Kapitel 19
Tag vier
Aurora, Kansas 2.47 Uhr
Der Vorgarten am Haus der Jeffers quoll über von Reportern und Fernsehkameras. Ein Lastwagen mit Satellitenantenne parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Kaldak stellte seinen Wagen zwei Blocks weiter unten ab und ging schnell auf die Eingangstür zu. Er kämpfte sich den Weg durch die Reportermeute und klingelte an der Tür.
»Seien Sie lieber vorsichtig«, warnte ihn einer der Fotografen.
»Als ich gestern nachmittag geklingelt habe, hat sie die Polizei gerufen, und die hätten mich beinahe über den Haufen gerannt.«
Das konnte er ihr nicht verübeln. Dieser Medienzirkus war unerträglich. Er klingelte noch mal.
Keine Reaktion.
Scheiß drauf. Er lehnte seine Schulter an die Tür und stemmte sich mit aller Kraft dagegen.
»Hey. Sind Sie verrückt geworden?« Der verschreckte Fotograf machte ein Foto von ihm, als er die Tür aufbrach.
»Sie sind schuld daran, wenn wir alle vom Grundstück gejagt werden. Die wird ein Riesengeschrei veranstalten –«
Kaldak hörte die letzten Worte schon nicht mehr, als er hineinging und die Tür hinter sich zuwarf. Der Flur war dunkel, aber aus einem der oberen Räume drang Licht.
Er mußte nicht lange warten. Eine Tür wurde aufgestoßen, und Donna Jeffers trat entschlossen auf den Treppenabsatz. Sie trug ein Nachthemd, darüber einen Morgenmantel, und sie hielt eine Pistole auf ihn gerichtet.
»Es tut mir leid. Ich werde die Reparatur der Tür bezahlen«, sagte Kaldak.
»Verschwinden Sie aus meinem Haus.«
»Ich muß mit Ihnen reden.«
»Sie begehen Hausfriedensbruch. Ich hätte das Recht, Sie über den Haufen zu schießen.«
»Stimmt. Aber glauben Sie, daß Sie den Ärger gebrauchen können? Wahrscheinlich haben Sie schon genügend Probleme.«
»Wer sind Sie überhaupt? Ein Reporter? Oder von der Polizei?«
»CIA. Darf ich raufkommen und mit Ihnen reden?«
»Von Ihrer Abteilung war schon einer hier und wollte mit mir reden. Alle möglichen Abteilungen der Regierung waren hier, um mit mir zu reden.« Sie schaltete das Flurlicht an und musterte ihn. »Sie waren doch schon mal hier. Breen.«
»Kaldak. Eine kleine Unwahrheit.«
»Sie haben Cody gesucht.« Sie kam die Treppe herunter.
»Es war noch gar nicht passiert, und Sie haben Cody schon gesucht.«
»Ich hatte den Verdacht, daß er damit zu tun hatte.«
»Warum zum Teufel haben Sie ihn dann nicht gefunden?
Warum haben Sie zugelassen, daß er das tut? Meine Freunde denken, ich hätte ein Monster großgezogen. Warum haben Sie ihn nicht aufgehalten?«
»Ich habe es versucht.« Er warf einen Blick auf die Pistole.
»Können Sie die mal runternehmen? Ich versuche, Ihnen zu helfen.«
»Sie wollen Cody schnappen, wie alle anderen auch.«
»Ich will vor allem den Mann, der ihn angeheuert hat. Und ich möchte, daß Sie Ihren Sohn dazu überreden, mir zu helfen. Aber die Leute da draußen sind darauf aus, einen Sündenbock zu finden. Das wird Ihr Sohn sein.« Er hielt inne.
»Und Sie gleich mit.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Was wollen Sie von mir?«
»Wenn er anruft, reden Sie mit ihm, aber machen Sie es kurz.
Wir wollen nicht, daß der Anruf zurückverfolgt wird. Wenn er ein Treffen verabreden will, lassen Sie sich darauf ein. Und machen Sie ihm klar, daß die Leitung abgehört wird, damit er sich nicht verrät.«
»Vielleicht ruft er nicht wieder an.«
Kaldak setzte sich an den kleinen Telefontisch im Flur.
»Wir können beide nur hoffen, daß er es doch tut.«
Das Telefon klingelte ein paar Stunden später. Kaldak ging an den Nebenapparat im Flur, während Donna Jeffers den Hörer in der Küche abnahm.
