6.

Im Gegensatz zu Lea hatte Orlando den »Blauen Karpfen« ohne Probleme erreicht und sich ein reichliches Mahl auftragen lassen. Während er aß, wanderte sein Blick immer wieder durch ein offen stehendes Fenster die Gasse entlang, und so bemerkte er den Mann, der Lea und Jochanan nachschlich, ohne ihn jedoch zu erkennen. Als er sah, wie der Fremde Lea mit sich zog, sprang er auf und lief ins Freie. Da die Hausecke die Laube seinem Blick entzog, wollte er schon in die falsche Richtung laufen, aber Leas Stimme und der Name Saul brachten ihn auf die richtige Spur. Er stürzte auf die Laube zu, um sie zu warnen und ihr vom Verrat ihres ehemaligen Knechts zu berichten. Doch als er den Efeu beiseite schob, sah er, wie Saul das Messer zog und es ihr an die Kehle setzte.

Um Lea nicht zu gefährden, blieb er stehen und lauschte. Ein-, zweimal überlegte er, ob er den Mann nicht mit einem schnellen Wurf seines Dolches außer Gefecht setzen sollte, doch zum einen war er sich seiner Kunst nicht so sicher, und zum anderen waren ihm die Folgen einer solchen Tat durchaus bewusst. So beobachtete er in sicherer Deckung, wie Saul Jochanan das Gold abpresste. Für einen Augenblick befand sich der Beutel fast in seiner Reichweite, doch ehe er zugreifen konnte, hatte Saul das Säckchen gepackt und rannte davon, als wäre der Teufel hinter ihm her. Orlando lief ihm nach, sah, wie Saul keine zehn Schritte weiter einen Haken schlug und durch eine Türöffnung in ein halb eingestürztes Haus sprang, und folgte ihm ohne zu zögern. So kam es, dass Lea weder ihn noch den räuberischen Knecht erblickte.

Saul schien das Gold blind und taub gemacht zu haben, denn er bemerkte seinen Verfolger nicht. Seine Beute fest an die Brust gedrückt verließ er das Haus auf der anderen Seite, schlug erneut einen Haken und rannte eine Gasse entlang, in der sich der Dreck kniehoch stapelte. Erst als er die Einmündung einer weiteren Gasse erreicht hatte, blieb er kurz stehen und sah sich um. Orlando verbarg sich rasch unter einem leeren Torbogen, lugte aber sofort wieder hinaus, um den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren. Saul aber war so schnell verschwunden, als hätte ihn der Erdboden verschluckt.

Orlando unterdrückte den Ärger über seine zu große Vorsicht und ging angespannt weiter. Doch weder in dieser noch in der Quergasse war eine Spur von dem Mann zu finden, und er sah sich schon sämtliche Ruinen dieser Stadt durchsuchen. Da vernahm er Sauls Stimme, und ein frischer, schmutziger Fußabdruck vor einer schief in den Angeln hängenden Tür verriet ihm, welches Haus der Mann betreten hatte. Orlando schob des Türblatt vorsichtig beiseite, schlich durch einen mit Unrat bedeckten Flur und folgte Sauls Stimme zu einem Raum am anderen Ende.

Da Orlando annahm, der Knecht würde mit einer anderen Person reden, näherte er sich so lautlos wie möglich. Durch einen Riss in dem Sack, der die Tür ersetzte, konnte er in die schmuddelige Kammer sehen, in der Saul sich häuslich eingerichtet hatte. Eine einfache Schlafstelle, ein aus Ziegelsteinen aufgeschichteter Tisch, den eine zerbrochene Marmorplatte deckte, ein primitiv gefertigter Hocker und ein paar in die Wand geschlagene Haken bildeten die ganze Einrichtung. Während Orlando nach einer zweiten Person Ausschau hielt, wurde ihm klar, dass Saul in triumphierenden Selbstgesprächen schwelgte. Der Knecht pries die unerwartete Wendung seines Schicksals und spottete über Lea, die er auch weiterhin ausnehmen wollte wie einen Sabbatkarpfen. Als der Mann sich von dem kleinen Fenster entfernte, durch das er hätte fliehen können, riss Orlando den Vorhang beiseite und sprang in den Raum.

Saul trat schützend vor den Sack mit dem Gold, der halb ausgeleert auf seinem Bett lag, und brüllte den ungebetenen Besucher an. »Raus hier! Das ist meine Wohnung!«

Orlando grinste. »Oh, ich gehe wieder, sobald du mir den Beutel ausgehändigt hast, den du gerade zu verbergen suchst, und zwar mit jedem Stäubchen, das hineingehört.«

Saul richtete sich drohend auf. »Das hättest du wohl gern! Ich sagte: Verschwinde, sonst …!«

»Möchtest du dem Richter erklären, wie du zu dem Gold gekommen bist?« Orlandos Stimme klang sanft und weckte gerade deswegen in Saul die Erinnerung an ihre Begegnung in der Augsburger Schenke.

»Du schon wieder!«

»Ja, ich«, antwortete Orlando mit einem Lächeln, das mehr einem Zähnefletschen glich. »Aber diesmal lasse ich dir die Beute nicht.«

»So, das tust du nicht? Wie willst du mich denn daran hindern?«, fragte Saul höhnisch, während seine Hand an seinem Rücken entlang zu der Messerscheide glitt, die in seinem Hosenbund verborgen war. Er lachte kurz auf, drehte sich leicht zur Seite, um seinen Gegner zu täuschen, und riss die Waffe heraus. Als die Klinge auf Orlando zufuhr, wich dieser mit gewohnter Schnelligkeit aus. Doch der Raum bot ihm nicht genug Platz, und so schrammte die Spitze des Messers über seine Rippen.

