4.

In den nächsten Tagen fühlte Lea sich in einem nicht enden wollenden Albtraum gefangen, der von Eliesers Stöhnen und Jammern und Rachels Klagen erfüllt war. Sie sehnte sich nach frischer Luft und Bewegung, doch Pfeiffer und seine Mutter erlaubten weder ihr noch ihrer Schwester, das Kellerloch zu verlassen, nicht einmal in tiefster Nacht. Da man ihnen auch keine Kerze mehr gab, waren sie gezwungen, alle Verrichtungen im Dunkeln oder im Schein eines schnell abbrennenden Kienspans zu erledigen, was Rachel immer wieder zu hysterischen Ausbrüchen veranlasste.

Leas einziger Lichtblick war Gretchen, die die Geschwister mit rührendem Eifer versorgte und dafür die Beschimpfungen ihrer Schwiegermutter in Kauf nahm. Ohne sie hätte Elieser den ersten Tag nicht überstanden, und Lea war fest davon überzeugt, dass sie selbst ohne den Zuspruch der Freundin längst wahnsinnig geworden wäre.

Gretchen dachte einfach an alles. Da sie wusste, dass die unfreiwilligen Gäste nach Regeln und Gesetzen leben mussten, die einem Christenmenschen fremdartig vorkamen, reichte sie ihnen gekochtes Gemüse und frisches Obst. Einmal schlachtete sie sogar gegen den wütenden Protest ihrer Schwiegermutter ein Huhn, um eine stärkende Brühe für Elieser zuzubereiten. Unermüdlich brachte sie Essen und Trinken herbei, leerte den Eimer, in den Lea und Rachel ihre Notdurft verrichteten, säuberte die Schale, die Lea ihrem Bruder unterschob, und berichtete ihnen alles, was in der Stadt vorging.

Alban von Rittlage hatte das Judenviertel gleich am nächsten Tag von seinen Soldaten besetzen lassen und einen Boten mit der Nachricht von dem Pogrom an die kaiserliche Verwaltung geschickt. Darin hatte er den Überfall als den Ausbruch momentaner Empörung der Sarninger Bürger wegen eines jüdischen Hostienfrevels dargestellt und gebeten, eine Rückkehr der Juden vorerst unterbinden zu dürfen, da der Zorn der braven Christenmenschen noch nicht verraucht sei. Gretchens Mann, der dem Vogt als Schreiber diente, hatte den Bericht selbst zu Papier gebracht.

Gretchen erzählte ihnen auch, dass es mehr Tote gegeben hatte als die, die Lea im Haus ihres Onkels gefunden hatte. Bruno, der Bader, und mehrere seiner Spießgesellen hatten die aus der Stadt fliehenden Juden verfolgt, und die, die sie zu fassen bekamen, in die Sarn geworfen und mit Stangen unter Wasser gedrückt, bis sie ertrunken waren. Andere hatten Frauen und Mädchen abgefangen, von denen zwei jünger gewesen waren als Rachel, und ihnen auf offenem Feld Gewalt angetan.

Lea musste an Mirjam und Noomi denken und hoffte, dass die beiden hatten entkommen können. Da sie selbst trotz ihrer sechzehn Jahre kaum weibliche Formen besaß und so schnell laufen konnte wie ein Junge, war sie fest davon überzeugt, dass sie einer Vergewaltigung hätte entgehen können. Die schöne Rachel mit ihren gezierten, bedächtigen Bewegungen wäre jedoch eine leichte Beute für die entfesselte Meute gewesen. Noch während Gretchens Bericht drückte Lea ihre Schwester an sich und dankte Gott für die Gnade, die er ihnen beiden hatte angedeihen lassen. Sie und Rachel würden Gretchen, deren Freundschaft selbst einer so feindseligen Umgebung wie dieser standhielt, ihr Leben lang dankbar sein.

Am Abend das fünften Tages, als Lea schon zu glauben begann, sie müsse den Rest ihres Lebens in ewiger Düsternis verbringen, kam Gretchen ganz aufgeregt in den Keller. »Peter sagt, ihr müsst morgen früh von hier fort. In der Stadt gehen Gerüchte um, einige Bürger hielten Juden versteckt, und man hat schon mehrere Häuser durchsucht, darunter das der Witwe Hauser, der man schon lange ein ungehöriges Verhältnis mit einem Juden nachgesagt hat. Tatsächlich hat man den Mann in ihrem Keller gefunden und erschlagen. Sie selbst ist auf den Marktplatz gezerrt, dort kahl geschoren und ausgepeitscht worden, und dann hat man sie nackt und blutend aus der Stadt gejagt.

