Kapitel 7
»Haben Sie überhaupt keine Spur von ihr?« fragte Habin.
»Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte Esteban. »Meine Leute haben berichtet, daß sie von einer Kugel getroffen wurde. Wir überprüfen die Krankenhäuser auf jeden, auf den ihre Beschreibung und die des Babys zutrifft.«
»Sonst noch was?«
»Kaldak selbst ist eine Spur. Er ist nach Tenajo zurückgegangen, bevor er Mexiko verlassen hat. Können Sie sich darauf einen Reim machen?«
Schweigen. »Ja.«
»Dann wissen wir also auch, wo er hinwill, stimmt’s?«
»Und wird er sie dorthin bringen?«
»Aber ja, mit ziemlicher Sicherheit. Er wird sie nicht aus den Augen lassen, bis es bestätigt ist. Ich habe veranlaßt, daß Marco De Salmo sich der Sache annimmt. Er hat sich bereits aus Rom auf den Weg gemacht. Keine Sorge, wir werden Bess Grady finden, bevor sie uns Schwierigkeiten bereiten kann«, erklärte Esteban.
»Sie macht bereits Schwierigkeiten. Sie ist uns im Weg, und Sie unternehmen nichts.«
»Ich unternehme eine ganze Menge. Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß.« Esteban legte den Hörer auf. Habin war nervös, und diesmal konnte Esteban es ihm nicht einmal verübeln. Die Zeit drängte, und er hatte gehofft, die Frau viel schneller ausfindig machen zu können. Mit ein bißchen Glück würde De Salmo sie auftreiben und rechtzeitig aus dem Weg schaffen.
Aber Esteban verließ sich selten auf das Glück. Es war klug, immer einen Plan für den Notfall zu haben.
Wenn der Prophet nicht zum Berg kam …
Er lächelte.
Habin würde das Sprichwort gefallen.
Es war beinahe Mittag, als der Hubschrauber auf dem verlassenen Flugplatz mehrere Meilen nördlich von Atlanta landete. Es gab keinen Tower und nur eine Landebahn. Ein paar Hangars lagen verstreut in der zerklüfteten Landschaft. Obwohl es mitten am Tag war, war niemand zu sehen.
»Was ist das für ein Flugplatz?« fragte Bess, als sie aus dem Hubschrauber sprang.
»Er hat keinen Namen.« Kaldak griff seinen Rucksack und folgte ihr. »Er wird von ein paar Privatpiloten legal und von einer Menge anderer Piloten illegal genutzt.«
»Drogen?«
»Möglich. Es kostet einiges, diese Art von Abgeschiedenheit zu kaufen. Ich stelle keine Fragen.« Er wandte sich an den Piloten. »Bleiben Sie bei ihr. Hinter dem Hangar sollte ein Wagen für mich bereitstehen.«
Zitternd schaute sie ihm nach. Es war hier zwar wärmer als in Maryland, aber dennoch fröstelte sie.
Etwas Schweres legte sich auf ihre Schultern. Cass, der Pilot, legte ihr seine lederne Fliegerjacke um.
»Danke.«
Er lächelte. »Nichts zu danken. Ich nehme an, Sie waren ein bißchen zu beschäftigt, um sich über eine Jacke Gedanken zu machen.«
»Das glaube ich auch. Sie sind doch der Pilot, der uns in Mexiko aufgeladen hat?«
Er nickte. »Ich stehe Kaldak für den nächsten Monat oder so zur Verfügung.«
»Ist das üblich?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht bei all den Haushaltseinsparungen der letzten Zeit.«
»Kaldak hat uns nicht vorgestellt. Ich heiße Bess Grady.«
»Cass Schmidt.«
»Ich vermute, daß Sie öfter mal Leute in ungewöhnlichen Situationen aufladen. Sind Sie bei der CIA?«
Er nickte.
Ihr Blick wanderte wieder zu Kaldak. »Haben Sie schon mal für ihn gearbeitet?«
Er nickte wieder, dann verzog er das Gesicht. »Beim letzten Mal habe ich Mist gebaut, und ich dachte schon, er würde mir das Genick brechen. Ich war ganz überrascht, als er mich diesmal über Funk anforderte, ihn abzuholen.«
»Vielleicht weiß er einfach, daß Sie ein guter Pilot sind.«
»Auf die Ehre hätte ich verzichten können. Der Mann flößt mir eine Heidenangst ein.«
»Tatsächlich?« Sie hatte fast schon vergessen, wie furchterregend Kaldak anfänglich auf sie gewirkt hatte.