»Mama, leg nicht auf.«
»Ich kann nicht mit dir sprechen«, sagte Donna Jeffers.
»Bist du verrückt? Ich habe dir letztes Mal schon gesagt, du sollst nicht anrufen. Es ist doch klar, daß mein Telefon abgehört wird, nach allem, was du getan hast. Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht einsperren. Du hast mein Leben ruiniert, du Idiot.«
»Das wollte ich doch nicht, Mama. Das Geld war gefälscht, und ich dachte, das wäre alles. Ich brauche deine Hilfe. Du bist alles, was ich habe. Können wir uns an dem Ort treffen, wo ich meinen neunten Geburtstag gefeiert habe?«
»Nein, ich will mich da nicht reinziehen lassen.«
»Bitte, Mama.«
Sie schwieg.
»Ich werde dort auf dich warten. Ich bin sicher, daß du kommst.« Er legte auf.
Kaldak stellte überrascht fest, daß Donna Jeffers Tränen in den Augen hatte, als sie in den Flur trat. »Verdammter Bursche. Er ist so dumm. Man wird ihn ins Gefängnis werfen, und dann wird man ihn umbringen.«
Kaldak hätte sie am liebsten belogen, aber er ließ es lieber.
»Die Stimmung ist im Moment ziemlich aufgeheizt.«
»Ich liebe ihn doch.« Sie wischte sich die Tränen ab und straffte ihre Schultern. »Aber ich werde es nicht zulassen, daß er mich mit ins Verderben zieht.« Sie sah Kaldak trotzig an. »Sie halten mich für herzlos, stimmt’s?«
»Ich maße mir kein Urteil über Sie an.«
»Es spielt auch keine Rolle, was Sie denken. Ich habe für ihn immer alles getan, was ich konnte.« Sie ging zu ihrem Schlafzimmer. »Ich muß mich zurechtmachen und mir was anziehen«, sagte sie. »Dann können wir gehen. Wie wollen Sie mich durch diese Meute lotsen?«
»Genauso wie ich reingekommen bin.«
»Sie werden uns folgen. Genauso wie die Polizei.«
»Ich werde sie abhängen. Es wird vielleicht ein paar Stunden dauern, aber ich werde sie abhängen.«
»Pizza Hut?« fragte Kaldak.
Donna Jeffers zuckte die Achseln. »Alle Kinder lieben Pizza.«
Kaldak bog auf den Parkplatz ein und stellte den Motor ab. Es war kurz vor elf Uhr morgens, und das Restaurant hatte noch geschlossen. Drei weitere Autos standen auf dem Parkplatz.
»Wahrscheinlich beobachtet er uns aus der Entfernung«, sagte Kaldak. »Wir sollten aussteigen. Ich möchte, daß wir beide gut zu sehen sind. Er könnte es mit der Angst zu tun bekommen, wenn er hier auftaucht und mich im Wagen sieht. Dann haut er vielleicht wieder ab.«
Zehn Minuten verstrichen.
»Er kommt nicht«, sagte sie.
»Geben Sie ihm eine Chance. Er wird –«
Ein schwarzer Wagen raste die Straße entlang, bog auf den Parkplatz ein und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen.
Das Fenster wurde heruntergelassen.
»Wer ist das?« fragte Cody. »Warum bist du nicht allein gekommen, Mama?«
»Weil ich dir nicht helfen kann. Du bist diesmal zu weit gegangen.«
»Wer ist das?«
»Kaldak.« Sie schwieg einen Moment. »Er ist von der Regierung.«
Cody begann, das Fenster wieder hochzudrehen.
»Tu das nicht, Cody Jeffers.« Sie starrte ihn an. »Hast du mich verstanden? Du läufst vor dieser Sache gefälligst nicht weg. Ich will nicht, daß sie dich jagen und erschießen.«
»Er hat mich reingelegt, Mama. Ich hatte keine Ahnung, daß jemand sterben würde. Alle denken, ich wäre genauso wie er.«
»Dann liefere den Scheißkerl aus, verhandle mit ihnen.«
»Ich hab’ solche Angst, Mama«, flüsterte er mit Tränen in den Augen. »Ich hatte noch nie soviel Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Ich habe dir gesagt, was du tun sollst.« Sie trat zur Seite und wies auf Kaldak. »Du tust, was er dir sagt, und vielleicht kommst du dann lebend aus der Sache heraus.«
»Ich will nicht –« Als er ihren Blick sah, sackte er auf seinem Sitz zusammen. »In Ordnung. Was wollen Sie von mir?«
Ja. Kaldak bemühte sich, seine Erregung zu kontrollieren, als er auf ihn zutrat. »Zuerst will ich Informationen. Ich möchte alles wissen, was Sie gemacht haben, seit Esteban Sie in Cheyenne aufgegabelt hat.«
11.54 Uhr
»Sind Sie immer noch hier?« Yael eilte in das Krankenzimmer.