Jetzt hat Peter Angst, uns könne es ebenso ergehen.«

Lea hob die Laterne, die Gretchen mitgebracht hatte, wies auf ihren Bruder, dessen Gesicht mehr einem Totenschädel als einem menschlichen Antlitz glich, und schüttelte den Kopf.

»Ich würde lieber heute als morgen aus diesem Loch herauskommen, aber Elieser ist nicht in der Lage zu reisen.«

Gretchen spreizte abwehrend die Hände. »Ihr müsst aber von hier verschwinden. Wenn ihr bleibt, werden wir alle sterben.«

Lea spürte, wie die Angst ihrer Freundin auf sie übersprang, und zuckte zusammen wie unter einem Schlag. »Rachel und ich können Elieser doch nicht bis Hartenburg tragen. Wir können von Glück sagen, wenn wir ungeschoren bis zum Stadttor kommen, aber spätestens dort werden uns die Wachen festnehmen und den Männern des Vogts ausliefern.«

»Davor brauchst du keine Angst zu haben. Peter wird euch einen Passierschein beschaffen, mit dem ihr Sarningen ungehindert verlassen könnt, und für Elieser geben wir euch unseren alten Handkarren mit. Mit dem kannst du deinen Bruder bis nach Hartenburg fahren.«

»Ich möchte nach Hause!«, wimmerte Rachel, die nur den Namen ihrer Heimatstadt verstanden hatte.

Lea stieß die Luft aus. »Das möchte ich auch.«

Gleichzeitig fragte sie sich, was sie zu Hause erwarten würde.

Jetzt, wo ihr Vater und Samuel tot waren, gab es niemanden mehr, der die Pflichten eines Hoffaktors erfüllen und die Geschicke der Familie leiten konnte. Auch Gerschoms Tod war ein herber Verlust, nicht nur für seine Frau Sarah und für seine beiden Kinder, sondern auch für sie, denn er hatte Jakob ben Jehuda auf allen Reisen begleitet und kannte seine Handelspartner. Er hätte ihr helfen können, mit den wichtigsten Leuten Kontakt aufzunehmen und an das Geld zu kommen, das die Familie in der nächsten Zeit dringend benötigte. Jetzt aber würde ihre Zukunft selbst dann, wenn sie lebend nach Hause kamen, von der Gnade Gottes abhängen.

Gretchen sah, dass Lea sich Sorgen machte, und strich ihr wie einem kleinen Mädchen über die Wange. »Es wird schon alles gut gehen. Ich versorge dich und deine Geschwister für die Reise, so gut ich kann.«

Lea war klar, dass sie Gretchen nicht umstimmen konnte, und sie sagte sich, dass Sonnenwärme und frische Luft Elieser eher gesunden lassen würden als die stickige, feuchte Kälte, die ihn jetzt umgab. »Also gut, wir brechen morgen auf. Hast du inzwischen in Erfahrung gebracht, was mit den Toten drüben in der Judengasse geschehen ist? Hat man sie wenigstens begraben?«

Lea wollte nicht fragen, ob man sie den wilden Schweinen vorgeworfen hatte, wie es mancherorts geschehen war, und atmete auf, als Gretchen eifrig nickte. Das Gesicht der jungen Frau verriet jedoch, dass sie log. Verärgert grub Lea ihr die Finger in die Schulter. »Bitte, sag mir die Wahrheit!«

Gretchen lief ein Schauer durch den Körper, und sie schlang die Arme um sich, als müsse sie sich wärmen. »Es war den Soldaten zu mühsam, eine Grube auszuheben, und so hat man die Toten einfach in die Sarn geworfen. Es tut mir so Leid für dich. Ich hoffe, dein Gott wird deinen Verwandten dennoch gnädig sein und sie bei sich aufnehmen. Es ist so schrecklich, was hier geschehen ist, und ich weiß nicht, ob ich in dieser Stadt noch einmal glücklich sein werde.« Sie sah so aus, als wollte sie noch etwas sagen, biss sich aber dann auf die Lippen, Lea ließ jedoch nicht locker. »Ich will alles wissen!«

