6.

Orlando starrte durch das Fenster auf den Hafen, ohne die Schiffe zu sehen, die dort lagen. Er fühlte sich leer und entschlusslos und hatte überdies ein schlechtes Gewissen, weil er seinem Vater einfach nicht gehorsam sein konnte. Ein paarmal hatte er sogar schon überlegt, auf und davon zu gehen, Lea aufzusuchen und sie zu überreden, ein neues Leben mit ihm anzufangen, irgendwo in einem fernen Land, wo sie keiner kannte. Aber wenn er seine Familie verließ, würde sein Vater ihn verstoßen, und er musste als heimatloser Bettler und als ein ehrloser, pflichtvergessener Sohn, der seinen Eltern die gebührende Achtung und die Unterstützung im Alter verweigerte, vor die Frau treten, die er liebte. Lea war eine fromme Jüdin und würde ihm diesen Schritt höchst übel nehmen, selbst wenn es ihm gelang, sie von seinen ehrlichen Absichten zu überzeugen. Blieb er aber hier, konnte ihn nur ein Wunder vor einer Ehe mit einer ungeliebten Frau bewahren.

Das ihm aufgezwungene Weib tat ihm jetzt schon Leid, denn es würde höchstwahrscheinlich kein gutes Leben an seiner Seite haben. Für ihn konnte eine andere Frau niemals mehr sein als ein Gefäß, in das er seinen Samen legte, um einen Sohn oder, besser gesagt, einen Enkel für seinen Vater zu zeugen. Je länger er hier oben eingesperrt war, umso stärker sehnte er sich nach Lea und umso sicherer war er, dass sie die Einzige war, mit der er sein Leben teilen wollte.

Orlando war nicht bereit, seinem Vater nachzugeben, und verharrte wochenlang in brütendem Selbstmitleid. Eines Tages aber spürte er, wie sein Widerstand bröckelte. Die Enge seines Zimmers begann ihn in den Wahnsinn treiben und ließ es ihm besser erscheinen, seinem Vater den Gefallen zu tun und mit einer der ihm angebotenen Frauen den erwarteten Enkel zu zeugen. Gleichzeitig aber schwor er sich, an dem Tag, an dem er ihm ein gesundes Kind in die Arme legen konnte, auf und davon zu gehen und als einfacher Matrose auf einer Kogge oder Karacke anzuheuern, die möglichst weit weg fuhr, vielleicht sogar zu den wilden Küsten Afrikas, von denen viele Schiffe nicht zurückkamen. Gerade, als er sich ausmalte, wie er dort im Kampf mit einem der sagenhaften Ungeheuer fiel, die jene Landstriche besiedeln sollten, entfernte jemand den Balken, mit dem man seine Tür versperrt hatte. Alisio trat mit einem Gesicht ein, als hätte er alle Sabbatküchlein gestohlen.

»Ich weiß nicht, ob Don Manuel billigen wird, was ich hier tue, junger Herr, doch es sind Gäste für Euch angekommen.«

Orlando verzog das Gesicht. »Gäste? Nein, danke. Sag ihnen, sie sollen sich zum Teufel scheren.«

Der Diener zog den Kopf ein, ließ sich aber nicht verscheuchen.

»Sie wollen Euch unbedingt sprechen, Don Orlando, und behaupten, es wäre dringend.«

Orlando zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich waren es irgendwelche Conversos, die sich auf eigene Faust ins Reich durchgeschlagen hatten und nun seine Hilfe benötigten. Vielleicht war es gut so, denn dieser Zwischenfall würde das Unvermeidliche noch ein wenig aufschieben. Er verließ seinen Platz am Fenster und folgte Alisio nach unten.

Seine Eltern standen auf dem Treppenabsatz über der Eingangshalle und starrten sichtlich verwirrt auf die Fremden, die am Fuß der Treppe warteten. Als Erstes entdeckte Orlando eine junge, breit gebaute Frau mit einem etwas derben Gesicht, die ein ebenso schlecht sitzendes Kleid trug wie ihre zierliche Begleiterin, die sich ängstlich an sie klammerte. Hinter ihnen tauchten eine ebenso verschreckt wirkende, ältere Frau auf und zwei Männer, von denen Orlando von seinem Standort aus jedoch nur die Beine sehen konnte.