»Kennen Sie ihn schon lange?«
»Seit zwei Jahren. Libyen und danach Mexiko.«
Kaldak hatte Libyen im Zusammenhang mit Estebans Partner Habin erwähnt.
»Der Wagen ist da«, sagte Kaldak, als er wieder erschien.
»Fliegen Sie los, Cass. Wir brauchen Sie nicht mehr.«
Cass nickte. »Auf Wiedersehen, Ms. Grady.«
»Ihre Jacke.« Sie streifte sie ab und gab sie ihm. »Danke noch mal.«
Er grinste. »War mir ein Vergnügen.«
Kaldak nahm ihren Arm und schob sie vorwärts. »Haben Sie von Cass irgend etwas Interessantes über mich erfahren?«
Sie gab sich keine Mühe zu leugnen, daß sie es versucht hatte.
»Nein, außer daß er mit Ihnen in Libyen war.«
»Schade. Das war vielleicht Ihre letzte Chance. In meinen Kreisen werden Sie nicht viele so redselige Leute finden. Die CIA hat ihre Ansprüche neuerdings stark gesenkt.«
Sie waren bei einem beigefarbenen Sedan angekommen, der an der Straße stand. »Ich habe keine Lust, Leute wie Cass auszufragen. Ich möchte von Ihnen hören, was vor sich geht.«
»Sobald ich selbst Bescheid weiß.« Er öffnete ihr die Beifahrertür und nahm hinter dem Steuer Platz. »Im Kofferraum sind Kleider für uns beide. Ich hatte schon über Funk mitgeteilt, daß wir neue Kleidung und eine neue Identität brauchen. Wir werden in einem Motel nördlich der Stadt bleiben, solange wir hier sind. Ihr Name ist Nancy Parker.«
Falsche Namen. Neue Identität. Es war alles so beunruhigend.
»Ich konnte den Namen Nancy noch nie leiden.«
»Dann werden wir Ihnen später einen anderen verpassen.«
Sie schüttelte den Kopf. Er begriff nicht. Es war nicht der Name. Sie hatte allmählich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Emily und Josie waren ihr entglitten. Sie hatte nicht einmal mehr ihre Kamera.
Und sie war selbst schuld.
Sie war so besorgt und erschöpft gewesen, daß sie sich hatte treiben lassen. Sie hatte es Kaldak überlassen, seine Abmachungen mit Yael Nablett und mit Josies Ärzten zu treffen, und jetzt versuchte er sogar, ihr Leben in die Hand zu nehmen. »Ich muß mit Ihnen reden, Kaldak.«
Eine Zeitlang sagte er nichts, musterte sie nur. Dann wandte er den Blick ab und ließ den Wagen an. »Okay, kein Problem.«
Bis sie schließlich beim Residence Inn ankamen, war es kurz vor acht. Das Motel war eins von der älteren Sorte, mit separaten Appartements, und nachdem sie sich angemeldet hatten, mußten sie ein kurzes Stück zu ihren Zimmern fahren.
Kaldak schloß die Tür hinter ihnen ab. »Es ist das Penthouse.
Das Penthouse ist aber nur eine Dachwohnung. Nicht so großartig, wie es klingt, aber bequem. Schlafzimmer und Bad oben, dasselbe noch mal hier unten und dazu eine Kochnische mit einer Eßecke.«
»Ist in Ordnung«, sagte sie. »Mich stört es nicht. Ich brauche nur eine Dusche. Schlafe ich oben oder hier unten?«
»Oben.«
Sie nahm ihren Koffer und ging zur Wendeltreppe.
»Ich bringe ihn rauf.«
»Ich bin nicht hilflos.« Sie fühlte sich zwar kraftlos und frustriert, aber sie brauchte dieses bißchen Selbstbestimmung.
»Da sei der liebe Gott vor, daß ich Ihre Unabhängigkeit verletze.« Er wandte sich ab. »Ich brauche selbst eine Dusche.«
Im Schlafzimmer öffnete Bess den Koffer und fand zwei Hosen, eine schwarze Jacke, zwei weiße Blusen, einen blaugestreiften Baumwollpyjama, ein schwarzes Negligé, ein Paar Pumps und flache Schuhe, fünf BHs und passende Slips.
Erstaunlicherweise saß alles perfekt bis auf die Schuhe, die eine halbe Nummer zu groß waren. Es hätte sie auch gewundert. Die Kleider, die er ins Krankenhaus mitgebracht hatte, hatten auch gepaßt. Er hatte ein gutes Auge.