»Um Gottes willen, haben Sie noch kein Mittagessen bekommen, Bess?«
Bess rollte ihren Ärmel hinunter. »Jetzt könnte ich wirklich was vertragen. Alles, was sie mir geben, ist Orangensaft. Ich möchte wetten, daß all die Soldaten, die mich bewachen, Frühstück und Mittagessen bekommen haben.«
»Ich sehe mal nach, ob ich was besorgen kann. Ich habe Kaldak versprochen, mich um Sie zu kümmern.«
»Das machen alle hier. Ich bin doch völlig umzingelt.« Sie lächelte. »Sie beide scheinen zu glauben, daß Sie die einzigen sind, die die Dämonen verscheuchen können.«
»Nun, darin sind wir verdammt gut.« Er half ihr aufzustehen.
»Wie geht’s dem alten Mann, der heute morgen eingeliefert wurde?«
»Er hat gute Chancen. Donovan hat ihm eine der Kulturen verabreicht, die er aus einer der Blutproben von vergangener Nacht entnommen hat. Aber es dauert eine Weile, die Kultur vorzubereiten, und Donovan braucht einige in Reserve.«
»Vielleicht sollte ich ihn im Auge behalten. Diese übereifrigen Ärzte stellen möglicherweise eine größere Gefahr dar als Esteban. Irgendwann ist Ihr Blut alle, Bess.«
»Wenn Sie so sehr um mein Wohlergehen besorgt sind, dann bringen Sie mich runter in die Cafeteria. Ich sterbe vor Hunger.«
»Kein Problem.« Er zögerte. »Oder besser gesagt, nur zwei kleine. Erstens, ich werde Ihnen Ihr Mittagessen hierherbringen.
Sie sind in einer öffentlichen Cafeteria nicht sicher. Zweitens, draußen bei Donovan wartet ein ganzer Troß von Reportern. Sie haben von dem alten Mann gehört und werden sich auf die Geschichte stürzen.«
»Ich bin überrascht, daß Sie sie in meine Nähe lassen. Sie betrachten doch sonst alles als ein Sicherheitsproblem.«
»Sie sind alle durchsucht worden.« Er hob die Augenbrauen.
»Soll ich sie wieder wegschicken?«
Sie schüttelte den Kopf. Das war ein Teil des Plans, auf den sie sich eingelassen hatte, um Josie zu schützen. »Ich werde mit ihnen sprechen. Aber erretten Sie mich nach einer Viertelstunde, okay?«
»Wie Lancelot, der mit wehenden Fahnen herbeigeeilt kommt, um Ginevra zu retten.«
Sie zuckte zusammen. »Sagen Sie nicht so was. Ginevra ist in einem Kloster gelandet.«
Yael lachte.
»Haben Sie die Zeitungen heute morgen nicht gelesen? Die haben mir tatsächlich einen Heiligenschein verpaßt. Ich hätte mich beinahe übergeben.«
»Sie werden es überleben. Wenn Sie keine unnötigen Risiken eingehen.«
»Ich habe keine Todessehnsucht. Wenn ich sterben würde, würde Esteban alles bekommen, wofür er gemordet hat. Das wird nicht passieren. Haben Sie was von Kaldak gehört?«
»Noch nicht. Aber er hat mir versprochen, mich auf dem laufenden zu halten. Er wird uns nicht im dunkeln lassen, Bess.«
»Glauben Sie immer, was er sagt?«
Yael nickte. »Und das sollten Sie auch tun.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie glauben an Kaldak. Ich glaube an Josie und an Sie und ganz besonders an einen guten Hamburger mit Fritten.« Sie ging zur Tür. »Also wollen wir die Interviews hinter uns bringen, damit ich zu einem Mittagessen komme.«
Sie hatte die Interviews beendet und kehrte gerade in ihr Zimmer zurück, als Yaels Handy klingelte.
