2.

Roland Fischkopf, den seine Verwandten und besten Freunde als Orlando Terasa de Quereda y Cunjol kannten, sah sich noch einmal in dem Raum um, der nun mehr einem Schlachtfeld als einer Gaststube glich. Es stank nach verschüttetem Wein und menschlichen Ausdünstungen, und kaum einer der noch aufrecht sitzenden Gäste sah so aus, als würde er ohne Hilfe sein Bett finden. Nur der Mönch, dem der Wirt tatsächlich nur Wasser hingestellt hatte, war hellwach und starrte Orlando an, als würde er sich am liebsten an ihm für das Entkommen der Juden schadlos halten.

Orlando wusste, dass er sich an diesem Tag einen unversöhnlichen Feind geschaffen hatte, der hartnäckiger sein würde als andere Verfolger, und ihm blieb nur zu hoffen, dass Medardus Holzinger nie erfuhr, von wem er übertölpelt worden war. Jetzt ärgerte er sich über sich selbst, weil er zu Gunsten dieser Lea Goldstaub eingegriffen hatte. Die beiden Leben, die er hier gerettet hatte, konnten später einmal den Tod anderer bedeuten, die sich auf seine Hilfe verließen.

Das durfte er jedoch nicht diesem verrückten Weibsbild ankreiden, sondern nur sich selbst. Als er von Ruben ben Makkabi erfahren hatte, dass Samuel ben Jakob nach Augsburg kommen würde, hatte er für den letzten Teil des Weges die gleiche Strecke gewählt, die Lea nehmen musste. In den letzten Jahren hatte er des Öfteren von dem jungen Fernhandelskaufmann reden hören und mit Verwunderung den Lobliedern auf dessen Tüchtigkeit gelauscht, so dass er diese ungewöhnliche Frau persönlich hatte kennen lernen wollen.

Natürlich konnte er es ihr nicht zum Vorwurf machen, in diese höllische Situation geraten zu sein, denn wer hätte voraussehen können, dass der als fanatischer Judenvernichter bekannte Mönch Medardus Holzinger ebenfalls diese Straße ziehen würde? In gewisser Weise freute Orlando sich sogar, dass er Lea hatte helfen können. Es war ein herrlicher Spaß gewesen, dem Mönch die schon sicher geglaubte Beute zu entreißen, und es hatte ihm beinahe genauso viel Vergnügen bereitet, das zornige Blitzen zweier großer, dunkelblauer Augen in einem durchaus hübschen Gesicht herauszufordern. Die junge Frau hätte wohl nichts lieber getan, als ihm ihre kräftigen, weißen Zähne in die Kehle zu schlagen.

Nach einem letzten Blick auf die betrunkenen Gäste verließ er den Raum, nahm draußen eine der Laternen vom Bord und ging hinüber in den Stall, in dem der Wirt den Juden eine unbenutzte Geschirrkammer zugewiesen hatte. Es war ein primitiver Holzverschlag mit einem großen, an der Längsseite aufgerissenen Futterkasten, auf dessen Deckel ein Strohsack und eine löchrige Decke lagen. Dieses primitive Bett sah jedoch noch bequemer aus als der mit einem fadenscheinigen Leintuch bedeckte Haufen alten Strohs an der gegenüberliegenden Wand, auf dem wohl Leas Diener schlafen sollte.

Orlando empfand es als ungehörig, dass Lea und ihr Knecht im selben Raum nächtigten, und wunderte sich gleichzeitig über den Ärger, den er deswegen empfand. Jochanan hatte mit einem so treuen Hundeblick zu seiner Herrin aufgeschaut, als wäre sie sein Abgott. Das allein bewies schon, dass es zwischen den beiden keine verbotenen Vertraulichkeiten gab. Der Knecht war gewiss ein braver Kerl, aber kein Mann, der das Herz oder die Sinne einer so energischen jungen Frau entflammen konnte.

Orlando verweilte einen Augenblick in der Erinnerung an Leas seidig glatte Haut und den feinen, wenn auch sonnengebräunten Händen, und er fragte sich, wie wohl der Rest ihres Körpers aussehen mochte. Schnell schüttelte er diese Gedanken ab. Ihn hatte Lea nicht als Frau zu interessieren, sondern als das, für das sie sich ausgab, nämlich den erfolgreichen jüdischen Handelsherrn Samuel ben Jakob aus Hartenburg. Da weder Lea noch ihr Knecht irgendwo zu sehen waren, zog er das Gepäck heraus, das unter Laub und Stroh verborgen in der Futterkiste lag. Ihm war bei der Ankunft der beiden schon aufgefallen, dass die Bündel der beiden zu schwer für ihre Größe wirkten, und nun nutzte er die Gelegenheit, sich anzusehen, was Lea mit sich herumschleppte. Gespannt öffnete er die kunstvollen Knoten, mit denen die Packen gesichert waren, und starrte kurz darauf auf das Gefunkel, in dem sich das Licht seiner Laterne widerspiegelte. Die beiden armselig wirkenden Juden führten Gold im Wert von mehreren tausend Gulden mit sich.