Gretchen sah Rachel an, die verkrümmt wie eine alte Frau in ihrem Winkel saß, und senkte ihre Stimme. »In der Kanzlei erzählt man sich, dass unser Vogt am Tag des Pogroms von der Ankunft deines Vaters erfahren und befohlen haben soll, ihn und seine Angehörigen zu erschlagen. Alban von Rittlage soll Angst gehabt haben, dass dein Vater ihn mit Hilfe eures Markgrafen in Schwierigkeiten bringen könnte, und wenn er erfährt, dass wir die Kinder des Hartenburger Hoffaktors vor seinen Mördern versteckt haben, wird er mich und meinen Mann eines grausamen Todes sterben lassen. Ich lebe Tag und Nacht in Angst, dass man euch bei uns entdecken könnte.«

Lea brauchte einen Augenblick, um Gretchens Worte zu begreifen. Dann aber überschwemmte der schon einmal mühsam gebändigte Hass auf dieses Ungeheuer in Menschengestalt ihren Geist und ließ sie taumeln. Einige heftige Atemzüge lang kämpfte sie mit dem Wunsch, sich ein Messer zu besorgen, den Vogt aufzusuchen und ihn zu erstechen, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte. Jeder Versuch, den Tod des Vaters an dem Vogt zu rächen, würde sie und ihre Geschwister jenen unmenschlichen Grausamkeiten ausliefern, für die die Henkersknechte der Christen berüchtigt waren. Kraftlos sank sie in sich zusammen und hielt sich am Treppengeländer fest. »Wir brechen morgen auf.«

Gretchen atmete auf. »Das ist vernünftig von dir. Aber ihr dürft weder als Juden noch als zwei Mädchen zu erkennen sein, die ohne den Schutz eines Mannes reisen. Wenn ihr beide Frauenkleidung tragt, seid ihr unterwegs den Zudringlichkeiten jedes besoffenen Kerls ausgesetzt. Deswegen musst du, Lea, dich als Mann ausgeben. Ich habe ein paar alte Sachen von Peter so umgeändert, dass sie dir passen müssten. Rachel bekommt eines meiner Mädchenkleider, die ich aus Hartenburg mitgebracht habe. Ich bin gerade dabei, den Rock für sie zu kürzen. Elieser kann ich nur eines von Peters langen Winterunterhemden geben, denn sonst habe ich nichts für ihn. Aber wenn wir deinen Bruder in eine Decke wickeln und auf Stroh betten, dürfte er es warm genug haben.«

Bevor Gretchen ihre Pläne noch weiter erläutern konnte, rief ihre Schwiegermutter keifend nach ihr, und sie ließ die beiden Schwestern als Opfer widerstrebender Gefühle zurück.

Rachel stampfte mit dem Fuß auf. »Ich laufe doch nicht als Christin herum!«

Lea zuckte mit den Schultern. »Doch das wirst du, es sei denn, du willst deine Ehre und dein Leben noch in den Mauern dieser Stadt verlieren.«

»Und du? Willst du dich wirklich als Mann verkleiden?« Allein die Vorstellung verletzte Rachels Schamgefühl zutiefst. Gott hatte Männer und Frauen so geschaffen, dass man sie voneinander unterscheiden konnte, das gehörte zu den unumstößlichen Glaubensregeln ihres Volkes.

Als Lea nickte, sprang sie auf, packte ihre Schwester am Mieder und versuchte, sie zu sich herabzuziehen. »Ein Weib in Männerkleidung ist ein Gräuel vor dem Herrn. Ich werde nicht zulassen, dass man deinetwegen mit dem Finger auf unsere Familie zeigt!«

Lea löste ihre spitzen Fingernägel aus Stoff und Haut. »Willst du riskieren, dass uns jeder Strauchdieb ins Gebüsch zerrt und jeder Stallknecht aufs Stroh? Bei Gefahr für Leib und Leben ist List erlaubt. Hat nicht auch Abraham sein Weib Sarah als seine Schwester ausgegeben, um Pharao zu täuschen, und haben nicht Judith und Deborah Männerwerk getan, um das Volk Israels zu retten?«

