Kapitel 9

Es war fast halb zehn morgens, als De Salmo am Hartsfield Airport aus dem Flugzeug stieg, und kurz vor zehn, als er in einem gemieteten schwarzen Saturn den Parkplatz verließ.

Er warf einen Blick auf den Stadtplan und fuhr auf der Schnellstraße 1-75 Richtung Norden.

Es goß in Strömen, aber der Verkehr floß ruhig. In einer halben Stunde müßte er das CDC erreichen. Mit etwas Glück konnte er seinen Auftrag sehr schnell erledigen.

Kaldak und Bess brauchten auf der 1-75 South fast eine Stunde bis zum Hauptgebäude des CDC. Kaldak bog auf den Parkplatz ein und stellte den Motor ab.

»Gehen wir nicht hinein?« fragte Bess, als er keine Anstalten machte auszusteigen.

Kaldak schüttelte den Kopf. »Ed wird uns hier treffen. Er ist ein vorsichtiger Mann.«

»Wenn er vorsichtig wäre, dann würde er sich nicht mit Ihnen einlassen.« Sie versuchte, durch die Windschutzscheibe etwas zu erkennen. »Außerdem wird er ganz schön naß werden.«

»Was seiner Laune eher abträglich sein dürfte.« Er nickte in Richtung eines großen, schlaksigen Mannes im Trenchcoat, der über den Parkplatz rannte. »Da ist er ja.«

Ed Katz war Anfang Vierzig, hatte braunes Haar, eine Stirnglatze und ein schmales sommersprossiges Gesicht. Er öffnete die hintere Tür, duckte sich in den Wagen und schlug die Tür zu. »Das ist ein schlechtes Zeichen.«

»Der Regen?« fragte Kaldak.

Katz nickte düster. »Ein schlechtes Zeichen.« Er erstarrte, als er Bess bemerkte. »Wer ist das?«

»Eine Freundin.«

»Na, wunderbar. Warum lädst du nicht gleich den Rest der Welt auch noch ein?«

»Sie hält dicht.«

»Bis man sie auffordert, gegen mich auszusagen.«

»Niemand wird gegen dich aussagen.«

»Ach ja? Wenn das hier auffliegt, sind wir alle geliefert.«

Er drückte Kaldak den Aktenkoffer, den er bei sich hatte, in die Hand. »Nimm das hier und laß mich wieder abhauen.«

»Danke, Ed.«

»Und komm mir jetzt mit nichts anderem mehr. Du weißt genau, daß du das besser als ich gemacht hättest. Das war ein Sauzeug.«

»Hast du das Ergebnis doppelt überprüft?«

»Ich bin fast sicher, daß es positiv ist, aber die Probe war schon zu alt. Wir brauchen einiges mehr davon, um sicherzugehen.«

»Verstehe. Ich kümmere mich darum.«

»Beeil dich. Und bis dahin will ich von dir nichts hören.«

Kaldak nickte. »Ich werde dich nicht unnötig belästigen.«

»Dann sieh gefälligst zu, daß es nicht nötig ist.« Er stieg aus dem Wagen. »Wir sind quitt, Kaldak.« Er zögerte, Regen tropfte von seinem Gesicht, während er Kaldak anstarrte.

»Es ist wirklich ein Sauzeug. Wird es dir gelingen, irgend etwas dagegen zu unternehmen?«

»Wenn meine Freunde mich nicht im Stich lassen.«

»Ich bin nicht dein Freund. Hast du das kapiert, Kaldak? Ich bin nicht dein Freund. Komm mir ja nicht wieder damit, es sei denn, du weißt, wie du die ganze Sache verhindern kannst.«

»Nur wenn’s nötig ist.« Als Kaldak rückwärts aus der Parkbucht setzte, mußte er eine Vollbremsung machen, um nicht einen schwarzen Saturn zu rammen, der auf den Parkplatz gerast kam. »Ich rufe dich an.«

»Bloß nicht.«

Der schwarze Saturn war vorbeigefahren und suchte eine Parkbucht in der nächsten Reihe. Kaldak setzte zurück und bog in die Ausfahrt.

Bess warf einen Blick zurück und sah Katz im Regen stehen.

