6.

Auch Leas zweiter Bote erreichte unbehelligt sein Ziel. Saul hatte sich jedoch Zeit gelassen und traf erst am achtzehnten Tag seiner Reise in Worms ein, der wichtigsten jüdischen Gemeinde des Reiches. Unterwegs hatte er immer wieder über die Lage nachgedacht, in der sich die Familie seiner Herrschaft befand. Auch wenn er nur ein armer Knecht war, der außer Unterkunft, freier Verpflegung und Kleidung lumpige zwei Gulden Jahreslohn erhielt, so ging es auch um sein Schicksal, und deswegen hätte er liebend gern gewusst, was in Leas Brief stand. Sie hatte ihm gesagt, er sollte bei Zofar ben Naftali Geld abholen, das der Familie zustand, ihm aber nicht die Höhe der Summe genannt.

Jemand, der Geld besaß, galt im Heiligen Römischen Reich als angesehener Mann, selbst wenn er Jude war, andererseits mussten aber auch die reichsten Juden den gelben Ring auf dem Mantel tragen, der sie der Verachtung und der Habgier der Christen preisgab. Saul hatte von den christlichen Kaufmannsfamilien der Fugger und Welser in Augsburg gehört, die so viel Einfluss besaßen, dass selbst der Kaiser etwas auf ihr Wort gab. So hoch hätte sein toter Herr Jakob ben Jehuda nicht einmal dann aufsteigen können, wenn er alle Schätze Ägyptens sein Eigen genannt hätte.

Saul hatte auf seiner Reise beobachtet, wie die Gastwirte vor den reichen Kaufleuten buckelten, mehr sogar noch als vor Rittern und Grafen. Ein jüdischer Knecht wie er war ihnen jedoch keinen zweiten Blick wert gewesen, und sie hatten ihre Dienstboten angewiesen, ihn in einem abgelegenen Winkel unterzubringen, in dem es vor Dreck nur so stank, und das Essen, das man ihm vorgesetzt hatte, war teuer und kaum genießbar gewesen.

Als Saul das bescheiden wirkende Wohnhaus des jüdischen Bankiers Zofar ben Naftali erreichte, leckte er sich vor Aufregung die Lippen. Ob er hier eine Möglichkeit fand, sein Schicksal zum Besseren zu wenden? Er schlug den einfachen Bronzering an und konnte kaum erwarten, dass ein Diener erschien und ihn nach seinem Begehr fragte.

Saul wies Leas Brief vor und erklärte mit fester Stimme, ein Bote Samuel ben Jehudas aus Hartenburg zu sein. Der Diener bat ihn höflich zu warten und kehrte ins Haus zurück. Wenig später erschien er wieder und winkte Saul einzutreten. »Mein Herr ist im Augenblick beschäftigt. Nimm derweil in der Küche Platz. Die Köchin wird dir ein kräftigendes Mahl auftischen, damit du dich von deinem weiten Weg erholen kannst.«

In Sauls Ohren klang das abgeschliffene Jiddisch des Mannes so fremdartig, dass er nachfragen musste, weil er ihn nicht auf Anhieb verstand. In Hartenburg gingen er und Jochanan tagtäglich mit Einheimischen um, daher sprach er das dort gebräuchliche Deutsch fast besser als seine Muttersprache. Wenn er auf seine Wortwahl achtete und andere Kleidung trug, konnte er sich als Christ aus der Gegend des Schwarzwalds ausgeben, während Zofar ben Naftalis Diener schon beim ersten Wort als Jude erkannt werden würde.

Zufrieden, weil er dem anderen etwas Wichtiges voraus hatte, folgte Saul dem Mann in die Küche. Die Köchin, eine ältere, streng blickende Frau in sauberer, grauer Kleidung, stellte ihm wortlos einen Napf mit Brei und einen großen Becher Wasser hin, in den sie ein paar Tropfen Wein mischte. Saul versuchte, sie ein Gespräch zu verwickeln, um sie ein wenig über ihre Herrschaft und die jüdische Gemeinde auszuhorchen, doch die Frau blickte nicht einmal von ihrer Arbeit auf. »Iss und trink, damit du fertig bist, wenn der Herr dich rufen lässt!«

Es wurde so ungemütlich in dem blitzsauberen Raum, dass Saul froh war, als der Diener zurückkehrte und ihm an der Tür schon zurief, Zofar ben Naftali wünsche ihn auf der Stelle zu sehen.

»Mein Herr ist sehr besorgt über das, was unseren Brüdern in Sarningen zugestoßen ist, und hofft, du kannst ihm einiges darüber berichten. Aber schau, dass du ihm nicht nur die Zeit stiehlst.«

»Sei unbesorgt. Ich habe einige Neuigkeiten für deinen Herrn, wenn auch keine guten.« Leicht enttäuscht von der Kargheit der Einrichtung folgte Saul dem Diener durchs Haus und wurde hinter einer unscheinbaren Tür im ersten Stock von einer prächtigen Ausstattung überrascht, die er niemals hier vermutet hätte. Es war, als betrete er eine völlig andere Welt. Dicke Teppiche in glühenden Farben bedeckten die Böden, kunstvoll bestickte Stoffbehänge die Wände, und den zierlichen Möbeln aus dunklem Holz entströmte angenehmer Kampferduft.

