11.

Hartenburg war nicht mehr weit, als Lea auf eine größere Reisegruppe traf. Die Leute saßen um den Brunnen einer kleinen, aus roh behauenen Holzstämmen errichteten Herberge herum, deren moosbedecktes Strohdach dringend der Erneuerung bedurfte. Vor dem Haus verteilte eine Wirtsmagd Suppe aus einem dampfenden Kessel. Der Geruch verriet Lea, dass der Wirt nicht mit Schweinefleisch gegeizt hatte, und so würden Jochanan und sie sich auch hier mit Brot und etwas Käse zufrieden geben müssen.

Wie gewohnt stellte Lea ihre Kiepe an der Hauswand ab und ging auf den Brunnen zu, um sich zu erfrischen. Die Leute, die dort saßen, musterten die sich nähernden Juden mit verächtlichen Blicken und dachten nicht daran, ihnen den Weg freizugeben. Einige hoben sogar Dreckklumpen auf, um sie zu verjagen. Die Wirtsmagd, die Samuel Goldstaub kannte und sich auf ein gutes Trinkgeld freute, schimpfte lauthals und scheuchte ein paar von ihnen beiseite.

Lea dankte ihr, trat an den mit Holz eingefassten Brunnen und wusch sich unter den bösen Bemerkungen einiger Umstehender am Abfluss Gesicht und Hände. Dann wollte sie zu der am einströmenden Wasser angebundenen Schöpfkelle greifen, um zu trinken, aber einer der Reisenden riss sie ihr aus den Händen.

»Nimm gefälligst deine Hände, Jude. Oder glaubst du, ehrliche Christenmenschen wollen ein Gefäß benutzen, das du mit deinen schmutzigen Lippen besudelt hast?«

Da der Mund des Mannes vor Schweinefett triefte, beugte Lea sich schnell über den Wasserstrahl, um ihren angewiderten Gesichtsausdruck zu verbergen. Nach dem Anblick war es ihr lieber, das Wasser aus ihren Händen zu trinken. Auf der anderen Seite tat es ihr eine hübsche, junge, aber schon sehr füllig gewordene Frau gleich, und als sich ihre Blicke kreuzten, stieß die Fremde einen Schrei aus und schlug die Hände vors Gesicht, so dass das Wasser über ihr Kleid lief. Sie schüttelte sich und rannte dann so schnell um den Brunnen herum, dass sie wie eine rollende Kugel wirkte.

»Gott im Himmel! Das kann doch nicht wahr sein! Samuel! Bist du es wirklich, oder narrt mich ein Spuk?«

Lea erkannte ihr Gegenüber erst an der Stimme. »Gretchen?

Gretchen Pfeifferin?«

Die Frau nickte. Es war tatsächliche die Freundin aus Sarningen, die Lea und ihren Geschwistern das Leben gerettet hatte.

Gretchen schluchzte vor Freude und umarmte Lea ungeachtet der empörten Blicke ihrer Reisegenossen. Dann musterte sie Lea zweifelnd und riss dabei Mund und Augen auf. Eine scharfe Falte erschien auf ihrer Nasenwurzel, und sie strich wie suchend über Leas Gesicht.

»Du bist ja Lea! Aber wieso …« Zum Glück sprach sie so leise, dass kein anderer ihre Worte hörte.

Lea zuckte zusammen und sah sich hastig um. »Bitte schweig, sonst bringst du mich in größte Schwierigkeiten.«

Da ihre Verkleidung auf den langen Wanderungen noch nie angezweifelt worden war, hatte sie beinahe schon vergessen, in welcher Gefahr sie beständig schwebte. Wenn aufkam, dass Samuel tot war und sie die Geschäfte unter seinem Namen und in Männerkleidung führte, würden sie und die Ihren Hartenburg nicht rasch genug verlassen können, um dem Zorn des Markgrafen zu entgehen.