»Kaldak«, sagte er zu Bess und formte mit den Lippen die Worte: »Ich hab’s doch gesagt.« Sein Lächeln verschwand langsam, während er zuhörte. »Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist. Verdammt noch mal, erst sagst du mir, ich soll sie beschützen, und jetzt das? Ich werde sie auf keinen Fall dahin bringen –« Er schaltete das Handy aus. »Der Scheißkerl hat aufgelegt.«
»Was ist los?«
»Er hat rausgefunden, wo Esteban seine Blüten aufbewahrt.
Auf irgendeiner Farm an der Grenze zu Iowa. Er ist unterwegs dahin.«
Die Erregung packte sie. »Esteban …«
»Verschwenden Sie keinen Gedanken daran. Ich bringe Sie nicht dahin.«
Emily.
»Soll Kaldak sich um ihn kümmern. Bleiben Sie hier, wo Sie Gutes tun können.«
Alle sollen die Ungeheuer sehen.
Donovan hatte schon einen kleinen Vorrat an Blutproben für den Fall, daß noch irgend jemand ins Krankenhaus eingeliefert werden sollte. Das war ihre Chance, endlich das zu tun, was sie immer hatte tun wollen.
Sie konnte das Ungeheuer töten.
»Ich fahre hin.«
Yael schüttelte den Kopf.
»Sagen Sie nicht nein. Ich fahre. Bringen Sie mich hin, Yael.«
»Verflucht noch mal, nein.« Er hielt ihr das Telefon hin.
»Rufen Sie Kaldak an und sagen Sie ihm, er soll Sie abholen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist dort, Sie sind hier. Bringen Sie mich hin.«
»Und wie soll ich das anstellen? Sie sind zur Zeit die meist beachtete Frau in Amerika.«
»Sie haben es auch geschafft, mich aus meiner Wohnung herauszulotsen.«
»Das war etwas ganz anderes. Das war kein Quarantäne-Gebiet. Außerdem habe ich keine Möglichkeit, ein Flugzeug zu besorgen.«
»Dann besorgen Sie ein Auto. Bitte, Yael.«
»Sie machen einen Fehler.«
»Das stimmt nicht. Ich muß es tun.«
Er schwieg einen Augenblick, dann seufzte er resigniert.
»Verdammt noch mal, es sieht ganz so aus.«
Springfield, Missouri 14.37 Uhr
Irgend etwas war schiefgegangen. Jeffers müßte schon seit eineinhalb Stunden hiersein.
Estebans Hände umklammerten das Lenkrad. Bei der landesweiten Fernsehberichterstattung hätte er es mitbekommen, wenn Jeffers von der Polizei verhaftet worden wäre. Und das war nicht passiert.
Wenn Jeffers eins der Päckchen geöffnet hatte, dann lag er jetzt tot irgendwo an einer Straße.
Oder er hatte herausgefunden, was sich in den Päckchen befand, und war in Panik geraten. Er war vielleicht auf der Flucht, und das wäre überhaupt nicht gut. Er war nicht klug genug, auf Dauer seiner Festnahme zu entgehen.
Was auch immer der Grund für die Verspätung war, die Situation war nicht außer Kontrolle. Es bestand die Möglichkeit, daß es ihm nicht gelingen würde, Jeffers sauber zu erledigen, wie er es geplant hatte, aber der Mann wußte nur sehr wenig.
Daß Jeffers derjenige war, der das präparierte Geld an der Mühle versteckt hatte, ließ sich auch auf einfache Weise lösen.
Er mußte das Geld nur wegschaffen, und schon war Jeffers keine Bedrohung mehr.
Ja, alles würde so ablaufen, wie er es geplant hatte. Er mußte lediglich die Kontrolle über sich selbst bewahren, dann konnte er alles andere auch unter Kontrolle halten.
An der Grenze zu Iowa 15.48 Uhr
Die Flügel der Windmühle drehten sich gemächlich in der sanften Brise. »Das ist sie«, sagte Jeffers. »Hier habe ich das Geld abgeladen. Ich gehe nicht näher ran. Das können Sie nicht von mir verlangen, Kaldak.«
»Sie brauchen nicht hinzugehen.« Kaldak stieg aus dem Wagen. »Fahren Sie zwei Meilen die Straße hinunter bis zu der Brücke, parken Sie so, daß man Sie nicht sehen kann, und warten Sie dort auf mich.«
»Und was ist, wenn Sie nicht zurückkommen? Wenn mich jemand sieht? Sie haben Mama versprochen, daß ich in Sicherheit wäre.«
»Warten Sie einfach auf mich.« Seine Bauchmuskeln spannten sich, als er auf die Windmühle starrte. All die Jahre der Nachforschungen, und alles führte hierher.