Ihre Worte überzeugten Rachel nicht, aber da sie keine Antwort darauf wusste, wandte sie Lea mit einem missbilligenden Schnauben den Rücken zu und setzte sich zu Elieser. Der Junge dämmerte die meiste Zeit vor sich hin und hatte auch jetzt nichts von dem Streit zwischen seinen Schwestern mitbekommen. Rachel war sich jedoch sicher, dass er ihrer Meinung sein und, wenn er wach wurde, Lea den Kopf zurechtsetzen würde. Schließlich war er nach dem Tod des Vaters und ihres älteren Bruders das Oberhaupt der Familie, und ihre Schwester hatte ihm zu gehorchen.

Die Nacht wollte und wollte nicht enden. Lea schlief wie die Tage zuvor im Sitzen auf den hölzernen Treppenstufen, wachte aber immer wieder auf und starrte in die Dunkelheit, die noch nicht einmal durch das Funkeln eines Sterns hinter der Fensteröffnung durchbrochen wurde. Die Schwärze, die sie umgab, durchzog auch ihre Seele und presste ihr Herz wie mit eisernen Bändern zusammen. Sie fürchtete sich vor dem Morgen und trauerte um ihren geliebten Bruder Samuel, um ihren Vater, um Gerschom und um sich selbst und ihre beiden jüngeren Geschwister. Ihr war es, als wären sie alle schon tot und trieben als bleiche, kaum noch als Menschen zu erkennende Gestalten in einem tiefen, lichtlosen Wasser.

Als Lea die steif gewordenen Glieder streckte, wurde ihr bewusst, dass Resignation den göttlichen Geboten widersprach und ihr jede Chance nahm, den Gefahren, die nun auf sie warteten, die Stirn zu bieten. Sie kniff sich in die Arme, um sich zu beweisen, dass sie noch lebendig war, und genoss beinahe den Schmerz. Mehrmals sagte sie sich, dass sie ihre Sinne nicht von der Trauer um die Ermordeten gefangen nehmen lassen durfte, denn all ihre Sorge hatte nun ihren Geschwistern zu gelten.

Wenn sie Hartenburg lebend mit ihnen erreichen wollte, musste sie stark sein und diese Stärke auch an Schwester und Bruder weitergeben.

Als sie ihre Umgebung erkennen konnte, sah sie, dass Elieser wach war, und trat an sein Lager. Im Gegensatz zu den letzten Tagen jammerte und weinte er nicht, sondern starrte sie mit großen Augen an. Sie strich ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn und erklärte ihm leise, um die Schwester nicht zu wecken, was ihnen bevorstand und was sie tun musste, um ihn aus Sarningen hinauszubringen. Im Gegensatz zu Rachel akzeptierte er ihren Entschluss, sich als Mann zu verkleiden, und bestärkte sie sogar noch.

»Wenn wir hier bleiben, werden sie uns entdecken und uns schreckliche Dinge antun. Bitte, Lea, bring mich nach Hause! Ich weiß, dass du das kannst.«

Er streckte den gesunden Arm nach ihr aus und sank im nächsten Moment mit einem Wehlaut zurück. »Ich habe so schreckliche Schmerzen.«

»In Hartenburg wird sich ein Arzt um dich kümmern. Bis dahin musst du durchhalten.« Lea gab ihrem Bruder einen Schluck Mohnsaft, um seine Schmerzen zu lindern, und ließ ihn viel Wasser trinken. Dann blieb sie neben ihm stehen, bis er eingeschlafen war.

Gerade, als sie sich auf eine der Stufen sinken lassen wollte, wurde die Falltür hochgehoben, und rötliches Tageslicht fiel herein.

Oben stand Gretchen und streckte ihr einen Packen Kleider entgegen. Als Lea ihn ihr abgenommen hatte, griff sie nach dem Korb, im dem sie die Mahlzeiten und andere Sachen herbeizuschleppen pflegte, und stieg die Treppe hinab. Unten brachte sie als Erstes eine Schere zum Vorschein. »Natürlich müssen wir dir die Haare abschneiden. Es tut mir Leid um deine schönen Zöpfe, aber als Mann würdest du so nicht durchgehen.«

Lea warf unwillig den Kopf hoch. »Wer am Leben bleiben will, muss Opfer bringen.«

Das sollte gleichmütig klingen, aber ihre Stimme verriet, wie nahe sie den Tränen war. Sie wandte ihr Gesicht ab, schob eines der Gestelle in den Lichtkegel und setzte sich darauf.