Eine schwarze Lederhandtasche lag unten im Koffer. Darin fand sie ein Kosmetiktäschchen und zweihundert Dollar in bar, drei Kreditkarten und einen Führerschein mit ihrem Foto auf den Namen Nancy Parker. Wie hatten sie es geschafft, das alles so schnell zusammenzustellen?
Sie nahm den Pyjama und ging in die Dusche.
Das warme Wasser fühlte sich wunderbar an, als es auf ihre Haut prasselte. Sie schloß die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Nach und nach löste sich die Verkrampfung. Sie war angespannt gewesen wie eine Feder, und das hatte ihr klares Denken nicht gerade gefördert. Es tat gut, hier für sich allein zu sein.
Sie blieb sehr, sehr lange unter der Dusche.
»Kaldak, ich habe Neuigkeiten von Interpol«, sagte Ramsey, als er sich auf seinen Anruf hin meldete. »Es heißt, Marco De Salmo ist unterwegs nach New York.«
Kaldak zuckte zusammen. »De Salmo.«
»Esteban hat ihn schon bei anderen Gelegenheiten eingesetzt.«
»Nicht nur er.«
»Ich dachte einfach, Sie sollten es wissen. Er kann von New York aus überall hinfahren.«
Einschließlich Atlanta.
»Sie müssen sie an einen sicheren Ort bringen«, sagte Ramsey.
»Es geht nicht, verdammt noch mal. Noch nicht. Halten Sie mich auf dem laufenden.«
Er legte den Hörer auf. De Salmo. Das war nicht gut.
Er mußte ja nicht nach Atlanta unterwegs sein. Esteban hatte diese Verbindung vielleicht noch nicht herausgefunden.
Kaldak konnte es nicht riskieren. Er mußte schnell handeln.
Kaldak stand an der Mikrowelle in der Kochnische, als Bess die Treppe herunterkam. Er trug Jeans und ein dunkelblaues Sweatshirt, und sein kurzgeschorenes Haar war naß. Er knallte die Tür der Mikrowelle zu. »Ich hoffe, Sie mögen Hähnchen.
Ich hatte sie gebeten, den Gefrierschrank mit Tiefkühlfertiggerichten aufzufüllen. Aber sie sind alle mit Hähnchen.«
»Fertiggerichte schmecken sowieso alle gleich.« Sie setzte sich auf den Hocker an der Frühstückstheke. »Ich brauche Antworten, Kaldak.«
»Das Hähnchen braucht sieben Minuten.« Er warf einen Blick auf das Handtuch, das sie um den Kopf gewickelt hatte.
»Solange haben Sie Zeit, ihre Haare zu trocknen.«
»Es war kein Fön im Koffer.«
»Wie nachlässig von denen. Fehlt sonst noch was?«
»Phantasie. Alles – bis auf diesen Pyjama und einige Hemden
– ist schwarz.«
»Das ist die Standardausrüstung. Marineblau oder schwarz und alles bügelfrei. Sonst noch was?«
»Eine Kamera. Ich will meine Kamera.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich habe sie nicht gesehen, seit ich Sie nach San Andreas gebracht habe. Vermutlich hat Esteban sie.«
»Aber ich brauche sie.« Sie wußte, daß sie unvernünftig war, aber ohne ihre Kamera fühlte sie sich unvollständig … hilflos.
»Soll ich Ihnen eine andere besorgen?«
Besorgen? Man besorgte nicht einfach eine Kamera. Man mußte sie ausprobieren und gründlich untersuchen und das Gefühl für sie entwickeln. »Ich hatte diese Kamera seit acht Jahren. Es ist meine Lieblingskamera.«
»Tut mir leid, ich werde nicht zurückgehen, um sie zu holen.
Soll ich Ihnen eine andere kaufen?«
»Nein, das werde ich selber tun.« Sie ging wieder zum Angriff über. »Ich will Antworten. Was Sie mir über Tenajo erzählt haben, kann doch nur die Spitze des Eisbergs sein.«
»Nicht jetzt. Ich bin Ihnen doch ohnehin schon ausgeliefert; Sie haben keinen Grund zu drängen. Sie sind erschöpft.«
Sie war erschöpft und verwirrt, und sie wußte sowieso nicht, ob sie irgend etwas von dem begreifen würde, was er ihr erzählte. Vielleicht sollte sie sich lieber erst nach dem Abendessen darum kümmern. Kaldak wich ihr aus, und sie war erleichtert, eine Zeitlang nicht offensiv sein zu müssen.
»Sie entwischen mir schon nicht.« Sie nahm das Handtuch vom Kopf und fing an, ihre Haare zu trocknen.
