8.

Die ersten Tage ihrer Reise legte Lea schweigend zurück.

Jochanan versuchte zwar mehrmals, ein Gespräch anzuknüpfen, doch ihr abweisender Gesichtsausdruck ließ ihn jedes Mal wieder verstummen. Dabei hätte er sich gewünscht, sie würde ihm ihr Herz ausschütten, denn in ihren Augen lag so viel Schmerz und Zorn, dass er sich fragte, was sie so tief getroffen hatte. Allein der Verlust des Goldes, welches sie nach der Hochzeit des Markgrafen noch einmal unter großer Gefahr aus dem Fluss geholt hatte, konnte es nicht sein.

Er ahnte nicht, wie Recht er hatte. Leas Gedanken galten tatsächlich nur am Rande dem verlorenen Gold. Was ihr Sorgen machte, war die Gefahr, die von Saul ausging. Mehr als einmal überlegte sie, ob es nicht besser wäre, nach Hannosweiler zurückzukehren, den ungetreuen Knecht zu suchen und zu töten. Aber sie verwarf den Plan, so oft sie ihn fasste, denn sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, einen Menschen umzubringen, und Jochanan war es noch weniger.

Zwischendurch schwelgte sie in Selbstvorwürfen. Sie hätte damals, nach dem Tod ihres Vaters, alles packen und vor dem Ablauf der vier Wochen mit ihren Geschwistern und den Bediensteten Hartenburg verlassen sollen. Hätten sie sich damals in einer Reichsstadt angesiedelt, die unter dem Schutz des Kaisers stand, wären sie zwar nach den notwendigen Zahlungen bettelarm gewesen und hätten von der Mildtätigkeit anderer Juden leben müssen, doch sie wäre nicht gezwungen gewesen, ein solch unnatürliches Leben zu führen und sich immer wieder in Gefahr zu begeben. Elieser wäre in die jüdische Gemeinschaft hineingewachsen und hätte sich ein Beispiel an anderen jüdischen Männern nehmen können. Mit Hilfe der anderen Gemeindemitglieder wäre es ihm vielleicht sogar möglich gewesen, einen kleinen Handel anzufangen und der Familie ein bescheidenes Auskommen zu sichern, und Rachel wäre längst mit einem frommen Mann verheiratet. Vielleicht hätte auch sie selbst einen Ehemann und mit ihm zusammen die Liebe gefunden. Ihre Selbstzweifel wuchsen mit jeder Meile, die sie zurücklegten. Hatte sie wirklich nur ihre Familie retten wollen? fragte sie sich. Oder hatte Rachel Recht, die ihr vorwarf, sie und Elieser beherrschen zu wollen? Hätte sie weniger Kraft und Zeit in ihre Geschäfte stecken und sich stattdessen um die Erziehung ihrer Geschwister kümmern sollen? Lea wusste keine Antwort auf all die quälenden Fragen, und mit Jochanan darüber zu reden, hatte in ihren Augen keinen Sinn, denn er war genau wie seine Mutter und seine Schwester gewohnt, der Herrschaft in Glück und Not gleichermaßen zu gehorchen und deren Entscheidungen nicht in Frage zu stellen.

Immer öfter kehrten ihre Gedanken zu Roland Fischkopf zurück. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn so schlecht behandelte, denn trotz seines Spottes und seiner Überheblichkeit hatte er ihr aus mehr als einer misslichen Lage herausgeholfen und auch sein Wort gehalten, das Gold, das er ihr vor zwei Jahren abgenommen hatte, mit Gewinn zurückzuzahlen. Mit dem Geleitbrief Herzog Maximilians war es ihr jetzt möglich, nach Genua zu reisen und die Anweisung, die Fischkopf ihr auf die Banco San Giorgio ausgestellt hatte, einzulösen. Natürlich konnte sie das Papier auch mit einigen Abschlägen an einen christlichen Bankier im Reich verkaufen, aber dazu musste sie ebenfalls an einen Ort reisen, an dem sie niemand kannte, und dort als Christ auftreten. Es reizte sie jedoch, nach Italien hinunterzufahren und sich das Geld selbst zu holen. Der Wunsch löste neue Gewissenbisse in ihr aus, denn ihr war klar, dass sie ihre Geschwister dann schon wieder für längere Zeit allein lassen musste, anstatt dafür zu sorgen, dass die beiden zu guten Menschen jüdischen Glaubens heranwuchsen. Das war ihre eigentliche Aufgabe – und nicht die, Geld zu scheffeln und einen gierigen Landesherrn damit zu füttern. Sie sah die Kluft, die zwischen ihrem Wunsch, nach Sitte und Brauch zu leben, und der Wirklichkeit lag und lachte bitter auf. Doch bevor sie erneut in einem schwarzen Sumpf voller Selbstvorwürfe eintauchen konnte, griff Jochanan ein. Er legte die Hand auf ihre Schulter und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Herrin, ist es Saul, der dir so viele Sorgen bereitet? Dann ist es wohl besser, ich kehre um und versuche, den Kerl unschädlich zu machen.«