»Mach schnell!«, bat sie die Freundin.

Gretchen schnaufte verlegen und setzte die Schere an. Während Lea die Zähne zusammenbiss, schrie Rachel bei jeder abgetrennten Strähne leise auf, wagte es aber nicht, ihrer Schwester Vorhaltungen zu machen.

Als Gretchen fertig war, trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Als Mann siehst du gut aus, Lea. Hätte ich nicht meinen Peter, könnte ich mich glatt in dich verlieben.«

Lea betastete ihren kahlen Nacken und schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken, so das Haus verlassen zu müssen, zwang sich aber zu einem Lächeln. »Das hast du gut gemacht.«

Gretchens ängstlicher Blick wich deutlicher Erleichterung. Damals in Hartenburg hatte Lea ihr einiges über jüdische Sitten und Gebräuche erzählt, und so konnte sie sich vorstellen, gegen wie viele Regeln ihre Freundin verstieß, wenn sie barhäuptig und als Mann verkleidet herumlief.

»Ich habe Übung darin, denn ich muss Peter auch immer die Haare schneiden. Esst jetzt schnell euren Morgenbrei und zieht euch an. Ich schaue inzwischen nach, wie weit mein Mann mit dem Handkarren ist.« Sie schob Lea den Korb hin und hastete die Treppe hinauf.

Lea teilte den Getreidebrei auf und reichte ihrer Schwester die größte Portion. Rachel nahm die Schale mit spitzen Fingern entgegen, so als fürchtete sie, sich an Lea zu beschmutzen, und löffelte immer noch lustlos, als Lea längst fertig war und Elieser fütterte. Um ihren Widerwillen deutlich zu machen, weigerte Rachel sich, das für sie bestimmte Kleid überzustreifen. Lea juckte es in den Fingern, ihre Schwester zu ohrfeigen, aber sie scheute eine weitere Auseinandersetzung und zog sie daher an wie ein kleines Kind. Dann bat sie sie freundlich, ihr zu helfen, Elieser den schmutzigen Kittel aus- und das frische Hemd anzuziehen. Rachel starrte angewidert auf das sackähnliche Gewand, das Gretchen ihrem Mann abgebettelt hatte und das ihren Bruder von Kopf bis Fuß einhüllen würde.

»Sag mal, bist du ganz von Gott verlassen? Du kannst ihn doch nicht nackt ausziehen. Es gehört sich nicht für eine fromme Jüdin, die Blöße eines Mannes anzusehen oder sie gar zu berühren.«

Lea schnaubte. »Ich werde ihn sogar dort waschen! Du kannst ja die Augen dabei zumachen. Das schmutzige, durchgeschwitzte Zeug muss weg, sonst erkältet Elieser sich draußen, und das wäre sein Tod. Wenn ich ihn aber ohne deine Hilfe bewege, werde ich ihm Schmerzen zufügen und vielleicht sogar seine Wunden aufreißen.«

Rachel verschränkte die Arme und zog sich in ihre Ecke zurück.

»Ich fasse keinen nackten Männerkörper an. Frag doch Gretchen.«

Lea presste ihre Hände an den Leib, um den Wunsch zu unterdrücken, den Kopf der Schwester so lange gegen die Wand zu schlagen, bis das Mädchen Vernunft annahm, und beschränkte sich darauf, Rachel mit einigen Ausdrücken zu belegen, die sie von Samuel gelernt hatte.

Als Gretchen zurückkehrte, hockte Rachel immer noch laut weinend in der Ecke. Lea hatte ihr den Rücken gekehrt und zupfte an den hautengen Hosen, die Gretchen ihr besorgt hatte und die bis auf eine gewisse Stelle über dem Schritt wie angegossen saßen.