Jetzt wurde ihm klar, warum die Hartenburger den Hoffaktor ihres Markgrafen Goldstaub nannten. Selten hatte ein Jude einen Beinamen mit mehr Berechtigung getragen als dieser Samuel, der eine Lea war. Orlando wollte die beiden Beutel schon wieder verschließen, als ihm einfiel, das hier eine Chance für ihn lag, ein Geschäft abzuschließen, mit dem er guten Gewinn erwirtschaften und gleichzeitig einem seiner Schützlinge wieder auf die Beine helfen konnte. Kurz entschlossen nahm er ein Tuch aus Leas Gepäck, breitete es auf dem Bett aus und schüttete die Hälfte des Goldstaubs und der Körner hinein. Die um einiges leichter gewordenen Beutel verschloss er mit denselben kunstvollen Knoten und schob sie wieder in den Kasten. Dann knotete er die Enden des mit Gold gefüllten Tuches zusammen, damit nichts von dem wertvollen Inhalt verloren gehen konnte, und wog es mit einem anerkennenden Lächeln in der Hand. Während er die Beute in seine Kammer trug, überschlug er deren Wert. Er schätzte den Anteil, den er sich genommen hatte, auf eintausend bis eintausendzweihundert Gulden. So viel war die zugige, halb zerfallene Burg nicht wert, in der Ritter Ochsenmaul hausen mochte. Es war gut, dass weder der Mönch noch der Ritter etwas von diesem Schatz geahnt hatten, denn sonst hätte selbst ein Engel des Herrn Lea und ihren Knecht nicht vor dem Feuertod bewahren können.

Nachdem Orlando das Gold in seinem Zimmer versteckt hatte, machte er sich auf die Suche nach der jungen Jüdin und fand sie schließlich an einem Bach unweit der Herberge. Leas Gesicht schimmerte im hellen Mondlicht grünlich. Wie es aussah, hatte sie sich den Finger in den Mund gesteckt, um den Magen zu entleeren, und schien sich kaum noch aufrecht halten zu können. Dennoch kümmerte sie sich um ihren verletzten Knecht und reinigte ihm gerade das blutverschmierte Gesicht. Als Orlandos Schatten über sie fiel, hob sie den Kopf und funkelte ihn hasserfüllt an. »Habt Ihr uns noch nicht genug gequält?

Wollt Ihr Euch noch weiter an unserem Elend weiden?«

»Elend?« Orlando dehnte dieses Wort genüsslich. »Mein beschnittener Freund, du solltest frohlocken, dass du überhaupt noch kotzen kannst. Außerdem wäre ein wenig Dankbarkeit mir gegenüber angebracht. Schließlich habe ich dir das Leben gerettet. Oder hast du vergessen, dass man für dich und deinen Knecht den Scheiterhaufen errichten wollte? Ihr dürftet die ersten Juden sein, die dem ehrwürdigen Bruder Medardus Holzinger entkommen sind, und seid versichert, seine Freude darüber hält sich in Grenzen. Daher gebe ich euch beiden den Rat, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden. Wenn die Leute morgen mit schweren Köpfen aufwachen, könnten sie für seine Einflüsterungen empfänglich sein und versuchen, ihre Kopfschmerzen durch den Geruch eines gerösteten Juden zu vertreiben.«

Lea erhob sich, um nicht weiter zu Orlando aufsehen zu müssen. »Ihr seid ja sehr besorgt um mich und meinen Knecht. Erwartet Ihr vielleicht noch eine Belohnung dafür?«

»Die habe ich mir bereits genommen«, antwortete Orlando grinsend. »So geschwächt, wie ihr seid, wärt ihr beide sowieso nicht mehr in der Lage, die schweren Packen mit eurem Gold zu tragen.«

Lea zuckte zusammen und starrte ihr Gegenüber fassungslos an.

»Ihr habt mir mein Gold gestohlen?«

Orlando hob abwehrend die Hände. »Gestohlen? Was für ein böses Wort! Nein, ich habe mir etwa die Hälfte davon geborgt. Deswegen bist du immer noch nicht arm, mein beschnittener Freund.«

»Ich bin weder Euer Freund noch be …« Lea biss sich auf die Zunge, denn sie hätte sich beinahe verraten. Da sie jedoch als männlicher Jude gelten wollte, durfte sie die Beschneidung nicht leugnen. »… noch sehe ich ein, Euch etwas schuldig zu sein! Schließlich habt Ihr Euch heute genug derbe Scherze mit mir geleistet.«

»Gewiss keinen derberen, als ihn der Mönch für dich plante«, erinnerte Orlando sie.