Keine Autos zu sehen. Das konnte schlecht sein oder auch gut.
Entweder hatte Esteban das Geld schon abgeholt, oder er war noch gar nicht hiergewesen, was Kaldak die Möglichkeit geben würde, ihm eine Falle zu stellen.
Verdammt, er wünschte, er hätte Zeit gehabt, an dem Treffpunkt zu sein, den Esteban für dreizehn Uhr mit Jeffers ausgemacht hatte. Aber vielleicht klappte alles doch noch. Wenn Esteban zu dem Treffpunkt in Springfield gefahren war, der Hunderte von Meilen von hier entfernt lag, dann konnte er jetzt noch nicht hiersein.
Wenn. Vielleicht. Wann hatte Esteban je das getan, was man erwartet hatte?
Vielleicht hatte er auch das Treffen sausenlassen, hatte statt dessen in dem Waldflecken im Süden geparkt und sich zu Fuß auf den Weg zur Mühle gemacht. Womöglich wartete er dort auf Nachrichten in bezug auf seine Forderung.
Oder vielleicht war der verdammte Ort auch vermint, wie die Werkstatt in Waterloo.
Es spielte keine Rolle. Er konnte jetzt nicht aufhören. Esteban war zu nahe.
Er machte sich auf den Weg zur Windmühle.
19.33 Uhr
Eine Windmühle, dachte Bess. Eine hübsche steinerne Windmühle, die im Mondlicht schimmerte. Der Tod lauerte, sauber verpackt, in dieser Windmühle. Sie hatte Windmühlen immer gemocht. In Holland mußte sie Hunderte von ihnen fotografiert haben.
»Keine Autos. Kaldak scheint noch nicht hierzusein, also gehe ich wohl zuerst rein.« Yael zögerte. »Sie haben es sich nicht anders überlegt?«
Sie schüttelte den Kopf. Er wollte nicht nachsehen, ob Kaldak, sondern ob Esteban da war. »Seien Sie vorsichtig.«
Er lächelte. »Immer.« Sie blickte ihm hinterher, als er im Schatten verschwand. Kurz darauf kam er heraus und winkte ihr.
Sie rannte zu ihm. »Kaldak?«
»Noch nicht.« Er hielt ihr die Tür auf, und sie trat in die Dunkelheit. »Aber das Geld ist hier. Das heißt, es gibt einen Weg, Esteban zu schnappen. Ich zünde die Laterne an.«
Es war stockfinster. Sie konnte absolut nichts erkennen. Wie hatte er das Geld sehen können?
»Ich mach’ das schon«, sagte Esteban.
Sie erstarrte.
Esteban zündete die Laterne am anderen Ende des Raums an.
Er hielt eine Pistole in der Hand. »Genau rechtzeitig, Nablett.
Ich bin auch gerade angekommen.«
»Es war nicht ganz einfach, sie aus Collinsville herauszulotsen«, sagte Yael. »Ich kann froh sein, daß ich es überhaupt geschafft habe. Ich glaube, Sie schulden mir einen Bonus.«
Sie starrte ihn schockiert an.
»Es tut mir leid, Bess«, sagte Yael sanft. »Das Angebot war einfach zu großzügig, um es mir entgehen zu lassen.«
»Sie sind in diese Sache verstrickt?« flüsterte sie. »Sie haben die ganze Zeit für ihn gearbeitet?«
»Nein, ich habe lediglich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, als sie sich bot.«
»Er kam zu mir und bot mir die Möglichkeit, Mexiko schnell und unauffällig zu verlassen«, sagte Esteban. »Und jede Hilfestellung, die ich benötigte, im Austausch gegen einen bescheidenen Anteil des Lösegeldes.«
»Zwei Millionen Dollar mögen Ihnen ja wenig erscheinen, mir jedoch nicht. Ich bin in einem Kibbuz aufgewachsen.«
Bess fühlte sich elend. Jeder, nur nicht Yael. Yael war keins von den Ungeheuern. »Welche … Hilfestellungen?«
»Wieso? Sie natürlich«, sagte Esteban.