Zofar ben Naftali, ein älterer Herr um die sechzig, saß in einer Fülle weicher, mit kostbaren Stoffen überzogener Kissen auf einem großen Sofa. Er trug einen prachtvollen Seidenkaftan, perlenbestickte Pantoffeln und einen Turban mit einem taubeneigroßen Saphir über der Stirn. Sein weißer Bart und seine Schläfenlocken waren mit Ölen gesalbt, deren Duft den ganzen Raum füllte. Neben diesem Mann würde Jakob ben Jehuda wie ein Trödelhändler gewirkt haben, fuhr es Saul durch den Kopf, und er empfand glühenden Neid auf einen Glaubensgenossen, der sich nach außen hin so bescheiden gab, wie es einem Juden zustand, in seinen eigenen vier Wänden jedoch wie ein Fürst aus dem Morgenland lebte.

Der Knecht war so damit beschäftigt, den Hausherrn anzustarren, dass er die zweite Person im Raum erst bemerkte, als er ein leichtes Hüsteln vernahm. Unwillkürlich drehte er sich um und entdeckte einen jungen Mann mit glänzend schwarzen Haaren und einem schmalen, spöttischen Gesicht, dessen Oberlippe von einem schmalen Bärtchen beschattet wurde. Der Mann war mit Sicherheit kein Jude, denn er trug eng anliegende Strumpfhosen von hellgrüner Farbe, ein vielfach gefälteltes rotes Wams mit breiten Schultern und weiten Ärmeln, die an den Ellbogen endeten und pludrige, weiße Hemdsärmel freigaben. Die Schuhe des Mannes waren modisch eng und wohl eher zum Reiten geeignet als zum Gehen. Für einen Edelmann war seine Tracht jedoch zu schlicht, daher nahm Saul an, dass es sich um den Sohn eines städtischen Patriziers oder eines reichen Fernhandelskaufmanns handelte.

»Du kommst tatsächlich aus Hartenburg?« Zofar ben Naftali musterte Saul ungläubig. »Ich habe gehört, dass es in der Gegend große Probleme für unsere Mitbrüder gab.«

»Samuel, der Sohn von Jakob ben Jehuda, schickt mich, Herr.«

Saul ging die Lüge weitaus leichter von den Lippen als Jochanan in Augsburg.

Der Bankier beugte sich interessiert vor. »Uns haben üble Nachrichten erreicht. In Sarningen soll es zu einem schlimmen Pogrom gekommen sein, gerade, als unser Bruder Jakob ben Jehuda dort zu Besuch weilte. Ist ihm etwas zugestoßen?«

»Mein Herr ist mausetot!«, antwortete Saul mit einem bitteren Auflachen. »Die Christen haben ihn wie einen Hund erschlagen und viele unserer Brüder und Schwestern mit ihm, nicht ohne ihnen vorher noch schreckliche Dinge angetan zu haben.«

»Was erzählt er?«, fragte in diesem Augenblick der Gast des Bankiers in jenem gestelzt klingenden Deutsch, das die christlichen Kaufleute im Reich zu benutzen pflegten. Seiner Aussprache nach musste er aus dem Norden stammen, aus einer der großen Küstenstädte am Meer.

Der Bankier warf seinem Gast einen leicht verwunderten Blick zu, übersetzte ihm dann aber Sauls Jiddisch in den örtlichen Dialekt, dem der junge Mann offensichtlich folgen konnte.

»Die schlimmen Dinge sind wohl eher den Schwestern angetan worden als den Brüdern«, antwortete dieser in einem Tonfall, der nicht verriet, wie er zu dem Gehörten stand.

Saul fasste die Bemerkung als Spott auf und ärgerte sich über den Hausherrn, der die Probleme seines Volkes vor einem Fremden besprach. Merkte er nicht, dass sein Gast sich am Unglück seiner Glaubensgenossen weidete? Wahrscheinlich steckte der Kerl in Schwierigkeiten und war zu Zofar ben Naftali gekommen, um Geld aufzunehmen und ein wertvolles Erbstück dafür zu versetzen, ein Geschäft, das Zofar ben Naftali, der jetzt schon in Geld schwamm, noch reicher machen würde. Der Neid schnürte Saul fast die Kehle zu, und ihn tröstete noch nicht einmal die Tatsache, dass der Bankier seine Schätze nur innerhalb seiner eigenen vier Wände präsentieren durfte. Außerhalb des Hauses musste auch er in einem schäbigen Mantel aus dunklem Stoff mit dem gelben Ring auf der Schulter und dem unbequemen spitzen, gelben Hut herumlaufen, wie es für Juden Vorschrift war. Zofar ben Naftali bedachte die Bemerkung des jungen Mannes mit einem nachsichtigen Kopfschütteln und blickte Saul fragend an. »Du sagst, Jakob ben Jehuda sei tot. Das ist eine sehr schlechte Nachricht. Was ist mit seinen Kindern? Ihnen geht es doch hoffentlich gut?«