Gretchen wirkte genauso ängstlich wie damals und handelte ebenso kaltblütig, denn sie zog Lea ein Stück zur Seite, lachte dabei so laut, dass es in Leas Ohren viel zu unecht klang, und schüttelte verblüfft den Kopf. »Warum läufst du als dein Bruder herum?«

»Weil ich Elieser ersetzen muss. Er war noch lange krank und ist ein …« Lea brach ab, denn sie wollte das Wort Krüppel vor ihrer Freundin nicht gebrauchen. »Er leidet immer noch unter den Folgen seiner schweren Verletzungen.«

»Deswegen musst du dich als Mann verkleiden?«

»Erinnere dich, dass du mich in Männerkleidung gesteckt hast. Die Torwächter haben mich bei unserer Rückkehr prompt für Samuel gehalten, und kurz darauf hat der Markgraf meinen Bruder unter Androhung schwerer Strafe zu sich rufen lassen. Ich habe mir einen Kaftan übergestreift und bin hingegangen. Damals habe ich nicht erwartet, dass ich diese Rolle noch viele Jahre lang würde spielen müssen, aber Eliesers Schwäche zwingt mich dazu. Bitte nenne mich auch in Zukunft Samuel, wenn du mich in Männerkleidung siehst. Wenn herauskommt, wer ich wirklich bin, wird es mich und die Meinen das Leben kosten.«

Gretchen nickte. »Oh ja, das glaube ich auch. Man würde dich aller möglichen Verbrechen anklagen und auf den Scheiterhaufen binden. Keine Sorge, Samuel, ich verplappere mich nicht. Mein Gott, was bin ich froh, dich schon hier getroffen zu haben.«

Lea lächelte ein wenig über den Überschwang, der aus den Worten ihrer Freundin sprach. »Ich nehme an, du bist unterwegs, um deine Eltern zu besuchen.«

»Ja, das auch. Aber in erster Linie wollte ich zu dir. Meine Schwiegermutter ist nämlich gestorben, und wir haben etwas unter ihren Sachen gefunden, das dir gehört.« Gretchen griff in die Tasche und holte einen Beutel heraus, in den sie Lea blicken ließ. Es lagen mehrere Schmuckstücke und ein paar Goldmünzen darin.

Das Pogrom von Sarningen lag so weit hinter ihr, dass Lea den kleinen Schatz, den die alte Pfeifferin ihnen in Sarningen vorenthalten hatte, erst auf den zweiten Blick erkannte. Gerührt reichte sie Gretchen die Hand. »Ich danke dir. Damit machst du mir eine große Freude. Die Brosche hier gehörte bereits der Großmutter meiner Großmutter, und ich war sehr traurig, sie verloren zu haben.«

Gretchen senkte beschämt den Blick. »Peter und ich hätten damals darauf bestehen müssen, dass die Alte die Sachen herausrückt. Aber …«

Sie brach ab und seufzte. Lea lächelte aufmunternd, denn ihr war klar, dass ihre Freundin und deren Mann die alte Frau gefürchtet und es nicht gewagt hatten, ihr den Schmuck wieder abzunehmen.

Jochanan tauchte neben Lea auf und hielt ihr ein Brett hin, auf dem zwei Becher verdünnten Weines, zwei kleine Brote und zwei Stücke Käse lagen. Leas Blick zeigte dem Knecht, dass sie nicht gestört werden wollte, und so stellte er das primitive Tablett auf einen Baumstumpf in ihrer Nähe, nahm sich seinen Teil und setzte sich ein Stück entfernt ins Gras. Lea trank einen Schluck Wein und begann hungrig zu essen.

Gretchen knetete nervös ihre Finger und sah Lea mit einem beinahe bettelnden Blick an. »Ich bin vor allem deswegen nach Hartenburg unterwegs, um mit dir zu sprechen. Du hast nach deiner glücklichen Rückkehr einen so lieben Brief geschrieben, dass ich noch oft an dich denken musste. Meine Eltern haben mir auch einmal geschrieben und dabei auch den Hartenburger Leibjuden erwähnt, der noch reicher sein sollte als sein Vater. Ich habe angenommen, es handele sich um Elieser, und wollte dich bitten, ihn zu überreden, uns …«

Sie schluchzte auf und trocknete einen Tränenschwall.

Lea lächelte ihr aufmunternd zu. »Sag frei heraus, was dir auf der Seele brennt. Du hast uns damals gerettet, und ich werde für dich tun, was ich kann.«