Mord. Er sprach von Mord. »Yael hat mir das Leben gerettet.«
»Na ja, er hat darauf bestanden, daß seine Kontakte zur israelischen Regierung nicht beeinträchtigt werden dürften. Er möchte sauber aus dieser Sache herauskommen. Deshalb durfte es nicht geschehen, solange er den Auftrag hatte, Sie zu bewachen.«
Yael machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist jetzt alles nicht mehr wichtig. Ich habe meine Brücken abgebrochen, indem ich sie zu Ihnen gebracht habe. Wie ich schon sagte, dafür steht mir eine Prämie zu.«
Bess konnte es immer noch nicht glauben. Yaels Verrat machte sie fassungslos. »Kaldak hat Sie also gar nicht angerufen und Ihnen gesagt, Sie sollen herkommen, stimmt’s?«
Yael schüttelte den Kopf.
Mein Gott, er hatte sie auf raffinierte Weise hintergangen. Er hatte gewußt, daß er ihr lediglich Esteban in Aussicht stellen mußte, und schon wäre sie bereit, alles Erdenkliche zu unternehmen, nur um ihn zu schnappen. »Aber Sie haben mir sogar angeboten, Kaldak anzurufen. Was hätten Sie gemacht, wenn ich das getan hätte?«
»Ich hätte Ihnen angeboten, ihn für Sie anzurufen, und er wäre leider gerade nicht zu erreichen gewesen.« Er erwiderte ihren Blick. »Ich bedaure, daß ich das tun mußte, Bess. Aber sie fingen an, Esteban nervös zu machen.«
»Ich war nicht nervös. Sie ist nur eine Frau. Ich habe immer gewußt, daß ich einen Weg finden würde, sie loszuwerden.«
Estebans Hand spannte sich um die Pistole. »Und jetzt, wo Sie sie hergebracht haben, freue ich mich schon darauf, sie zu beseitigen. Und glauben Sie mir, es wird mir das allergrößte Vergnügen bereiten.«
»Soll ich das nicht für Sie erledigen?« fragte Yael.
»Sie machen sich Sorgen um Ihre Prämie? Nein, sie gehört mir. Mischen Sie sich nicht ein.« Er legte die Pistole auf Bess an. »Von diesem Augenblick habe ich geträumt. Haben Sie eine Ahnung, wie viele Schwierigkeiten Sie mir bereitet haben?«
Er würde sie töten.
Entsetzen packte sie. Sie wollte nicht sterben. Sie hatte noch so viel vor.
Verdammt, sie würde nicht sterben. Es mußte eine Möglichkeit geben. Nachdenken. Einen Weg finden, ihn hinzuhalten.
»Ich bin froh darüber, daß ich Ihnen Schwierigkeiten bereitet habe«, sagte sie. »Und die werden weitergehen. Selbst wenn Sie mich töten, werden sie weitergehen. Man wird Ihnen das Geld nicht geben. Ich habe ihnen genug Blut überlassen, um ein Gegenmittel zu entwickeln. Sie werden es finden. Morgen.
Vielleicht schon heute.«
Er starrte sie an. »Das ist nicht wahr.«
»Doch, es ist wahr.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
»Man wird Ihnen das Geld niemals geben. Warum auch?
Wenn Sie dieses Zeug in New York abladen, wird es nicht mehr als einen lästigen Zwischenfall verursachen. Niemand wird sterben.« Sie stand nur noch einen Meter von ihm entfernt.
»Außer Ihnen. Man wird Sie töten. Man wird Sie in Stücke reißen für Collinsville.« Ihr fiel noch etwas anderes ein. »Und die Ratten werden Sie fressen. Sie werden an Ihrem Fleisch zerren und sich über Ihre Augen hermachen. Sie werden Sie verschlingen wie –«
»Nein«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
»Lügnerin. Miststück. Es wird nicht –«
Sie griff nach der Pistole.
»Hure.« Er schlug ihr mit dem Lauf auf den Kopf.
Schmerz.
Sie fiel …
Durch dunklen Nebel konnte sie sehen, wie Esteban die Pistole auf sie richtete.
»Esteban.«
Kaldak!
Blitzschnell tauchte er aus den Schatten hinter Esteban auf, warf sich zwischen sie und holte Esteban von den Füßen.
Der Schuß wurde gedämpft von Kaldaks Körper. Er brach zusammen, und die Waffe schlidderte über den Boden.
