7.

Als der Abt zurückkehrte, dunkelte es bereits. Lea hatte nicht gewagt, eine der Wachskerzen auf dem Schreibtisch anzuzünden, da sie niemand auf sich aufmerksam machen wollte. José Albañez entschuldigte sich, sie in der Dämmerung sitzen gelassen zu haben, schlug Feuer und hielt es an einen Docht. Das Wachs zischte und knallte leise, verbreitete aber sofort einen angenehmen Duft.

»So ist es besser«, sagte er lächelnd. »Ich habe Pablo angewiesen, uns frischen Wein zu bringen. Bei einem guten Schluck unterhält man sich besser.«

»Ich würde meinen Wein lieber mit Wasser verdünnen, denn ich muss einen klaren Kopf bewahren. Schließlich habe ich morgen so einiges zu tun.«

»Ihr haltet es wohl wie die alten Griechen, die jeden für einen Barbaren ansahen, der seinen Wein unvermischt trank.« Albañez nickte Lea lächelnd zu und sah in den noch fast vollen Krug, der auf dem Tisch stand. »Ihr habt ja kaum etwas getrunken. Dabei ist der Wein wirklich gut.«

»Das gebe ich gerne zu. Don Alvaro de Arandela würde ihn sicher zu schätzen wissen. Doch ich bin nicht nach Spanien gekommen, um seine Weine zu probieren, sondern um Baramosta zu retten.«

»Was Euch mit Gottes Hilfe auch gelingen wird.« Albañez atmete tief durch und blickte durch das Fenster ins Freie. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass Arandelas Soldaten sein Fenster unter Beobachtung hielten, und schloss rasch die Vorhänge.

»Wir müssen alles tun, um Eure Anwesenheit geheim zu halten.«

Pablos Erscheinen enthob Lea einer Antwort. Der Mönch

schenkte ihr und dem Abt nach und brachte auf Leas Wunsch noch eine Kanne mit frischem, kühlem Wasser. Dann wünschte er eine gute Nacht und verließ das Zimmer wieder. Albañez trank einen Schluck und starrte dann geistesabwesend in die Flüssigkeit.

»Ihr tragt einen klugen Kopf auf Euren Schultern, Don Léon«, sagte er nach einer Weile. »Orlando Terasa hätte keinen besseren Mann schicken können, um seinen Oheim zu retten.«

Lea blickte überrascht auf. »Baramosta ist Orlandos Onkel? Das wusste ich gar nicht.«

»Er erzählt wohl nicht viel über seine Vergangenheit?« Albañez nahm Leas Nicken als Antwort. »Orlando ist ein anständiger Junge, an dem sich die meisten Edelleute in seinem Alter, die sich stolz Spanier nennen, ein Beispiel nehmen müssten.«

Lea erinnerte sich an Raul de Llorza und wusste, was der Abt meinte. Ganz anders als Orlando war de Llorza ein aufgeblasener Dummkopf, der fest davon überzeugt war, sein Name und seine Abkunft würden ihn weit über die weniger vom Schicksal begünstigten Menschen stellen.

»Spanien wurde mit der Heirat Rey Fernandos und Reina Isabellas vereint, aber es hat dabei seine Seele verloren«, klagte der Abt. »Narren wie der Herzog von Montoya oder Francisco de Cisneros geben heutzutage den Ton an, Männer, denen ihr eigenes Wort schon nichts mehr gilt, wenn es ihre Lippen verlassen hat, und denen es eine Freude ist, andere zu knechten und in den Staub zu treten.«

Lea wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Als Albañez weitersprach, begriff sie, dass er keinen Kommentar von ihr erwartete. Es schien ihm gut zu tun, seine geheimsten Gedanken jemandem mitzuteilen, von dem er annahm, dass er ihn verstand. »Wisst Ihr, wie wenig es braucht, um einen guten Christen, dessen Großvater ein Jude war, in die Fänge der Inquisition zu treiben? Bei Orlandos Vater Don Manuel Terasa genügten das Wort eines ehrlosen Schurken und ein Fetzen Papiers mit ein paar hebräischen Schriftzeichen, die man in einem Winkel seines Speichers fand. Zum Glück bewahrte Orlando kühles Blut und benachrichtigte mich, so dass ich intervenieren und seinen Vater retten konnte. Damals stellte man mir noch die Bedingung, dass er und seine Familie Spanien sofort verlassen müssten. Heute wäre es mir nicht mehr möglich, ihnen zu helfen, so wie ich so vielen anderen nicht helfen konnte, wie Orlandos Großvater, dem Vater seiner Mutter. Er wurde ebenfalls denunziert, und als man sein Haus durchsuchte, fand man einen Chanukka-Leuchter aus Messing. Obwohl Gil Varjentes bei allen Heiligen und unserem Herrn Jesus Christus schwor, diesen Leuchter nie gesehen zu haben, wurde er zum Tod durch Verbrennen verurteilt und bei einem Autodafé hingerichtet.«

Albañez schwieg einen Moment, um die Wirkung seiner Worte auf seinen Gast abzuschätzen. Leas Gesicht war starr vor Entsetzen. Eben hatte sie noch geglaubt, Orlando verachten zu müssen, weil er sich vom Glauben seiner Vorväter abgewandt hatte, doch angesichts der Schicksalsschläge, die er bereits in jungen Jahren erlitten hatte, verstand sie seine Haltung. Auch sie war nicht zur Märtyrerin geboren, wie die Begegnung mit dem Judenjäger Holzinger ihr gezeigt hatte, und angesichts der Tatsache, dass Orlando viele Juden und Conversos gerettet hatte, die in anderen Ländern wieder für das Volk Judas gewonnen werden konnten, war Gott ihm bestimmt nicht gram. Von diesem Standpunkt aus gesehen war es für sie geradezu eine heilige Pflicht, Baramosta und den Seinen zur Flucht zu verhelfen.

