wo es die Mittelstellung einnimmt: Es hält gleichsam die Waage zwischen männlichen/warmen und weiblichen/kalten Farben8, es ruht somit in sich. Die Ruhe, die Grün ausstrahlt, kann ebenso erklärt werden durch seine Mischung aus nach vorne drängendem Gelb und sich zurückziehendem Blau, die sich im Grün treffen und gegenseitig ausbremsen. Was bleibt, ist Stillstand und ausgeglichene Ruhe, die sich unter anderem in unbeweglichen, aber harmonischen Möbelstücken wiederfinden. Wassily Kandinsky, der die Farbtöne, bevor er sie anmischte, gesummt hat, hat ein mittleres Grün ebenfalls als ausgleichend in seiner Wirkung beschrieben, wenn er auch eine andere Basis hatte, von der er ausging: Er ließ die Farben einzeln auf sich wirken und verglich sie häufig mit Klängen, um seine Eindrücke über den Vergleich mit der Musik greifbarer zu machen. Für Grün wählte er als Parallelismus die »ruhigen, gedämpften, mitteltiefen Töne der Geige«, die ebenso harmonisch wirken wie der Farbton selbst. Damit sind bereits drei Entsprechungen für Grün grob umrissen: Stil, Form und Klang. Doch auch bestimmte Düfte, Zahlen und vieles mehr haben den gleichen inneren Gehalt wie die Farbe, wie wir sehen werden.

Aus den Parallelismen lässt sich erkennen: Mit der Farbsprache ist eine weitaus präzisere, facettenreichere Kommunikation möglich als mit Worten: Zu sagen, er sei quittengelb oder der Raum habe eine dunkelblaue Atmosphäre, drückt mit einem Farbbegriff mehr aus, als eine komplette Seite ausformulierter Text es könnte. Denn eine Farbe vereint mehrere (Bedeutungs-)Ebenen in sich – die Farbsprache ist multidimensional. Mit einem Farbimpuls kann daher nicht nur präziser kommuniziert, sondern auch weitaus mehr an Information vermittelt werden als mit einem Begriff in einer regulären Sprache, da immer mehrere Ebenen gleichzeitig wirken: Ein Farbton ruft stets zugleich Formen, Stile, Klänge und vieles mehr wach, die ein vielschichtiges Bild weben. Das Zusammenspiel aller Ebenen kreiert eine facettenreiche, lebendige Aussage, und die Idee wird zugleich von mehreren Sinneseindrücken unterstützt.

Für jede Farbe habe ich einige der Parallelismen für die Bereiche Raumgestaltung und Mode zusammengefasst. Neben diesen beiden gibt es selbstverständlich noch zahlreiche weitere; denkbar wären auch Bereiche wie Gartengestaltung, Produktdesign und Ernährung oder noch spezifischer: Buchstaben, Symbole, Pflanzen oder Organe. Alexander Theroux hat bei seinen Betrachtungen über Farben sogar jedwede Einordnung in starre Kategorien außen vor gelassen und beispielsweise ein heiteres, verspieltes Orange unter anderem mit dem menschlichen Knie, Eulen, Scheinwerfern, Clownshaaren, dem Wort »Dixie«, Winnie the Pooh, Lachen, Karussellpferden, Spaßmessen, Surfen, Jukeboxes und vielem mehr assoziiert.

Jede Farbe ist episch … und auch wenn der berühmte rote Faden in diesem Buch mit nur zwei Beispielbereichen – Mode und Einrichtung – relativ straff gespannt wurde, statt ihn noch um manche andere interessante Bäume am Wegesrand zu wickeln, hoffe ich, dass die »Multidimensionalität« von Farbe, das heißt die zahlreichen Ebenen, auf denen man eine Farbe lesen kann, dennoch deutlich wird.