Sein Vater warf ihm einen fragenden Blick zu. Orlando zuckte irritiert mit den Schultern. Inzwischen hatten auch Baramosta und dessen jüngere Tochter die Halle betreten. Bianca warf nur einen Blick auf die Besucher und stieß einen Jubelruf aus. Zu Don Manuel gewandt zeigte sie auf einen der Männer. »Das, Onkel, ist Don Léon de Santiago, unser Retter!«

Orlando riss es beinahe von den Füßen. Ungläubig stürmte er die Treppe hinab und sah Lea mitten in der Halle stehen. Sie trug immer noch die kleidsame Tracht eines kastilischen Edelmanns. Einen Moment starrte er sie fassungslos an. »Bei Gott, Lea! Du bist es wirklich.«

Er riss sie an sich und presste seinen Mund auf ihre Lippen. Lea wusste nicht, wie ihr geschah. Einen Moment lag sie regungslos in seinen Armen und kämpfte gegen das Chaos aus Gefühlen an, die sie überfluteten. Während sie versuchte, sich auf den Beinen zu halten, die unter ihr nachzugeben drohten, begriff sie erst, dass er sie mit ihrem richtigen Namen angesprochen hatte.

Orlando spürte Leas Widerstreben, aber auch eine ihr wohl selbst nicht bewusste Bereitschaft, sich seinen Umarmungen hinzugeben, und jubelte auf. »Mein Liebes! Jetzt hast du mir zum zweiten Mal das Leben gerettet.«

Dann drehte er sich zu seinen Eltern um, die sich in Salzsäulen verwandelt zu haben schienen und ihn entgeistert anstarrten. Bianca kreischte auf, warf Orlando einen giftigen Blick zu und machte eine Bewegung, als wollte sie ihren Léon de Saint Jacques aus seinen Armen reißen.

Orlando schob Lea auf seine Eltern zu. »Das ist Lea Samuel Goldstaub, das mutigste und beste Mädchen der Welt und die einzige Frau, die ich heiraten werde!«

Für einen Augenblick war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dann redeten alle durcheinander. Orlando hob abwehrend die Hand. »Lasst unsere Gäste sich doch erst einmal frisch machen. Ich werde euch später alles erklären. Dir auch, mein Schatz.« Er küsste Lea noch einmal und gab sie dann frei.

Sie musterte ihn kopfschüttelnd und begann dann zu lachen.

»Das bist du mir auch schuldig, du hinterhältiger Kerl! War ich so unvorsichtig, dass du mich durchschaut hast?«

Ihre eher komische Empörung veranlasste Orlando zu einem beinahe mädchenhaften Kichern. »Das warst du gewiss nicht. Aber weißt du, mir ist vor sechs Jahren euer Saul in Worms über den Weg gelaufen und hat geplaudert.«

Lea schnappte nach Luft. »Vor sechs Jahren? Willst du damit sagen, du hast die ganze Zeit gewusst, wer ich bin?«

Als er nickte, holte sie mit der Hand aus. »Du bist ein Schuft! Ein widerwärtiger Heuchler, ein …«

Orlando hielt ihr die Wange hin. »Schlag zu, Lea. Ich habe es verdient.«

Lea starrte ihn zweifelnd an und ließ ihre Hand wieder sinken.

»Wir beide reden noch miteinander.«

Es klang nicht nach einer Drohung.

Inzwischen hatte Doña Léonora sich wieder gefasst, wenn sie auch noch sehr blass wirkte. Ohne Lea aus den Augen zu lassen, stieg sie die Treppe hinunter und trat auf sie zu. Das kurze Haar und die Männerkleidung irritierten sie offensichtlich, forderten aber auch ihre Neugier heraus. Sie ging um Lea herum, packte sie dann am Arm und zog sie mit sich auf den Gang zu, der zum Waschraum führte.