Gretchen betrachtete sie von allen Seiten und deutete auf ihre Scham. »Die Stelle müssen wir noch ausstopfen. Hier, nimm mein Kopftuch. Das dürfte reichen.«

Da Lea sich zu ungeschickt anstellte, griff sie ihr in die Hose und zog und schob den Stoff unter Rachels missbilligendem Schnauben und Schniefen so lange hin und her, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.

»So gefällt es mir schon besser. Habt ihr euren Bruder schon angezogen? Nein? Dann wird es aber höchste Zeit! Komm, Lea, heb ihn an, damit ich ihn umkleiden kann.«

Lea richtete Elieser auf, der noch halb betäubt vom Mohnsaft war und schlaff in ihren Armen hing, und dann arbeiteten Gretchen und sie Hand in Hand, als hätten sie beide schon jahrelang Schwerkranke versorgt. Gretchen bemerkte die mörderischen Blicke, die Lea zwischendurch ihrer Schwester zuwarf, und fragte sich besorgt, wie die drei unter diesen Umständen den Heimweg schaffen wollten. Wenn Rachel sich weiterhin quer stellte, würden die Geschwister bald als Juden erkannt und misshandelt oder gar umgebracht werden. Für einen Augenblick überlegte sie, dem Mädchen gründlich den Kopf zu waschen, doch sie wusste noch von früher, dass Rachel nicht gewillt war, den Rat einer Andersgläubigen anzunehmen.

Als Elieser versorgt war, half Gretchen Lea, den Bruder nach oben zu tragen. Peter erwartete sie im Flur, während die alte Pfeifferin den Kopf neugierig zur Küchentür herausstreckte.

Als Gretchens Mann ihnen die Hintertür öffnete, um sie in den Garten hinauszulassen, blieb Lea kurz stehen und blickte die Frau mit vorgeschobenem Kinn an.

»In unseren eigenen Kleidern waren ein wenig Schmuck und ein paar Goldmünzen eingenäht. Die möchte ich wiederhaben, da wir unterwegs Geld für Unterkunft und Essen benötigen.«

Die Alte ballte die Rechte zur Faust, als wollte sie Lea schlagen, »Willst du Judenbalg mich vielleicht eine Diebin heißen? In den Lumpen, die ihr am Leib hattet, war rein gar nichts!«

Aus den Augenwinkeln konnte Lea erkennen, dass Peter Pfeiffer beschämt den Kopf senkte. Er sagte jedoch nichts, sondern winkte ihr und Gretchen zu, sich zu beeilen, und wies dabei auf einen zweirädrigen Handkarren, der zur Hälfte mit Stroh gefüllt war. »Ich hoffe, ihr kommt damit zurecht. Etwas Besseres besitze ich nicht, und ich konnte es nicht wagen, mir einen leichteren Wagen von den Nachbarn zu borgen.«

»Wir werden es schon schaffen.« Lea war froh um das klobige Gefährt, auch wenn sie nicht wusste, ob ihre Kräfte reichen würden, den Karren über die oft steil ansteigenden Straßen bis Hartenburg zu schieben. Halb im Stroh verborgen lagen ein prall gefüllter Wasserschlauch, zwei Brote und ein alter, fest zugebundener Topf, der wohl Suppe für Elieser enthielt. Lea schämte sich ein wenig, weil sie keine Dankbarkeit für die Hilfe empfand, sondern nur Erleichterung, endlich dieses Haus verlassen zu können.

Der Verlust des Schmucks schmerzte sie, nicht wegen der hundert Gulden, die der kleine Schatz wert gewesen war, sondern wegen der Erinnerungen, die an einigen dieser Stücke hingen.

Überdies hatte die alte Pfeifferin ihr vor Augen geführt, wie rechtlos sie als Jüdin war, und das war kein gutes Omen für den Heimweg und die Probleme, die zu Hause auf sie warteten.

Peter Pfeiffer schien Leas schlechten Eindruck verwischen zu wollen, denn er brachte ihnen noch einen großen Arm voll Heu und einen alten Sack als Unterlage für Elieser, damit der Kranke so bequem wie möglich liegen konnte, und er half auch, ihn vorsichtig auf den Karren zu betten. Dann drehte er sich so abrupt um, als täte seine Hilfsbereitschaft ihm Leid. Er scheuchte seine Mutter ins Haus, folgte ihr und zog grußlos die Tür hinter sich zu.