»Schuld an allem ist Alban von Rittlage, dieser gemeine Verräter!«, brach es aus Gretchen heraus. »Peter hat viele Jahre in seinen Diensten gestanden, bis Rittlage vor einem halben Jahr sein Amt als kaiserlicher Vogt in Sarningen niedergelegt hat, um sich als einer der Hauptleute des schwäbischen Kreises in seiner Herrschaft Elzsprung niederzulassen. Seine Gefolgsleute und seinen Stab an Schreibern und Bütteln hat er jedoch nicht mitgenommen, sondern sie allesamt vor die Tür gesetzt. Vorher aber hat er den Sarninger Bürgern noch zweitausend Gulden als Strafe für die Vertreibung der Juden auferlegt, und die Leute, die es wagten, ihn daran zu erinnern, dass er selbst der Anstifter dieser Tat gewesen war, als Verleumder in den Kerker geworfen. Nachdem er Sarningen verlassen hatte, hat sich der Hass der Bürger gegen die Männer gerichtet, die in den Diensten des Vogts gestanden hatten. Man hat Peter angedroht, uns das Haus über dem Kopf anzuzünden, wenn wir Sarningen nicht bald verlassen, und im letzten Monat ist er überfallen und zusammengeschlagen worden. Wir müssen fort, aber ohne Empfehlung oder eine größere Summe gemünzten Goldes wird uns keine Stadt als Bürger aufnehmen. Wir besitzen weder das eine noch das andere, und meine Eltern verfügen auch nicht über so viel Vermögen oder Einfluss am markgräflichen Hof, dass wir nach Hartenburg übersiedeln und Peter dort eine Stelle bekommen könnte.«

Lea hatte zunächst nur den Namen Rittlage verstanden, denn im gleichen Moment stieg ihr das Blut in die Ohren, so dass sie nichts anderes vernahm als ihren Herzschlag. »Du sagst, Rittlage wäre zu einem der Hauptleute des schwäbischen Reichskreises aufgestiegen?«

Gretchen nickte bedrückt. »So ist es. Man sagt, er würde bereits nach einer passenden Erbin suchen, um seinen Besitz durch eine Heirat zu vermehren.«

Tausend Gedanken schossen Lea gleichzeitig durch den Kopf. Sie hielt es für einen Fehler Rittlages, sich seiner alten Gefolgsleute entledigt zu haben und die Bürger von Sarningen für etwas bezahlen zu lassen, für das er selbst verantwortlich war. Anscheinend fühlte er sich nach den Jahren, die seit dem Sarninger Pogrom vergangen waren, sicher vor üblen Nachreden oder Racheakten.

Sie dachte an Herzog Maximilian, dem sie Rittlages Schuldverschreibungen übergeben hatte, und lächelte selbstzufrieden. Der Geldbedarf des Herrn war allgemein bekannt, und er würde über seine Bankiers jeden Kreuzer der Summe und noch Etliches an Zinsen von Rittlage eintreiben lassen. Für einen Augenblick fragte sie sich, was geschehen würde, wenn der ehemalige Vogt sich weigerte zu zahlen. Maximilian, der Sohn und designierte Nachfolger des Kaisers, würde das höchstwahrscheinlich als Beleidigung auffassen und ihm die Fehde antragen. Ihr schien es unwahrscheinlich, dass Rittlage seine reichsfreie Herrschaft Elzsprung gegen eine solche Macht halten konnte, und mit seinem Besitz würde er auch all seine neuen Ämter verlieren und froh sein müssen, wenn ihn ein anderer Adeliger in seine Dienste nahm. Lea hoffte, dass er tief genug sinken würde, um ein Opfer der Feinde zu werden, die er sich mit seinen Ränken geschaffen hatte.

Gretchen bemerkte das Lächeln auf Leas Lippen und blickte sie verdattert an. »Du freust dich wohl noch, dass es uns so schlecht geht.«

Lea schüttelte den Gedanken an Rittlages Schicksal ab und lachte. »Du Schaf, ich dachte doch an etwas ganz anderes. Natürlich helfe ich euch. Sag mir, wie viel Geld ihr braucht, um euch woanders anzusiedeln. Warte …! Dein Peter ist doch Schreiber?«

Gretchen nickte eifrig. »Oh ja, er beherrscht die Amtssprache, versteht es, ein Stadtarchiv zu führen, und kennt die Geheimzeichen der kaiserlichen Post. Er hat auch dem Kämmerer assistiert und kann sehr gut rechnen. Glaub mir, er ist sehr klug und kennt sich in vielen Dingen aus.«

Lea blickte auf die sich im warmen Sommerwind wiegenden Wiesenblumen und dachte kurz nach. »Ein Geschäftsfreund von mir hat das Monopol für den Handel mit spanischen Weinen für die Grafschaft Flandern erhalten und brauchte jemand, der dieses Monopol für ihn überwacht. Wenn dein Peter dazu bereit wäre, müsstet ihr jedoch nach Flandern reisen und euch dort niederlassen.«

»Das Angebot wird er bestimmt annehmen!« Man sah Gretchen an, wie glücklich sie über die Aussicht war, Sarningen nicht als Bettlerin verlassen und heimatlos über die Landstraßen ziehen zu müssen.