»Du wirst dich gewiss säubern wollen. Alisio, sage deiner Frau, sie soll heißes Wasser in die Waschstube bringen.« Während der Diener in Richtung Küche verschwand, führte Doña Léonora Lea in einen schlichten Raum mit einem Steinfußboden und gekachelten Wänden. Ein steinerner Trog mit kaltem Wasser, eine Kupferwanne und mehrere Schüsseln und Kannen auf einem Bord deuteten darauf hin, dass hier nicht nur Wäsche gewaschen wurde. Lea hatte sich kaum umgesehen, da schleppte eine kleine, dickliche Frau mit runden Wangen und schwarzen Knopfaugen einen Holzeimer mit dampfendem Wasser herein.

»Bleib hier, Elmira, und hilf mir, unseren Gast zu baden«, forderte ihre Herrin sie auf.

Elmira starrte abwehrend auf Leas Männerkleidung und sah ihre Herrin dann ganz verwirrt an. »Wäre das nicht Alisios Aufgabe?«

»Ich hoffe nicht. Also mach schon, richte unserem Gast das Bad!«

Während die Köchin das heiße Wasser in die Wanne schüttete und es mit dem kühlen Wasser aus dem Trog mischte, öffnete Doña Léonora resolut die Knöpfe von Leas Wams und ihrem Hemd. Ihre verkniffene Miene entspannte sich, als ihre Finger prüfend über das Band glitten, das Leas Brüste flach presste, und ohne die abwehrende Haltung der jungen Frau zu beachten, zog sie ihr die restliche Kleidung aus. Als Lea splitternackt vor ihr stand, seufzte sie wie befreit auf, trat mit einem zufriedenen Lächeln zurück und überließ das Mädchen Elmiras Fürsorge.

Sie selbst sammelte Leas Kleidungsstücke auf und nickte ihr aufmunternd zu. »Ich hole dir etwas Frisches zum Anziehen. Meine Kleider sind dir wahrscheinlich ein wenig zu weit und um einiges zu kurz, aber für heute muss es gehen. Morgen werde ich Stoff besorgen, und wir nähen dir ein passenderes Gewand.«

Mit diesen Worten verließ sie durchaus vergnügt die Badestube und kehrte nach einer Weile mit einem Bündel Kleider zurück. Nicht lange danach stand Lea frisch gewaschen und mit etwas römischen Rosenöl parfümiert vor der Hausherrin und starrte auf die bestickte Leinenbluse und den blauen Wickelrock, der ihr gerade bis zu den Waden reichte, aber so geschickt gebunden war, dass er ihre schlanke Taille betonte.

Orlandos Mutter nickte zufrieden. »Du bist ein wenig groß für eine Frau, aber du hast eine gute Figur. Ich glaube, mein Sohn hat eine gute Wahl getroffen.«

»Noch habe ich ihn nicht erwählt«, antwortete Lea leise, aber mit einer gewissen Schärfe.

Doña Léonora ließ sich nicht beirren. »Deine alte Dienerin hat erzählt, dass ihr jüdischen Glaubens und die Überlebenden eines Pogroms seid. Hier bei uns seid ihr nun in Sicherheit.«

Orlandos Mutter hatte Sarahs hastigem Bericht nur mit einem Ohr gelauscht und offensichtlich einiges durcheinandergebracht, doch für sie zählte nur eines: Die künftige Frau ihres Sohnes entstammte ihrem eigenen Volk. Damit war sie ihr als Schwiegertochter von Herzen willkommen.

Genau das sagte sie auch eine gute Stunde später zu ihrem Gemahl, der beobachtete, wie Lea und Orlando sich nach einem zunächst recht heftig verlaufenen Gespräch verliebt ansahen und schließlich umarmten. »Sie ist zwar keine Sephardin, aber mit unseren Sitten gewiss besser vertraut als Bianca oder Marita Lorresta«, schloss sie ihren begeisterten Vortrag.

Don Manuel schenkte seiner Frau einen nachsichtigen Blick.

»Ob die Kinder ihre Gebete in Zukunft in hebräischer oder lateinischer Sprache zu Gott erheben wollen, sollen sie getrost selbst entscheiden.«

»Gewiss, mein Salomo«, antwortete Doña Léonora mit geheuchelter Demut. Dann erinnerte sie daran, dass genau dies der geheime jüdische Name war, den die Mutter ihres Mannes ihrem Sohn gegeben hatte, und lächelte versonnen.