Er schaute ihnen immer noch nach. »Er hat Angst.«

»Wir alle haben Angst, oder?«

Aber sie hatte mit Erschütterung festgestellt, wie erschrocken selbst ein Fachmann über die Testergebnisse war. Plötzlich fiel ihr etwas ein, das Katz gesagt hatte. »Er meinte, Sie könnten die Tests selber machen. Stimmt das?«

»Mit der richtigen Ausrüstung.«

»Demnach sind sie ebenso Arzt wie Katz?«

»Niemand ist wie Katz.«

»Keine Ausflüchte. Ist es so?«

»Ja. Vor langer Zeit. Ed und ich haben zusammen studiert.«

»Und warum –«

»… ich es aufgegeben habe und statt dessen Menschen töte?«

vollendete Kaldak den Satz. »Ein Mann braucht Zeit, seine wahre Berufung herauszufinden. Katz führt ein ziemlich langweiliges Leben.«

Es war offensichtlich, daß Kaldak nicht die Absicht hatte, ihr noch mehr zu erzählen. Doch Katz’ Bemerkung warf ein ganz neues Licht auf Kaldak.

Tat es das wirklich? Er war ihr vom ersten Moment an, als sie ihm begegnet war, ein Rätsel gewesen.

»Denken Sie nicht darüber nach.« Kaldak warf ihr einen raschen Blick zu, während er die Autobahn ansteuerte. »Ich hatte nicht vor, Sie mit meinen unzähligen Qualifikationen zu beeindrucken. Behandeln Sie mich einfach als ganz gewöhnlichen Killer. Ich nehme an, das gefällt Ihnen besser.«

Mistkerl.

Sie wechselte das Thema. »Wird er uns helfen, wenn wir ihn brauchen?«

»Er wird uns helfen.«

»Er hat den ganzen Tag mit gefährlichen Bakterien zu tun.

Warum erschreckt ihn das Anthrax dermaßen?«

»Weil es in Geld verpackt daherkommt. Er begreift das Ausmaß. Geld lebt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Geld ist bloß Papier.«

»Wirklich? Nehmen Sie einen Zwanzig-Dollar-Schein aus Ihrer Geldbörse.«

»Was?«

»Machen Sie schon.«

»Das ist doch Blödsinn.« Sie öffnete ihre Handtasche, nahm ihr Portemonnaie und zog einen Zwanzig-Dollar-Schein heraus.

»Das ist nur Papier.«

»Zerreißen Sie es.«

Instinktiv umklammerte ihre Hand den Geldschein. »Das ist lächerlich. Vielleicht brauchen wir es.«

»Sehen Sie? Es ist nicht nur Papier, es lebt. Mit diesem Zwanzig-Dollar-Schein können Sie Ihre Kinder auf die Schule schicken, Ihre Wohnung bezahlen, Ihren Job hinschmeißen, der Sie nervt, einen Schuß Heroin kaufen, mit dem Sie Ihren Körper von Schmerzen erlösen. Wer wird den Schein zurückweisen, selbst auf die Gefahr hin, daß er verseucht ist?

Die meisten Leute glauben doch, daß die schlimmen Sachen immer nur den anderen passieren.«

»Ich kann ihn immer noch zerreißen.«

»Dann machen Sie’s doch.«

Sie zerriß den Schein in zwei Hälften.

»Gratuliere.« Dann lächelte er. »Und was machen Sie jetzt damit?«

»Ich stecke die Teile wieder in mein Portemonnaie.«

»Um sie später wieder zusammenzukleben?«

Ihre Augen weiteten sich, als ihr bewußt wurde, daß sie genau das vorhatte. »Ich müßte ja bescheuert sein, das Geld nur wegen eines lächerlichen Experiments zu vernichten.«

»Richtig.« Er bog auf die Autobahn ein. »Man sagt, Selbsterhaltung sei das erste Gebot. Meinen Sie nicht auch, daß dieser Zwanzig-Dollar-Schein sich gerade selbst erhalten hat?«

Geld lebt. Die Vorstellung war lachhaft. Nein, sie war erschreckend. Weil Bess jetzt begriff, was der Satz bedeutete.

Geld war nicht nur ein Zahlungsmittel, es war verwoben mit dem Leben und den Träumen der Menschen. Esteban hätte sich kein unwiderstehlicheres Lockmittel für die Verbreitung der Bakterien aussuchen können. »Teuflisch.«

»Stimmt.«

»Aber wenn die Menschen es wüßten, würden Sie es bestimmt zurückweisen.«

»Vielleicht. Aber wenn es erst mal soweit ist, daß sie Geld zerreißen oder es verbrennen, dann haben wir ein richtiges Problem. Was glauben Sie, zu welchen Gefühlen man Menschen treiben muß, bis sie Geld verbrennen?«

Verzweiflung. Verbitterung. Wut.