»Ihr hattet Euren Spaß und tragt dafür mein Gold mit Euch fort. Das mag Euch genügen.«

Lea drehte Orlando den Rücken zu und beugte sich wieder zu Jochanan hinab.

Orlando ärgerte sich schon wieder über dieses sturköpfige Weibsstück. Wäre sie ein vernünftig denkender Mann, hätte sie begriffen, wie knapp sie dem Tod entgangen war. Er hatte ja keinen überschwänglichen Dank für die Rettung erwartet, aber wenigstens ein paar nette Worte. Dieses Mädchen von gerade mal neunzehn Jahren tat jedoch so, als wäre er an ihrem Unglück schuld und nannte ihn zum Dank auch noch einen Dieb.

»Mein lieber beschnittener Freund«, begann er mit sanfter Stimme. »Ich habe dich mitnichten bestohlen, sondern nur eine größere Summe von dir geborgt. Ich habe nämlich die Gelegenheit zu einem viel versprechenden Geschäft, das ich sonst hätte ausschlagen müssen. Dank deines Goldes bin ich jetzt in der Lage, mich an einem größeren Unternehmen zu beteiligen. Sieh dich als mein Geschäftspartner an, denn ich werde dir die ausgeliehene Summe auf den Heller genau zurückzahlen und den Profit brüderlich mit dir teilen.« Orlando schnurrte fast vor Vergnügen, während Leas Miene immer eisiger wurde.

»Wollt Ihr mich noch weiter verspotten? Ihr seid nicht nur ein Dieb, sondern auch ein elender Lügner! Geht! Macht, dass Ihr fortkommt, bevor ich meine Beherrschung verliere. Ich bete zu dem Gott meiner Väter, Euch nie mehr begegnen zu müssen.«

»Das ist ein harsches Lebewohl, mein beschnittener Freund, aber ich gebe mich jetzt damit zufrieden.«

Orlando drehte sich um und kehrte in die Herberge zurück. Er musste an sich halten, um unterwegs nicht lauthals zu lachen. Wüsste Lea, dass er ebenfalls zu Ruben ben Makkabi unterwegs war, würde sie an ihrem eigenen Gift ersticken.

Als er am nächsten Morgen aufstand, schliefen die meisten Reisenden noch ihren Rausch aus. Vom Wirt erfuhr er, dass die beiden Juden bereits vor Anbruch der Dämmerung aufgebrochen waren, während der Mönch kurz nach Sonnenaufgang die Herberge in die andere Richtung verlassen hatte.

»Den Wein, den Ihr gestern für alle bestellt habt, braucht Ihr nicht zu bezahlen«, setzte der Wirt mit unglücklichem Gesicht hinzu. »Ich bin ja froh, dass alles so glimpflich abgegangen ist, denn andernfalls hätte ich ganz bestimmt Schwierigkeiten mit der Obrigkeit bekommen.«

Orlando klopfte dem Mann lächelnd auf die Schulter. »Hab keine Sorge um deinen Verdienst, mein Freund. Ich habe gestern Abend mit dem Juden gesprochen und fand ihn sehr glücklich, weil ihm nichts geschehen ist. Deswegen hat er mir Geld für dich zurückgelassen, so dass du seinetwegen keinen Verlust erleiden musst.«

Der Wirt sah seinen Gast verwundert an. »Davon hat mir der Jude beim Abschied aber nichts gesagt.«

Orlando hob die Augenbrauen. »Ist das nicht zu verstehen? Er ist zwar nicht reich, doch die paar Münzen in seinem Beutel hätten einige Gäste durchaus veranlassen können, ihm zu folgen und ihn auszurauben.«

»Da habt Ihr freilich Recht«, stimmte der Wirt ihm zu. »Wenn es genehm wäre, so bekäme ich zwanzig Groschen für drei große Kannen meines besten Weins, außerdem noch weitere fünf für Eure eigene Übernachtung und die Zeche.«

Orlando war sich sicher, dass der fette Wirt einen billigeren Wein ausgeschenkt hatte, zählte aber brav die geforderte Summe ab und drückte sie ihm mit einem weiteren Groschen als Trinkgeld in die Hände. »Es stimmt so, mein Guter. Aber nun schickt mir den Knecht mit heißem Wasser in meine Kammer und lasst mein Frühstück richten. Ich will ebenfalls bald aufbrechen.«

Der Wirt verbeugte sich so tief, wie seine Fülle es erlaubte, und watschelte davon, um seine Anweisungen an das Gesinde zu geben.