»Sie waren ebenfalls mit in Sarningen, konnten aber dem Massaker entkommen. Elieser wurde schwer verletzt unter einem Berg von Leichen gefunden, seine Geschwister blieben jedoch ohne Schaden, weil eine gute Freundin der Familie sie in ihrem Keller versteckt hatte.« Da Zofar ben Naftali ihn weiter auffordernd anblickte, lieferte Saul ihm einen phantasievollen Bericht über das Pogrom in Sarningen, der keine Ähnlichkeit mit dem wahren Geschehen hatte.

»Gedankt sei dem Gott Abrahams, Isaaks und Israels, der den Kindern unseres Bruders Jakob ben Jehuda in dieser schweren Stunde beistand«, rief Zofar aufatmend, als Saul seine Erzählung beendet hatte. Er winkte ihn näher zu sich heran und reichte ihm seinen eigenen Weinbecher. »Trink, du hast es dir verdient.«

Der Wein war schwer und süß und schmeckte viel besser als jener, den Jakob ben Jehuda in seinem Haushalt hatte ausschenken lassen. In dem Moment erinnerte Saul sich an Leas Brief und leerte den Becher in einem Zug.

»Ich habe hier eine Nachricht für Euch, von Samuel.« Er reichte Zofar ben Naftali das Schreiben und gab ihm gleichzeitig den Becher zurück.

Der Bankier stellte das Trinkgefäß zu Sauls Enttäuschung auf einem niedrigen Tisch ab, nahm den Umschlag entgegen und erbrach das Siegel. »Samuel ben Jakob wünscht, dass ich dir die Summe übergebe, die sein Vater bei mir hinterlegt hat. Nun, das würde ich gern tun. Aber es ist nicht Sitte, das gesamte Geld einem Boten anzuvertrauen. Das muss der Besitzer oder sein Erbe schon persönlich abholen. Ich gebe dir fünfhundert Gulden mit. Richte Samuel bitte aus, dass er den Rest erhält, wenn er mich aufsucht.« Das klang so bedauernd, als überlege Zofar ben Naftali, ob er nicht doch mit der durch böse Erfahrung entstandenen Sitte brechen solle.

Saul schwindelte, als er die Summe vernahm. Fünfhundert Gulden waren mehr, als ein Dutzend Knechte zusammen im Lauf ihres gesamten Lebens verdienen konnten. Wenn er das Geld Lea brachte, würde es ihre Familie kaum reicher machen, als sie es bereits war. Behielt er es aber, würde er hinfort nicht mehr für geringen Lohn schuften müssen.

Er senkte den Kopf, weil er Angst hatte, seine Gedanken könnten sich auf seinem Gesicht abzeichnen. »Mein Herr benötigt das Geld sehr dringend. Ich bitte Euch daher, es mir umgehend auszuzahlen, damit ich noch heute aufbrechen kann.«

»Heute noch?«, fragte Zofar ben Naftali verwundert. »Bleib wenigstens bis morgen, denn dann kannst du den Abend unter Brüdern verbringen und mit uns in unserer Synagoge beten.«

Es gelang Saul, Enttäuschung zu heucheln. »Nichts wäre mir lieber, doch mein Herr hat mir aufgetragen, nicht zu säumen.«

Zofar stand seufzend auf. »Du entschuldigst mich für einen Moment. Ich komme gleich wieder«, sagte er zu seinem Gast und winkte Saul, ihm zu folgen.

Kurze Zeit später hielt Saul eine große Tasche aus festem Leder in der Hand, in die der Kaufherr kleine, vor seinen Augen abgezählte Päckchen mit Goldstücken gesteckt hatte. Er zog seine Oberkleidung aus und befestigte die Tasche mit Lederriemen an seinem Körper. Als er seinen Kaftan überstreifte, musste er den Wunsch bezwingen, auf der Stelle davonzulaufen. Er setzte ein devotes Lächeln auf, verneigte sich tief und bedankte sich in Samuels Namen. Dann verabschiedete er sich von Zofar ben Naftali und folgte dem Hausdiener, der ihn nach unten führte und aus dem Haus ließ. Kaum aber hatte sich die Haustür hinter ihm geschlossen, begann er zu rennen, als wäre der Teufel hinter ihm her, denn er hatte Angst, der Bankier könnte es sich anders überlegen und ihm das Geld wieder abfordern. Dabei entging ihm, dass Zofar ben Naftalis Gast oben am Fenster stand und ihm interessiert nachblickte.