Alle Theorie ist grau: Die farbenfrohe Praxis

»Jedermann weiß, dass Gelb, Orange und Rot Ideen der Freude und des Reichtums einflößen und darstellen.«

»So so. Sagt wer?«

»Der Maler Eugène Delacroix.«

»Schön, und was fange ich damit an?«

Die Farbsprache ist faszinierend. Doch, wie es der Dialog mit einem Freund auf den Punkt gebracht hat: Was nutzt mir dieses Wissen? Warum sollte ich ein Interesse daran haben, die Sprache der Farben zu lernen? Schließlich setzt sich auch niemand freiwillig an den Schreibtisch und paukt französische Vokabeln, wenn er damit nicht a) seinen Nachbarn aus »Fronkreisch« beeindrucken will, b) im Job dorthin versetzt wird und sich nicht nur von baguette et vin ernähren möchte oder c) zu den (seltenen) Zeitgenossen gehört, die Balzac gerne im Original lesen möchten. Kurz: Wenn man eine Sprache lernt, will man einen Nutzen davon haben. Man will das, was mit ihr ausgedrückt wird, zum einen verstehen können. Zum anderen möchte man in der Lage sein, in der neuen Sprache zu kommunizieren. Auf die Farbsprache angewendet heißt das, dass es in diesem Buch nicht nur darum geht, die Bedeutung jeder Farbe/Vokabel zu lernen, sondern sich Farben und das Wissen um ihre Qualitäten und um ihre Parallelismen auch im Alltag zunutze zu machen.

Es wird daher auch um den praktischen Nutzen des Farbwissens gehen: Was bringt mir das Wissen, dass Rot unter anderem kantig und komprimiert ist? Wie bringe ich die Wirkung einer Farbe in eine Raumgestaltung ein, ohne auf sie als Wandanstrich oder Oberflächenfarbe zurückgreifen zu müssen? Wie kleide ich mich präsent und selbstsicher, ohne mich zum Beispiel in leuchtendes Rot hüllen zu müssen? Wie kann ich die Wirkung einer gelben Wand noch unterstreichen? Und vieles mehr.

Wichtig ist mir zu zeigen, dass das Gestalten mit Farbe nicht mit der Verwendung der Farbe selbst aufhört, sei es als Wand- oder Oberflächenfarbe in der Raumgestaltung, als Stofffarbe im Modedesign oder als Farbe der Verpackung und des Artikels selbst in der Produktgestaltung. Denn jeder Farbton hat seinen inneren Gehalt, und wenn man diesen kennt, kann man …

… auch ohne die tatsächliche Verwendung einer Farbe ihre Qualität in Raumgestaltung oder Garderobe einbringen. Man verzichtet dann auf die Farbe und greift nur auf Formen, Materialien und Ähnliches zurück, die inhaltlich verwandt sind.

… einer Gestaltung eine zusätzliche Ebene hinzuzufügen, welche die Aussage der Farbe noch einmal unterstreicht. Das funktioniert, wenn man Formen oder Materialien benutzt, die den gleichen Inhalt haben wie die verwendete Farbe.

… es vermeiden, die Aussage einer Gestaltung durch eine Kombination von Farben, Formen und Materialien, die sich in ihren Inhalten widersprechen, zu torpedieren oder zu schwächen.9

Eines will dieses Buch allerdings auf keinen Fall: Farben ganz aus der Mode oder der Einrichtung verdrängen und komplett durch ihre Entsprechungen ersetzen. Es gibt kaum etwas Schlimmeres als sterile weiße Wände im ganzen Haus. Erst Farbe erweckt Räume zum Leben, »lässt sie singen«, wie der bekannte Inneneinrichter Jamie Drake sagt. Farbe kann Zimmer überdies optisch vergrößern oder verkleinern, kühl oder warm erscheinen sowie störende Ecken und Kanten verschwinden lassen. Farbe beruhigt, regt an, strukturiert und schafft Atmosphäre. Sie unterstreicht die Architektur, hebt den Zweck eines Raumes hervor oder verändert ihn und wirkt bei wechselnden Lichtverhältnissen immer wieder anders.

Trotzdem ist es von Vorteil zu wissen, wie man eine Farbe in ihrer Wirkung noch verstärken kann. Genauso sinnvoll ist es, in der Lage zu sein, eine Farbe zu umgehen, indem man auf ihre Entsprechungen zurückgreift. Denn schon manche, die zum Beispiel zu lange in einem Raum mit feuerroten Wänden saßen, sind eben die irgendwann hochgegangen.