»Das wäre die Anarchie. Genau die Situation, die Habin haben will. Es war seine Idee, das Geld zu benutzen. Er hat sieben Jahre lang an dem Plan gearbeitet, die Druckplatten in Denver zu stehlen.«

»Wo wird denn das Falschgeld hergestellt?«

»Die Pesos haben sie in einer unterirdischen Werkstatt in Libyen gedruckt. Ich schätze, die US-Dollars drucken sie woanders.«

»Wo?«

»Ich würde wetten, irgendwo in den Staaten.«

»Sie wissen es nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber es wäre sinnvoll, das Anthrax nicht durch die ganze Welt transportieren zu müssen.«

»Lieber Himmel, was wissen Sie darüber?«

Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Ich habe Hinweise auf Waterloo, Iowa, entdeckt.«

»Und wie?«

»Esteban ließ einen Leutnant beseitigen, als er sich zu sehr dafür interessierte, was in Tenajo vor sich ging. Danach habe ich dessen Habe durchsucht.«

Nachdem Kaldak selbst den Leutnant getötet hatte. Diese Schlußfolgerung ließ sich nur zu einfach ziehen.

»Ja.« Er beantwortete die unausgesprochene Frage. »Und hätte ich Galvez nicht erledigt, hätte ich zu wenig Informationen gehabt, um den Versuch zu unternehmen, Sie aus San Andreas rauszubringen.«

»Ich habe doch gar nichts gesagt. Ich wünschte nur, es hätte Esteban getroffen.«

»Na, na, wir werden ja richtig blutrünstig.«

»Waterloo, Iowa.« Sie schüttelte den Kopf. Ein geheimes Labor in Libyen oder sogar in Mexiko konnte sie sich vorstellen, aber doch nicht im Herzen von Amerika. »Dann befinden sich also das Labor und die Fälscherwerkstatt in Iowa?«

»Wahrscheinlich. Höchstwahrscheinlich wurde die Blütenproduktion an denselben Ort verlegt, an dem sich auch das Labor befindet.«

Alles an Ort und Stelle, bereit zum Losschlagen. »Aber wo ist das Ziel?« murmelte sie. »Und wie finden wir es heraus?«

Einen Moment lang sah sie, daß sich sein Gesichtsausdruck veränderte. »Haben Sie mich belogen? Wissen Sie, wo der Schlag losgehen soll?«

»Ich habe Sie nicht belogen. Ich bin mir nicht sicher.«

»Aber Sie haben eine Ahnung?«

»Ich habe bei Galvez ein Fax von Morrisey aufgefunden, einem Mann, der offensichtlich als eine Art Kundschafter fungiert. In dem Fax stand, er, Morrisey, würde sich demnächst nach Cheyenne begeben.«

»Wollen Sie sie nicht warnen?«

»Es war nur eine Bemerkung am Rande. Keine eindeutige Drohung. Sollte ich eine ganze Stadt in Aufruhr versetzen, auch wenn es sich als gegenstandslos erweist?«

»Ja.«

»Und wenn Esteban davon erfährt, sucht er sich einfach ein anderes Ziel aus. Dann haben wir überhaupt keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten.«

»Mich interessiert nicht, ob sie geschnappt werden. Ich will einfach kein zweites Tenajo.«

Er kniff die Lippen zusammen. »Vertrauen Sie mir. Es wird kein zweites Tenajo geben. Nicht wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, es zu verhindern.«

Und wenn er es nicht verhindern konnte? Sie lehnte sich zurück und lauschte dem heftigen Pladdern des Regens auf dem Autodach.

Ein schlechtes Zeichen, hatte Katz gesagt.

Sie konnte nur hoffen, daß er sich geirrt hatte. Sie konnten kein böses Omen mehr gebrauchen.

»Ich habe sie verpaßt«, sagte De Salmo. »Ich war zu spät dran.«

»Damit mußte man rechnen«, erwiderte Esteban.

»Soll ich warten?«

»Nein, fliegen Sie nach New Orleans.«

»Kommt sie dorthin?«

Esteban lächelte. »Aber ja, sie wird dorthin kommen.«

»Wo befindet sich das sichere Haus?« fragte sie und blickte zum Fenster hinaus. Auf ihrer Fahrt Richtung Osten regnete es zwar weniger heftig, aber gleichmäßig. »Wir sind jetzt in North Carolina, stimmt’s?«

»Seit zwanzig Minuten. Wir werden das Haus bald erreichen.