Bess befiel Todesangst. »Nein.«
Panisch zog sie Kaldak von Esteban weg.
Blut. Alles war voller Blut. Seine Brust … Kaldak bewegte sich nicht.
Esteban kroch über den Fußboden und versuchte, an die Pistole zu kommen.
Sie war vor ihm da. Ihre Hand schloß sich um den Griff, sie warf sich herum und zielte auf Esteban.
»Halten Sie sie auf.« Esteban heftete den Blick auf Yael, der hinter ihr stand. »Töten Sie sie.«
Sie erstarrte.
»Aber das wollten Sie doch selbst tun«, sagte Yael. »Ich glaube wirklich nicht, daß ich mich da einmischen sollte.«
»Töten Sie sie.«
»Wollen Sie es wirklich tun, Bess?« fragte Yael.
Kaldak. Emily. Danzar. Nakoa. Tenajo. Collinsville.
»Ich sehe doch, daß Sie es wollen«, sagte Yael. »Dann würde ich vorschlagen, Sie erschießen den Hurensohn.«
Sie drückte auf den Abzug.
Die Kugel schlug durch Estebans Stirn.
Sie schoß noch einmal.
»Das reicht«, rief Yael. »Einmal hätte schon genügt.«
Sie wirbelte herum und zielte auf ihn.
Er nahm die Hände hoch. »Ich bin keine Bedrohung für Sie, Bess.«
»Sie können mir viel erzählen.«
»Sie können Ihre Zeit jetzt mit der Entscheidung vergeuden, ob Sie mich töten wollen, oder ob Sie lieber zusehen, wie wir Kaldak retten. Ich glaube, er lebt noch.«
Sie warf einen Blick zu Kaldak. Lebte er? Da war soviel Blut gewesen …
Yael kniete sich neben Kaldak und legte ihm die Finger an den Hals. Er nickte. »Er lebt.«
»Rühren Sie ihn nicht an.«
»Ich habe eine Pistole. Ziehen Sie doch mal die Möglichkeit in Betracht, daß ich Sie jederzeit hätte töten können.«
»Esteban hatte Ihnen gesagt, Sie sollten sich nicht einmischen.«
»Haben Sie mich jemals so nachgiebig erlebt?« Er riß einen Streifen von Kaldaks Hemd ab und machte ihm einen Druckverband. »Und jetzt kommen Sie her und helfen mir. Es gefällt mir gar nicht, daß er so stark blutet.«
Sie durchquerte den Raum, kniete sich hin und schloß die Arme um Kaldak.
»Sie halten den Verband gepreßt, während ich die 911
anrufe«, sagte Yael.
Sie preßte ihre Hände auf die Wunde in Kaldaks Brust.
»Rufen Sie an. Schnell.«
Esteban war tot, und Kaldak lebte. Es war ein Wunder, und das würde sie sich nicht wieder nehmen lassen. Sie würde Kaldak nicht sterben lassen.
Die Sanitäter schoben Kaldak vorsichtig auf die Trage in den Krankenwagen, und Bess nahm neben ihm Platz. Sie sah Yael draußen stehen. »Kommen Sie mit?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Sanitäter haben die Polizei gerufen. Ich habe noch etwas zu erledigen, bevor sie eintreffen.
Wir sehen uns im Krankenhaus.«
Würde er kommen? Oder wollte er die Gelegenheit zur Flucht nutzen? Yaels Verhalten hatte sie zutiefst verwirrt. Es bestand kein Zweifel, daß es geheime Absprachen zwischen ihm und Esteban gegeben hatte. Dennoch hatte er sich zurückgehalten, als er sie hätte toten können, und er hatte sich mit ihr zusammen darum bemüht, Kaldak zu retten.
Die Sanitäter warfen die Tür zu, und kurz darauf raste der Krankenwagen Richtung Schnellstraße.
Kaldak war immer noch bewußtlos und ganz bleich. Sie wischte ihre Tränen ab und nahm seine Hand.
»Stirb mir bloß nicht«, flüsterte sie. »Halt durch. Wage es nicht zu sterben, Kaldak.«
Sie spürte die Vibrationen im Krankenwagen, bevor sie die Explosion hörte.
Sie warf den Kopf herum und blickte aus dem Rückfenster.
Die Windmühle zerbarst in Stücke wie ein Spielzeug, dann wurde sie von den Flammen verschlungen, die in den Himmel schlugen.