Auch bei der Mode geht es mir nicht darum, das Bunte aus der Garderobe zu verbannen. Denn die Farben der Kleidung können unser Wohlbefinden steigern, unsere Individualität zum Ausdruck bringen und eine bestimmte Wirkung bei anderen hervorrufen. Die richtige Farbe lässt Sie interessanter und selbstbewusster wirken, authentischer und attraktiver. Farbige Kleidung kann einen gesund oder blass aussehen lassen, klein oder groß, dick oder dünn.

Aber nicht jeder sieht in seiner Lieblingsfarbe automatisch gut aus. Was tun, wenn für Sie nichts über Eisblau geht, Sie damit aber aussehen, als stünden Sie kurz vor dem Kältetod? Vielleicht steht Ihnen Ihre Farbe auch. Sie wollen sich aber ungern von Kopf bis Fuß darin einhüllen und beispielsweise als Vision in Pink vor die Tür treten und unschuldige Passanten erschrecken. In diesen und zahlreichen anderen Fällen hilft es, die Übersetzungen der einzelnen Farben zu kennen, um auf sie ausweichen zu können.

Die Praxisbeispiele zu den Farben sind in den meisten Fällen keine durchgängigen Einrichtungsvorschläge oder Stylingtipps. Denn niemand wird sich komplett in einer Farbe wiederfinden, sondern ein persönlicher Stil ist immer eine Kombination aus mehreren Farben beziehungsweise Aspekten. Besonders bei einem »gelben« Interieur oder bei Mode im »gelben« Stil werden Sie sehen, dass es sinnvoll ist, nicht nur auf die Entsprechungen einer einzigen Farbe zurückzugreifen, sondern für eine Raumgestaltung oder ein Outfit Kombinationen aus mehreren (Lieblings-)Farben zu wählen, die dann auch mehrere Facetten Ihrer Persönlichkeit abdecken werden.

Die Beschreibungen in diesem Buch sind vorwiegend dazu gedacht, deutlich zu machen, wie man eine Farbe übersetzen kann – zum Beispiel in bestimmte Möbel oder in Stoffarten.

Ich bin davon überzeugt, dass man sich mit Farbe genauso ausdrücken kann wie mit jeder anderen Sprache auch – mit einem entscheidenden Unterschied: Die nonverbale Farbsprache ist weltweit gültig und verständlich. Von dieser »Universalsprache der Farben« waren bereits zahlreiche Künstler vergangener Jahrhunderte fasziniert. Gerade der Begriff einer »Grammatik der Farben« war weitverbreitet und wurde zum Beispiel von Johannes Itten für seine theoretischen Überlegungen zur Farbe wieder aufgegriffen.

Ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass man durch die Beschäftigung mit den Farbtönen und deren Entsprechungen fundierte Kenntnisse über Farben und eine Vertrautheit im Umgang mit ihnen erlangen und ausbauen kann – hin zu einem tiefgreifenden Bewusstsein für Farbe in all ihren Facetten und dem Wissen, dass Farbe weit mehr ist als ein bloßes Pigment oder eine traditionelle Deutung. Es gibt vielmehr etwas, das noch hinter jeder Farbe steht und ihre unverfälschte Natur, ihr Wesen ausmacht.

Dieses Buch ist daher der Versuch, Farben auf ihren Kern zu reduzieren. Es soll als Übersetzungshilfe für das Phänomen Farbe dienen, als Wörterbuch für die Farbsprache – denn Farbenlesen kann man lernen. Neben dem praktischen Nutzen, den dieses Farbwissen bietet, möchte dieses Buch jedoch insbesondere eines vermitteln: ein Verständnis für den faszinierenden, ausgesprochen vielschichtigen und individuellen Charakter, der hinter jedem einzelnen Farbton steht. Ein tiefes Gefühl für das Phänomen Farbe, das uns alle täglich umgibt, uns von unendlichem Nutzen sein kann, wenn wir damit umzugehen wissen, und das, wie es Prof. Harald Brost vom Institut für Farbe in Kirn formulierte, »die wichtigste Erfahrung der Menschen in diesem Jahrhundert sein wird«.