Es liegt in Northrup, einer Kleinstadt ein bißchen südlich.«

»Ich möchte, daß Sie Yael anrufen, sobald wir dort sind.«

Kaldak nickte. »Wie Sie wollen. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß er vielleicht nicht –«

Kaldaks Handy klingelte. Er holte es aus der Jackentasche und schaltete es ein.

»Mist.«

Während er zuhörte, verschwand die Ausdruckslosigkeit aus seinem Gesicht. Seine Lippen bebten, und an seiner Stirn trat eine Ader hervor. »Sind Sie sicher, Ramsey?« fragte er.

»Wann?«

Irgend etwas stimmte nicht. Das Anthrax? Hatte Esteban etwa schon – »Schwachsinn. Ich kann das nicht machen. Ich werde es nicht machen.« Er schaltete das Handy ab und gab Vollgas.

»Stimmt was nicht? Was ist passiert?«

»Einen Augenblick.« Er bog von der Schnellstraße in eine kleine Straße und stellte den Motor ab.

»Ist es das Anthrax?« fragte sie.

»Nein.« Er starrte geradeaus und umklammerte das Lenkrad so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »In New Orleans braut sich was zusammen.«

»Was braut sich da zusammen?«

»Heute morgen war eine Anzeige in der Morgenausgabe der Times-Picayune.«

»Wovon reden Sie?«

»Eine Todesanzeige. Emily Grady Corelli soll übermorgen beerdigt werden.«

Bess war starr vor Schreck. Sie bekam keine Luft mehr. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Das ist verrückt. Das ist nur eine bösartige Finte von Esteban.«

Er schüttelte den Kopf.

»Sagen Sie nicht nein.« Ihre Stimme zitterte. »Das kann nicht wahr sein. Emily war in Mexiko. Wie sollte sie – Es ist gelogen.«

»Ich wünschte, es wäre so.« Seine Stimme war belegt. »So wahr mir Gott helfe, ich wünschte, es wäre so, Bess. Es wurde bestätigt. Sie liegt im Beerdigungsinstitut Duples in der Ersten Straße. Ihre Leiche ist vergangene Nacht per Luftfracht angekommen, mit gefälschten Dokumenten der Gesundheitsbehörde, Geld und Anweisung für die Beerdigung.«

»Das ist eine Lüge. Er hat mir schon einmal gesagt, sie sei tot und liege in der Leichenhalle, aber es war Rico. Es war nicht Emily, es war Rico.«

»Diesmal ist es wirklich Emily. Man hat Fingerabdrücke abgenommen und –«

»Ich glaube es nicht. Sie haben mir gesagt, daß Yael sie finden und herbringen würde –«

»Sie ist tot, Bess.«

Sie wollte es nicht glauben. Wenn sie es glaubte, würde es wahr werden. »Nein, ich werde es Ihnen beweisen. Ich fahre nach New Orleans und gehe in das Beerdigungsinstitut, und ich werde beweisen –«

»Nein.« Plötzlich wandte er sich ihr zu und zog sie in seine Arme. »Es tut mir so leid, mein Gott, es tut mir so leid.«

Er versuchte, sie zu trösten, dachte sie dumpf. Aber das konnte sie nicht akzeptieren. Trost zu akzeptieren würde bedeuten, zuzugeben, daß Emily tot war. »Ich will sie sehen.«

»Das ist eine Falle. Was glauben Sie, warum Esteban sie nach New Orleans geschafft hat? Weil Sie da wohnen. Er hat gewußt, daß wir alles, was dort vorgeht, unter die Lupe nehmen. Er wollte sie dorthin locken.«

»Also hat er sie getötet?«

Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Er mußte sie nicht töten.

Sie war schon lange tot. Vermutlich ist sie in jener ersten Nacht in Tenajo an Anthrax gestorben.«

»Nein, sie war nicht krank. Und sie war nicht in San Andreas.

Es war Rico. Es war Ric –«

»Psst.« Er vergrub seine Finger in ihrem Haar, und seine Stimme bebte. »Ich ertrage es nicht. Gott, ich habe nie geglaubt, daß es so sein würde.«

»Ich muß hin. Sie ist nicht tot. Ich weiß es. Sie ist nicht –«

»Bess. Sie ist tot, und Sie will Esteban auch tot sehen. Ich kann Sie nicht nach New Orleans lassen.«

Sie stieß ihn weg. »Sie können mich nicht davon abhalten, nach New Orleans zu fahren.«

»Hören Sie, Ramsey beeilt sich mit dem DNS-Test. Bis morgen oder übermorgen werden wir absolute Sicherheit haben.«

»Zum Teufel mit Ihrer Sicherheit.« Es war alles gelogen.