Lea holte tief Luft und blickte Jochanan das erste Mal seit Tagen bewusst an. »Nein! Ich will nicht, dass du ihn tötest und dafür von den christlichen Behörden gefoltert und hingerichtet wirst.«

»Aber du und die anderen hättet Ruhe vor diesem Schuft.«

»Wenn du Erfolg hast, ist der Preis zu hoch, und wenn du scheiterst, bringst du ihn erst recht gegen uns auf, und er wird sich an uns heften wie ein Blutegel. Also vergiss die Sache.«

Jochanan atmete erleichtert auf. Er wäre bereit gewesen, sein Leben für Lea und seine Familie zu opfern, fühlte sich jedoch nicht zum Rächer berufen. Als sie weitergingen und Lea erneut ins Brüten versank, empfand er seine Hilflosigkeit stärker als je zuvor. »Herrin, ich mache mir Sorgen um dich.«

Lea sah ihn irritiert an. »Sorgen um mich? Aus welchem Grund?«

»Seit Hannosweiler wirkst du so gequält. Ich dachte, es wäre wegen Saul, aber es muss mehr sein.«

»Du bist ein braver Bursche, Jochanan, und der treueste Diener, den man sich wünschen kann. Aber auch du kannst mir meine Probleme nicht abnehmen.«

Jochanan begriff durchaus, dass sie nicht reden wollte, aber er musste sie aus diesem unguten Zustand herausreißen, selbst wenn er sich dafür ihren Zorn zuzog. So bohrte er weiter, bis Lea vor seiner Hartnäckigkeit kapitulierte.

»Es ist wegen Elieser und Rachel. Ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen und fürchte, ich habe bei ihrer Erziehung versagt.«

Jochanan schüttelte energisch den Kopf. »Das hast du bestimmt nicht. Wenn man jemandem Vorwürfe machen müsste, dann deinem Vater. Er hat Samuel sehr streng erzogen und auch dich übermäßig hart angefasst, obwohl du ihm die Hausfrau ersetzt hast. Aber seine beiden jüngeren Kinder hat er nach dem Tod eurer Mutter so verwöhnt, dass es uns Bediensteten euch Älteren gegenüber mehr als ungerecht erschien. Ich höre von meiner Mutter und meiner Schwester gewiss mehr über das, was im Haus vorgeht, als du. Elieser spielt dir den eifrigen Talmudschüler nur vor. In Wirklichkeit liegt er, wenn du weg bist, faul herum und lässt sich sogar noch füttern. Und was Rachel betrifft, so sitzt sie am liebsten am Stadtgraben und genießt die Bewunderung der dort flanierenden Männer. Meine Mutter ärgert sich sehr darüber, denn das gehört sich wirklich nicht für eine fromme Jüdin, und da Rachel Gomer auf ihre Spaziergänge mitnimmt, muss meine Schwester auch noch deren Arbeit tun.«

Lea wurde blass vor Zorn. »Warum erfahre ich das erst jetzt?«

Jochanan kroch unter ihrem Blick in sich zusammen. »Mutter hat uns verboten, dir noch mehr Sorgen aufzuhalsen. Ihrer Ansicht nach sind Elieser und Rachel alt genug, um zu wissen, was sie tun.«

»Elieser ist ein launisches Kind«, widersprach Lea. Jochanan wandte den Kopf ab und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, aber Lea sprach aus, was er meinte. »Elieser ist jetzt achtzehn und damit so alt wie Samuel, als dieser in Sarningen ermordet wurde.«

»Rachel ist noch ein Jahr älter und hätte längst verheiratet werden müssen«, setzte Jochanan hinzu.

Lea zuckte in einer komisch-verzweifelten Geste mit den Schultern. »Irgendwie ist mir die Zeit unter den Händen zerronnen. Wenn wir nach Hause kommen, werde ich etwas unternehmen.«

»Es wird dir kaum gelingen, Elieser zu verheiraten, denn er wird nicht auf dich hören, und bei Rachel wirst du ebenfalls kein Glück haben, denn sie wird sich hinter Elieser stecken, wie sie es auch sonst immer tut.«

Lea schlug mit der geballten Faust in die offene Hand. »Noch geschieht in unserem Haus das, was ich bestimme!«

Trotz ihres scharfen Tonfalls lächelte sie. Das Gespräch mit Jochanan hatte die Schatten aus ihrem Gemüt vertrieben und ihren Kampfgeist wieder geweckt. Als sie weitergingen, kreisten ihre Gedanken um die Zukunft ihrer Geschwister und all die Dinge, die sie tun musste, um ihnen eine bessere Heimat zu verschaffen und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Elieser würde die Geschäfte noch einige Jahre lang nicht alleine führen können, also musste sie die Zügel in der Hand halten, bis er in einer anderen Stadt die Hilfe von Glaubensgenossen in Anspruch nehmen konnte. Für sie galt es jetzt, neue Kräfte zu sammeln, um ihrem Bruder einen neuen Anfang zu verschaffen und Rachel eine Mitgift, mit der sie jedem frommen und wohlhabenden Juden als Schwiegertochter willkommen war.