Während des Gesprächs hatte sich die Reisegruppe, mit der Gretchen gezogen war, zum Aufbruch bereitgemacht. Eine alte Frau trat mit einem etwa zweijährigen Knaben auf dem Arm auf Gretchen zu und machte eine auffordernde Geste. »Komm endlich, Gretchen. Wir ziehen weiter.«

»Danke, Katharina, aber ich werde euch hier verlassen und mit Samuel Goldstaub, dem Nachbarn meiner Eltern, auf dem kürzesten Weg nach Hartenburg gehen.« Gretchen streckte die Arme nach dem Kind aus, welches die andere noch einmal herzte, ehe sie es ihr mit einem bösen Seitenblick auf den Juden reichte.

»Das ist Peters und mein größter Schatz«, sagte Gretchen stolz.

Lea starrte das Kind an und musste den Wunsch unterdrücken, es an sich zu nehmen und auf ihren Armen zu wiegen. Der glückselige Gesichtsausdruck, mit dem Gretchen ihren Sohn betrachtete, erinnerte sie schmerzlich daran, worauf sie verzichten musste. Für einen Augenblick verfluchte sie das Schicksal, das sie wie eine entwurzelte Pflanze vor sich hertrieb, und wünschte sich, ebenfalls einen braven Mann und ein hübsches Kind zu besitzen. Dann aber holte sie tief Luft und straffte die Schultern. Sie hatte ihren Weg doch halb und halb freiwillig gewählt und würde ihn weitergehen müssen bis zum bitteren Ende.

»Was waren das für Leute?«, fragte sie Gretchen, als die Gruppe weitergezogen war.

»Pilger auf dem Weg nach St. Maria am Stein. Die großen Handelszüge, unter deren Schutz man als Frau auch allein reisen kann, nehmen zu viel Geld, und so habe ich mich diesen Leuten angeschlossen. Ich hatte vor, mich oben bei Briesthal von ihnen zu trennen, weil die Fuhrleute von dort aus den Weg nach Hartenburg nehmen. Aber jetzt habe ich ja dich und deinen Knecht als Begleiter.«

»Wenn wir jetzt aufbrechen und stramm gehen, können wir die Stadt noch vor dem Abend erreichen.« Lea wartete Gretchens Antwort nicht ab, sondern steckte sich das letzte Stück Käse in den Mund und ging die Zeche zahlen. Als sie sich ihre Kiepe auf den Rücken lud, hatte Gretchen schon ihr Bündel auf den Rücken und das Kind in einem Tuch vor die Brust gebunden. Die beiden Frauen gingen voran, während Jochanan ihnen im Abstand von ein paar Schritten folgte.

Wie Lea vorausgesagt hatte, erreichten sie Hartenburg, kurz bevor die Stadttore geschlossen wurden. Sie brachte die Freundin zu ihren Eltern, die ihre Tochter und ihr Enkelkind unter Freudentränen in die Arme schlossen und sich wortreich bei Samuel Goldstaub bedankten, weil er sie sicher zu ihnen geleitet hatte. Als Lea endlich nach Hause kam, war es bereits dunkel, und sie hatte nur noch den Wunsch, sich zu waschen und nach einem leichten Mahl ins Bett zu gehen. Doch dazu kam sie so schnell nicht, denn ihren Geschwistern gelang es zum ersten Mal sie freudig zu überraschen.

Als sie das Wohnzimmer betrat, kniete Rachel auf dem Teppich und sortierte einen Haufen Münzen, während Elieser neben ihr auf einem Stuhl saß und die Summen, die sie ihm nannte, in eine Liste eintrug. Bei Leas Anblick huschte ein verlegenes Lächeln über das Gesicht ihres Bruders.

»Fein, dass du zurück bist Schwester. Schau, wir haben versucht, dich während deiner Abwesenheit zu entlasten, damit du dich auch einmal von der Reise erholen kannst. Wie du siehst, habe ich den größten Teil der Hartenburger Steuern schon eingezogen.«

»Ich habe Elieser dabei geholfen«, erklärte Rachel mit ungewohntem Eifer und ohne Leas Männerkaftan auch nur eines Blickes zu würdigen. »Schließlich muss jeder von uns etwas zum Unterhalt der Familie beitragen, nicht wahr? Wir möchten, dass du dir auf deinen vielen Reisen keine Sorgen mehr um uns machen musst.«

»Ich danke euch.« Lea umarmte ihre Geschwister, ohne die Blicke zu bemerken, die die beiden wechselten, und wischte sich Freudentränen aus den Augenwinkeln.