»Starten Sie den Wagen. Bringen Sie mich zum Flughafen. Zu irgendeinem Flughafen.«

»Nein.« Er wandte seinen Blick von ihr ab. »Das kann ich nicht tun.«

»Sie müssen es tun. Ich gehe in kein sicheres Haus. Sie können ohne ihre verdammte Augenzeugin weitermachen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Hören Sie endlich auf mit Ihrem Nein. Das hier ist mein Leben!«

»Nein, das stimmt nicht ganz.«

Was sagte er da?

»Es ist gut möglich, daß Sie gegen die mutierten Anthrax-Bakterien immun sind«, sagte er.

Sie sah ihn verstört an. »Immun?«

»Eigentlich hätten Sie in Tenajo sterben müssen. Alle anderen sind gestorben.«

»Aber Sie haben doch gesagt, daß sich die Bakterien sehr schnell auflösen.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie waren schwächer geworden, hatten aber noch genug Kraft, ihre Wirkung zu entfalten. Sie haben Rico getötet. Sie haben Ihre Schwester getötet.«

»Sie haben Emily nicht getötet. Esteban –«

»Sie ist daran gestorben, Bess.« Ein Gesichtsmuskel zuckte.

»Sie haben überlebt. Warum, glauben Sie, hat Esteban Sie nicht sofort getötet? Er konnte nicht verstehen, warum Sie nicht gestorben sind, und er wollte bei Ihnen Bluttests durchführen lassen.«

»Ich erinnere mich nicht –« Das Pflaster über den Nadeleinstichen. Also nicht alles Einstiche von Beruhigungsspritzen, wie sie gedacht hatte. »Bluttests.«

»Esteban hat nicht herausposaunt, was er vorhatte, aber ich habe gemerkt, daß ihm das Ergebnis nicht gefiel.«

»Und … wie war das Ergebnis?«

»Antikörper.«

»Das können Sie doch gar nicht wissen.«

»Doch, kann ich. Ich habe eine der Blutproben aus dem Krankenhauslabor gestohlen, bevor ich Sie aus San Andreas rausgebracht habe. Ed hat letzte Nacht einen Test durchgeführt.

Die Probe war schon zu alt, um viel zu nützen, aber es ließ sich zumindest die Immunität feststellen. Wissen Sie, was das bedeutet? Vielleicht läßt sich damit die Zeit zur Entwicklung eines Serums von einem Jahr auf einige Wochen oder sogar Tage verkürzen.« Er überlegte. »Deshalb dürfen Sie keine Risiken eingehen. Sie sind die Antwort, Bess. Wir brauchen eine Menge Blutproben von Ihnen, damit das CDC ein Mittel entwickeln kann, das Esteban bei seinem Vorhaben aufhält.«

Die Antwort. Sie wollte nicht die Antwort sein, egal worauf.

Sie wollte einfach nur, daß alles wieder war wie vor Tenajo. Sie wollte einfach nur, daß Emily lebte und daß es ihr gutging.

Und Emily war am Leben. Fast hätte Kaldak es geschafft, sie davon zu überzeugen, daß ihre Schwester tot war, daß sie in einem Bestattungsinstitut in New Orleans lag. »Ich werde hinfahren.«

»Die warten schon auf Sie.«

»Dann werden Sie wohl Ihre kostbare Blutlieferantin beschützen müssen. Es tut mir leid, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber die nächste Blutprobe werden Sie in New Orleans nehmen müssen. Es sei denn«, fügte sie bitter hinzu,

»Sie wollen sich in Estebans Fußspuren begeben und mich einsperren und mit Beruhigungsmitteln vollpumpen.«

»Diese Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen.« Als sie erstarrte, fügte er grob hinzu: »Glauben Sie im Ernst, ich würde das zulassen? Ich erkläre Ihnen das alles, damit Sie sich klarmachen, um was es hier geht. Ramsey wollte nicht einmal, daß ich Sie über den Tod Ihrer Schwester informiere.«

»Sie ist nicht tot«, sagte sie tonlos.