»Offenbar kommen Sie auch ohne Fön zurecht. Diese Anpassungsfähigkeit muß Ihnen ja auf Ihren Reisen ganz gelegen kommen. In Kroatien wimmelt es heutzutage nicht gerade von Frisörsalons.«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne. »Woher wissen Sie, daß ich in Kroatien war?«
»Esteban hat über Ihre Schwester und Sie einen Bericht angefordert, nachdem Sie auf Ihrer Fahrt nach Tenajo gesichtet wurden. Er wollte sichergehen, daß Sie nicht für eine Organisation arbeiten, die ihn hätte in Schwierigkeiten bringen können.« Er öffnete die Kühlschranktür. »Deshalb habe ich versucht, ihn zu überreden, mich Sie verfolgen zu lassen und einer möglichen Bedrohung ein Ende zu machen.«
Sie erstarrte.
Er nahm eine Milchtüte heraus und stellte sie auf den Tresen.
»Er wollte nicht, daß ich es tue. Inzwischen ist mir klar, daß er Sie durch die Seuche umkommen lassen wollte.«
»Sie hätten uns getötet?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn es möglich gewesen wäre, ohne meine Tarnung aufzugeben, hätte ich Sie gewarnt und versucht, Sie aus der Gegend herauszubringen, ohne daß Esteban es erfahren hätte.«
»Und wenn Ihre Tarnung aufgeflogen wäre?«
Er nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank. »Dann hätte ich eine Entscheidung treffen müssen.«
»Aber Sie haben Ihre Tarnung in San Andreas aufgegeben.«
»Das war ein kalkuliertes Risiko, und zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon eine Menge mehr über die Operation herausgefunden.« Er goß Milch in die beiden Gläser. »Ich hatte mich zwei Monate lang bemüht, Estebans Vertrauen zu gewinnen. Ich brauchte diese Information.«
Sie war verblüfft über die Leidenschaft, die in dem letzten Satz mitgeklungen hatte. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Damit Sie wissen, wie wichtig es für mich ist, Esteban aufzuhalten.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich Sie, Ihre Schwester und Ihren Fahrer getötet.«
»So wichtig kann gar nichts sein.«
»Sagen Sie das mal den Menschen, die in Tenajo gestorben sind.«
»Aber Sie haben Tenajo nicht gerettet.«
»Nein.« Er kniff die Lippen zusammen. »Nein, habe ich nicht.« Er drehte ihr den Rücken zu und langte in den Hängeschrank.
Plötzlich wurde ihr klar, daß er Schuldgefühle hatte.
Schreckliche Schuldgefühle. Unter seiner harten Schale war er trotz allem menschlich. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schock.
Er nahm zwei Teller vom Regal herunter. »Bringen Sie die Milch ins Eßzimmer. Ich komme mit den Hähnchen.«
Sein Gesicht war wieder ausdruckslos. Sie erhob sich vom Hocker und nahm die Gläser. »Fertiggerichte werden eigentlich in der Küche gegessen.«
»Meine Mutter hat mir beigebracht, daß das Abendessen grundsätzlich im Eßzimmer serviert wird. Eine Angewohnheit, die ich nicht ablegen kann.« Er zögerte. »Ob Sie’s glauben oder nicht, auch ich hatte eine Mutter. Ich bin nicht unter einem Felsen hervorgekrochen.«
Sie mußte lächeln. »Ich habe eigentlich mehr an ein stählernes Ei von einem fremden Planeten gedacht.«
Er blinzelte. »Ich fasse es nicht. Haben Sie etwa gerade einen Witz gemacht?«
Sie hatte einen Witz gemacht. Unglaublich. Sie hatte sich nicht nur über die Situation amüsiert, sondern sich auch noch entspannt genug gefühlt, mit Kaldak darüber zu scherzen. »Eine momentane Schwäche.«
Er verzog das Gesicht. »Keine Sorge, Sie werden schon nicht zuviel Gefallen an mir finden. Zu viele Ecken und Kanten.«
Ecken und Kanten, eine beunruhigende Auffassungsgabe und beinahe so etwas wie Besessenheit – er besaß all diese Dinge.
Für einen Moment hatte er Schwäche gezeigt, hatte sich aber blitzschnell wieder gefangen. Sie war verrückt gewesen zu glauben, er wäre auf irgendeine Weise verletzlich.