Gretchen hatte mit ängstlichem Blick gewartet, bis sie allein waren, und umarmte Lea nun bewegt. »Ich wünsche dir ganz viel Glück. Sei bitte vorsichtig und lass mich, wenn es dir möglich ist, wissen, ob ihr gut nach Hause gekommen seid. Hier, das ist für unterwegs. Ihr werdet es brauchen.«

Sie drückte Lea einen Leinenbeutel in die Hand, in dem ein paar Münzen klirrten.

Lea war noch so wütend über den Verlust ihres kleinen Schatzes, dass sie den Wunsch unterdrücken musste, ihrer Freundin das Geld vor die Füße zu werfen. Mühsam riss sie sich zusammen und steckte das Geschenk mit einem leicht gezwungenen Lächeln ein. Mit den Münzen würde sie die Herbergswirte bezahlen und hoffentlich auch frischen Mohnsaft für Elieser kaufen können. Im nächsten Moment ärgerte sie sich, weil sie nur an sich gedacht hatte. Gretchen würde es in der nächsten Zeit nicht leicht haben, denn ihre Schwiegermutter hatte so ausgesehen, als würde sie der jungen Frau den Widerstand gegen sie und die Tatsache, dass sie das Leben dreier ihr verhasster Juden gerettet hatte, noch lange nachtragen. Sie zog die Freundin an sich und stammelte ihr Dankesworte ins Ohr.

Gretchen erwiderte ihre Umarmung ebenso heftig und begann zu weinen. »Es tut mir so Leid um deinen Vater und Samuel.

Ich schäme mich für meine Mitbürger, und ich werde für deine Toten beten und auch für dich und deine Geschwister. Geh mit Gott, Lea. Ich … Oh, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen!« Sie löste sich aus Leas Armen, trat einen Schritt zurück und nestelte ein Stück Papier aus ihrer Schürze.

»Hier ist euer Passierschein. Er besagt, dass ihr aus Sarningen ausgewiesen werdet, weil euer Bruder im Verdacht steht, unter einer ansteckenden Krankheit zu leiden. Wenn ihr diesen Pass vorweist, wird man euch gewiss in Ruhe ziehen lassen. Schließlich haben die Leute vor kaum etwas mehr Angst als vor einer Seuche.« Sie lachte spitzbübisch auf, obwohl ihr immer noch die Tränen über die Wangen liefen, reichte Lea das Papier und verschwand im Haus, bevor diese sich noch einmal bedanken konnte.

Rachel machte ein Gesicht, als wollte sie vor Ekel ausspeien.

»Nichts als wohlfeile Worte! Gretchen ist auch nicht besser als die anderen Christen.«

»Du bist ein undankbares Geschöpf! Ohne Gretchen wären wir schmutzigen Kerlen zum Opfer gefallen, die uns unsere Ehre und unser Leben genommen hätten.«

Rachel deutete auf Leas Männerhosen und warf den Kopf in den Nacken. »So ein hässliches, dürres Gestell wie dich würde nicht einmal ein Christ anrühren.«

Einen Augenblick später saß ihr Leas Hand im Gesicht. »Höre mir gut zu, kleine Schwester! Wir haben einen harten Weg vor uns, und wenn du lebend und unversehrt nach Hause kommen willst, dann nimm dich zusammen, und halte vor allen Dingen den Mund. Denk daran, Eliesers Leben und seine Sicherheit hängen ganz von uns beiden ab, genau wie das Wohlergehen unserer Leute in Hartenburg, denn ohne unseren Vater sind sie wie Lämmer ohne ihren Hirten.«

Rachel schnaubte und sah mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wie Lea die Holme packte und den Karren anschob.

»Dieser Hirte willst wohl du sein?«

Lea deutete mit dem Kinn auf den schlafenden Bruder. »Elieser ist jetzt das Oberhaupt unserer Familie, und wir sind es ihm schuldig, ihn lebend nach Hause zu bringen.«

Ohne weiter auf ihre Schwester zu achten, lenkte Lea das Gefährt auf die Gasse hinaus. Zu ihrem Glück hatte Peter Pfeiffer die Naben gut eingefettet, daher ging es leichter, als sie erwartet hatte. Die eisenbereiften Räder knirschten auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse und kündeten den Wächtern am Tor ihr Kommen schon von weitem an.