»Wenn Sie das glauben, warum wollen Sie dann riskieren, Esteban in die Falle zu gehen?«

Weil sie es wissen mußte. Sie wollte Sicherheit. »Wenn ich immun bin, dann ist es Emily auch. Sie ist meine Schwester, und sie war immer gesünder als ich. Ich bin diejenige, die immer die Erkältungen bekam und –«

»Das funktioniert anders«, erklärte er ruhig.

»Und Josie«, sagte sie verzweifelt. »Was ist mit Josie? Josie ist nicht gestorben. Josie muß auch immun sein.«

Er schüttelte den Kopf. »Josie hat keine Antikörper. Esteban hat sofort das Interesse an ihr verloren. Sie hatte einfach das Glück, daß sie mit dem Geld nicht in Berührung gekommen ist.

Ihre Schwester und Sie sind von Haus zu Haus gegangen, und es konnte nicht ausbleiben, daß Sie welches anfassen.«

Die Taverne, der Einkaufsladen – sie konnte sich gar nicht mehr an alle Orte erinnern. Sie hatten die Handschuhe und Masken erst übergezogen, nachdem sie die Leichen in der Taverne untersucht hatten. Vielleicht hatten sie ja die Pesos berührt, zur Seite geschoben, als sie versuchten zu helfen – Sie bekam es mit der Angst zu tun. Kaldaks Gedankengänge waren zu überzeugend. Sie brauchte Gewißheit. »Es ist nicht wahr. Es ist nicht Emily. Bringen Sie mich nach New Orleans, und ich werde es Ihnen beweisen.«

Er rührte sich nicht.

Sie ballte ihre Fäuste. »Bitte, Kaldak«, flüsterte sie. »Bitte.«

»Gottverdammt.« Er drehte den Zündschlüssel herum. »Es geht schneller, wenn wir nach Atlanta zurückfahren. Wir können von dort einen Direktflug nach New Orleans nehmen.«

Sie war erleichtert. »Danke, Kaldak.«

»Wofür?« Mit quietschenden Reifen bog er auf die Schnellstraße ein. »Dafür, daß ich mich wie ein Idiot verhalte?

Dafür, daß ich es in Kauf nehme, daß Sie getötet werden? Daß ich es in Kauf nehme, daß eine Stadt ausgelöscht wird?«

Er nahm das Handy und wählte eine Nummer. »Wir kommen, Ramsey.« Er lauschte einen Moment und sagte dann:

»Das ist mir scheißegal. Wir sind unterwegs. Höchste Sicherheitsstufe.« Er unterbrach die Verbindung und wählte eine andere Nummer. »Komm in einer Stunde zum Flughafen von Atlanta an den Schalter von Hertz, Ed. Dort kannst du deine Probe haben.« Er legte auf. »Sobald wir am Flughafen sind, muß ich Ihnen Blut abnehmen und es an Ed übergeben.«

»Wie wollen –«

»Ich habe Ed gebeten, ein Blutabnahmebesteck in den Aktenkoffer zu packen. Ich wußte, daß ich ihm möglichst bald eine Probe besorgen mußte.«

»Sie waren also vorbereitet«, stellte sie fest. »Wann hatten Sie vor, es mir zu sagen?«

»Nachdem ich Sie in Sicherheit gebracht hätte. Am liebsten hätte ich es Ihnen sofort gesagt.«

»Und warum haben Sie es nicht gemacht?«

»Ich konnte es nicht riskieren. Sie waren nicht in der Lage, an irgend etwas anderes als an Ihre Schwester zu denken. Wenn Ihnen klar gewesen wäre, wie wertvoll Sie für Esteban sein könnten, hätten Sie ihm vielleicht einen Austausch vorgeschlagen.«

»Und das konnten Sie nicht zulassen.«

»Das konnte ich nicht zulassen«, bestätigte er grimmig.

»Genausowenig kann ich Sie nach New Orleans bringen, ohne vorher die Blutprobe zu bekommen. Ich möchte Ed wenigstens eine kleine Chance lassen, selbst wenn Esteban Sie töten sollte.«

Seine Unverblümtheit hätte sie beinahe aus der Fassung gebracht. Sie durfte die Beherrschung nicht verlieren, sonst würde sie an die Decke gehen. Sie mußte sich zusammenreißen, bis sie zu Em – Lieber Gott, es konnte nicht Emily sein.

Emily war in Sicherheit, sie versteckte sich irgendwo in den Bergen von Mexiko. Es gab so viele Orte, an denen man sich verstecken konnte. Mit Josie auf der Flucht hatte sie Höhlen und Löcher gefunden – Es war nicht Emily.