Der Abt bemerkte nichts von ihrer Geistesabwesenheit, sondern erzählte weiter. »Cisneros, Montoya und ihre Speichellecker haben dem Königspaar mittlerweile so zugesetzt, dass die beiden geschworen haben, zum Dank für einen baldigen Sieg über Granada alle Juden aus Aragon und Kastilien zu vertreiben. Damit aber schlagen sie Spaniens fleißigste und kunstfertigste Hände ab. Ich habe etliche Briefe an Reina Isabella geschickt und sie angefleht, von diesem Vorhaben abzusehen, aber vergebens. Zuletzt schlug ich sogar vor, alle Juden Spaniens in einem Teil des eroberten Emirats anzusiedeln, um sie nicht heimatlos zu machen, doch auch diesen Wunsch verweigert man mir.« Albañez seufzte tief und kämpfte gegen die Tränen an, die ihm in die Augen stiegen.

»Versteht mich nicht falsch, Don Léon. Auch ich bin dafür, die Juden und Mauren Spaniens dem einzig wahren Glauben zuzuführen, doch sollte die Bekehrung mit Liebe geschehen und durch gutes Beispiel, nicht aber mit Drohungen und durch Gewalt. Mir wird ganz kalt im Herzen, wenn ich an die so genannte heilige Inquisition denke. Im Namen Jesu, der doch Gnade und Barmherzigkeit predigte, verurteilen sie Menschen zum Tod auf dem Scheiterhaufen und sind damit nicht besser als die Heiden von Karthago, die ihre eigenen Kinder zu Ehren des Götzen Moloch verbrannten.«

»Du sollst nicht töten.« Lea sprach diese Worte aus, ohne es eigentlich zu wollen.

Albañez nickte. »So steht es in der Bibel, aber auch in der Thora der Kinder Israels. Wir haben so viel gemeinsam, und doch verachten wir einander, als wäre der jeweils andere eine Ausgeburt Satans.«

»Was gewiss nicht die Schuld der Juden ist«, wandte Lea ein und vergaß dabei ganz, dass sie einen christlichen Edelmann darstellte.

Albañez schüttelte unwillig den Kopf. »Haben nicht die Pharisäer die ersten Christen verfolgen lassen, als die Gruppe der Gläubigen noch klein und schwach war? Haben sie nicht Saulus aus Tarsus ausgesandt, um die Christen zu töten?«

»Wie wollt Ihr das aufwiegen? Einhundert tote Juden für einen toten Christen, oder umgekehrt? Ist es Gott gefällig, ein Volk nach anderthalbtausend Jahren noch immer für etwas büßen zu lassen, was damals geschehen ist? Selbst der Gott Israels erlässt die Sünden der Väter nach vier oder sieben Generationen.«

Albañez blickte Lea mit neuem Interesse an. »Offensichtlich seid Ihr in den alten Schriften wohl bewandert, Don Léon. Daher freut es mich doppelt, mit Euch plaudern zu können. Seid versichert, dass ich keinen Juden hasse. Selbst wenn Baramosta wieder zum mosaischen Glauben zurückkehrt, nachdem er mein Kloster verlassen hat, wird dies nichts an meiner Wertschätzung für ihn ändern. Die Schuld an einem solchen Schritt würde nämlich auf die zurückfallen, die ihn bedrängt haben.«

Der Abt freute sich sichtlich, einen Menschen gefunden zu haben, dem es Vergnügen zu bereiten schien, sich mit seinem Verstand zu messen, und so entspann sich ein langes Gespräch. Mitternacht war bereits vorüber, als Albañez Lea anbot, sein Bett mit ihr zu teilen. Lea wollte erschrocken ablehnen, denn sie fürchtete, entdeckt zu werden, und ihr war nur zu sehr bewusst, dass die Anwesenheit einer Frau, noch dazu einer bekennenden Jüdin, eine nicht wieder gutzumachende Beleidigung für den frommen Mann darstellte. Da das Kloster überfüllt war, gab es jedoch sonst keinen Raum, in dem sie nicht Gefahr lief, als fremder Eindringling entlarvt zu werden. So stimmte sie beklommen zu, legte sich aber mit der Kutte hin und drückte sich ganz an die Wand. Der Abt nahm es mit Wohlgefallen zur Kenntnis, und so konnte sie sich ein wenig entspannen.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, saß Albañez bereits wieder auf seinem Stuhl und las in seinem Brevier. Neben ihm stand Pablo mit dem Frühstück für sie und einer Kürbisflasche, die seinen Worten zufolge bis zum Rand mit Mohnsaft gefüllt war.

»Du musst dich stärken, Bruder Léon, denn es liegt ein anstrengender Tag vor uns.«