Ein vierschrötiger Kerl in hautengen, erdbraunen Hosen und einem grauen Wams unter dem stählernen Brustpanzer senkte seine Hellebarde. »Wer seid ihr, und wo wollt ihr hin?«

Es war einer der Männer, von denen Jakob ben Jehuda sich bei der Ankunft in Sarningen hatte erniedrigen lassen, und Lea musste ihren Rücken anspannen, um nicht in die gleiche kriecherische Pose zu fallen wie ihr Vater. Sie sagte sich noch einmal die Namen vor, die sie auf dem Passierschein gelesen hatte, und hielt dem Mann das Pergament hin. »Ich heiße Leopold und das ist meine Schwester Radegunde. Wir haben unseren Bruder Meinrad zu einem Sarninger Arzt gebracht. Der hat ihm einen Trunk gegeben und gesagt, wir müssten die Stadt sofort wieder verlassen, weil seine Krankheit ansteckend sein könnte.«

Es war fast lächerlich, zu sehen, wie hastig der Torwächter vor ihnen zurückwich. »Eine ansteckende Krankheit? Dann macht, dass ihr verschwindet!«

Er winkte ihnen mit der Hellebarde, schneller zu gehen, und wies seine Kameraden an, den Weg freizugeben. Dem Passierschein schenkte er keinen Blick. Das mochte an seiner Angst vor Krankheiten liegen, aber Lea vermutete, dass er wie die meisten Christen nicht lesen konnte. Sie hatte sich schon oft über die Unwissenheit der Nichtjuden gewundert. Sie selbst beherrschte nicht nur die hebräische Schrift, sondern auch die mit lateinischen Buchstaben geschriebene deutsche Sprache. Das hatte Samuel ihr wie so vieles andere hinter dem Rücken ihres Vaters beigebracht, und nun verliehen ihr die heimlich erworbenen Fertigkeiten einen unschätzbaren Vorteil.

Sie verabschiedete sich freundlich von den Torwächtern und schob den Karren aus der Stadt. Rachel hatte beim Anblick der Wächter ihre Abneigung gegen Leas Kleidung vergessen und sich an einen Ärmel des blaugrauen Wamses geklammert. Erst als das Tor ein ganzes Stück hinter ihnen zurücklag, ließ sie Lea los und atmete so heftig durch, als hätte sie die ganze Zeit keine Luft geholt.

»Gott, der Gerechte! Das waren dieselben Kerle, die uns bei unserer Ankunft in Sarningen gezwungen haben, aus dem Wagen zu steigen. Ich hatte schon Angst, sie würden uns wiedererkennen.«

»Unsinn! Wie die meisten Leute sehen auch sie nicht weiter als bis zu ihrer Nasenspitze. Bei unserer Ankunft haben die Männer nur auf unsere jüdische Tracht und nicht auf unsere Gesichter geachtet, und jetzt waren wir für sie drei unbekannte christliche Geschwister. Aber wenn du dich weiterhin so anstellst, als hättest du etwas zu verbergen, werden die Leute misstrauisch.«

Rachel verzog das Gesicht und sagte etwas, das abfällig klang, aber da Lea es nicht verstand, begnügte sie sich damit, ihrer Schwester einen warnenden Blick zuzuwerfen. Vorhin am Tor hatte die Angst auch ihr beinahe das klare Denken geraubt, doch nun war sie guten Mutes, denn sie hatten die erste und vielleicht schwerste Etappe ihres Weges nach Hartenburg hinter sich gebracht. Wenn Rachel sich zusammenriss und sie nicht in Gefahr brachte, konnten sie in vier, fünf Tagen zu Hause sein.

Da Elieser sich unruhig herumwarf und vor Schmerzen wimmerte, schritt Lea kräftig aus, damit er so bald wie möglich in ärztliche Behandlung kam. Rachel, die nicht gewohnt war, barfuß zu laufen, jammerte vor sich hin, denn es fiel ihr schwer, mit ihrer Schwester Schritt zu halten. Sie wagte es aber nicht, sich zu beschweren, denn sie hatte schmerzhaft feststellen müssen, dass Lea nicht mehr so langmütig war wie früher.