Noch ehe Orlando den Schmerz spürte, trat er mit aller Kraft zu. Er traf Saul so hart am Knie, dass der Mann einknickte und nach hinten stürzte. Dabei schlug sein Hinterkopf mit einem hässlichen Knirschen gegen die Tischplatte. Ein Zittern ging durch seinen Körper, der haltlos an den Ziegelsteinen herabrutschte, und das Messer entglitt seinen Händen. Orlando trat auf die Waffe und zog im gleichen Moment seine eigene Klinge, um gegen den nächsten Angriff gewappnet zu sein. Dann aber stellte er fest, dass sein Gegner sich bei seinem Sturz das Genick gebrochen hatte. Dieser Mann würde Lea nie mehr erpressen. Orlando atmete hörbar auf und horchte kurz, ob der Lärm Neugierige angelockt hatte. Als sich nichts rührte, schob er das Gold, das Saul auf einem alten Dachziegel ausgebreitet hatte, in den Beutel zurück, presste seinen linken Unterarm auf den blutenden Schnitt über seinen Rippen und verließ das Gemäuer. Ehe er die Straße betrat, sah er sich vorsichtig um, aber zu seinem Glück hasteten die wenigen Menschen, die sich auf den Gassen bewegten, grußlos an ihm vorbei oder wichen ihm genauso ängstlich aus wie den anderen Passanten. Das ungewöhnliche Misstrauen, welches diese Stadt beherrschte, kam Orlando ebenso zugute wie die schnell hereinbrechende Dämmerung, die dafür sorgte, dass man in der Herberge nur so weit sehen konnte, wie das Licht der beiden in der Gaststube brennenden Kienspäne reichte. So entging dem Wirt, der ihm entgegenkam, seine Verletzung.

»Sind die Juden angekommen, die ich unterwegs überholt habe?«, fragte Orlando ihn.

Der Wirt nickte. »Gerade vorhin. Sie haben sich gleich in ihre Kammer zurückgezogen.«

»Gut, dann werde ich mich ebenfalls in mein Zimmer begeben.«

Der Wirt deutete auf den Tisch, auf dem noch Orlandos Mahl stand. »Ist mein Essen Euch nicht gut genug? Soll ich es abräumen lassen?«

»Nein, nein, ich habe nur noch etwas zu erledigen. Seid so gut und haltet die Fliegen fern, bis ich wieder da bin.«

Orlando nickte ihm zu und stieg schnell nach oben, bevor ein Wirtsknecht auftauchte, um ihm den Weg auszuleuchten. In seiner Kammer konnte er sich endlich um seine Wunde kümmern. Es war ein glatter Schnitt, der an einer Stelle den Muskel verletzt hatte und stark blutete. Orlando sah sich gezwungen, sein bestes Unterhemd, das aus besonders fein gewebtem Leinen bestand, zu zerreißen, um Verbandsmaterial zu gewinnen. Dieser Umstand hob seine Laune ebenso wenig wie die schmerzhaften Verrenkungen, die er machen musste, um sich einen festen Verband anzulegen. Das Hemd, das ebenfalls aus bestem Leinen für ihn angefertigt worden und noch so gut wie neu gewesen war, hatte einen langen Riss. Am liebsten hätte er es verbrannt, aber wegen der sommerlichen Hitze gab es kein Feuer im Kamin und es lag auch keine Asche darin. Einfach wegwerfen wollte er es nicht, denn das blutige Kleidungsstück konnte die Büttel auf ihn aufmerksam machen, und so rollte er es zusammen und stopfte es tief in sein Bündel. Er würde das Hemd seiner Mutter geben, damit sie es flickte und dem alten Hausdiener schenkte. Vorsichtig streifte Orlando sich sein Ersatzhemd über und steckte es in die Hose. Die Bewegungen bereiteten ihm Schmerzen, und doch fühlte er sich mit einem Mal recht zufrieden. Er hatte einen widerwärtigen Schuft zur Hölle geschickt und Lea davor bewahrt, ständig in Angst vor einem Erpresser leben zu müssen. Bei dem Gedanken überlegte er, ob er nicht gleich zu ihr gehen und ihr das Gold zurückgeben sollte. Er hob den Beutel auf, entschied sich dann aber anders, denn er wusste nicht, wie er die Sache erklären sollte. Wenn er ihr erzählte, was geschehen war, würde er in ihren Augen als Mörder dastehen, und das wollte er nicht.

Er beschloss, das Gold selbst einzutauschen, weitere Geschäfte in ihrem Namen zu betreiben und die Gewinne auf ihr italienisches Konto einzuzahlen. Irgendwann, in ein oder zwei Jahren, das versprach er ihr im Stillen, würde er den Wert des Goldes verdoppelt oder gar verdreifacht haben und ihr jeden Heller davon ohne die üblichen Abschläge zurückzahlen. Mit diesem Vorsatz verließ er seine Kammer und stieg in die Wirtsstube hinab, um sein unterbrochenes Abendessen fortzusetzen.