»Nehmen Sie Platz. Ich hole das Besteck.« Kaldak stellte die dampfenden Teller auf den Tisch. »Es ist nicht sehr nahrhaft, aber genießbar, und außerdem haben Sie seit gestern nichts gegessen. Auf der Fahrt vom Flugplatz hierher habe ich Ihren Magen knurren gehört.«
»Es ist unhöflich, das zu erwähnen.«
»Es wäre unhöflicher, Ihnen nichts zu essen zu geben.«
Sie war wirklich hungrig. Dennoch, irgend etwas stimmte mit dieser Realität nicht. Wenn man Sorgen hatte oder deprimiert war, sollte der Körper eigentlich aufhören, seine Grundbedürfnisse einzufordern.
Er kam mit dem Besteck und den Servietten wieder und setzte sich ihr gegenüber. »Langen Sie zu.«
Sie nahm die Gabel in die Hand. »Hat Ihre Mutter das immer gesagt?«
»Das sind meine Kanten. Manches ist tief verwurzelt.
Manches lernt man allein.«
Aber seine Tischmanieren waren tadellos. »Lebt Ihre Mutter noch?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist schon lange tot. Genau wie mein Vater. Was ist mit Ihren Eltern?«
»Meine Mutter starb, als Emily und ich noch klein waren.
Mein Vater kam bei einem Autounfall ums Leben, als ich fünfzehn war.«
»In dem Alter ist es besonders schlimm, ein Elternteil zu verlieren.«
»Zum Glück hatte ich Emily. Sie studierte Medizin und hatte eine Wohnung in der Stadt. Wir haben Tyngate verkauft, das Haus, in dem wir aufgewachsen sind. Sie hat mich dann zu sich geholt.«
»Gab das keine Probleme?«
Sie verzog das Gesicht. »Ein paar. Ich war nicht gerade ein ausgeglichenes Kind und vermißte Tyngate. Zu Anfang hatte sie es ziemlich schwer mit mir, aber wir haben uns zusammengerauft.«
»Tyngate«, wiederholte er. »Das klingt wie ein Landgut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war einfach nur ein großes altes Haus am Fluß. Nichts Besonderes.«
Er musterte sie aufmerksam. »Aber Sie haben es geliebt?«
»Klar. Ich vermisse es manchmal immer noch. Aber Emily hatte recht, wir mußten wegziehen. Es ist falsch, sich an der Vergangenheit festzuklammern.«
»Erzählen Sie mir von diesem Tyngate.«
»Wie gesagt, es war nichts Besonderes. Aber gemütlich. Wir hatten einen Steg und ein Boot. Ich weiß nicht, warum es mir so viel bedeutet hat.« Sie blickte auf ihren Teller. »Also, ich habe einmal Katherine Hepburns Autobiographie gelesen, und Tyngate war so was wie der Ort, an dem sie aufgewachsen ist.
Es war auf eine Art … einmalig. Emily und ich haben als Kinder viel Schönes erlebt. Wir sind geschwommen, haben gesegelt und ein Baumhaus gebaut. Ich habe mich dort immer sicher gefühlt. Egal wie kompliziert und merkwürdig die Welt um uns herum wurde, Tyngate blieb immer so sicher … und unschuldig.«
»Unschuld ist Mangelware heutzutage. Sie hätten das Haus behalten sollen.«
Sie hob die Schultern. »Wir hatten nicht viel Geld, und Emily hatte genug Probleme damit, uns beide durchzubringen. Nein, sie hatte recht.« Sie hatte schon lange nicht mehr an Tyngate gedacht und fühlte plötzlich Wehmut. »Aber jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, an einem Ort wie Tyngate aufzuwachsen. Das sollte in der Verfassung verankert werden.«
»Schreiben Sie Ihrem Kongreßabgeordneten«, erwiderte Kaldak. »Die sind immer bereit, sich der Dinge anzunehmen, die mit Kindern zu tun haben. Das ist nämlich politisch korrekt.
Trinken Sie Ihre Milch. Das ist auch politisch korrekt.«
Sie war froh, daß er das Thema wechselte. Erinnerungen an Tyngate waren immer mit Emily verknüpft, und sie verstärkten nur die Besorgnis, die sie empfand. »Ich trinke ja schon. Und hören Sie endlich auf, mich herumzukommandieren.«
»Ich möchte nicht mein Image zerstören, indem ich höflich bin.«
Er sagte das, ohne zu lächeln, und sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, daß es witzig gemeint war. »An Ihrer Stelle würde ich mir darüber keine Sorgen machen.«
»Von wegen. Es beschäftigt mich die ganze Zeit.« Er hob sein Glas Milch. »Es ist notwendig.« Er trank einen kräftigen Schluck. »Erkenntnis ist alles. Sie macht die –
Warum lachen Sie?«
Ohne nachzudenken, nahm sie ihre Serviette und wischte ihm die Oberlippe ab. »Sie haben einen Schnurrbart. Sie erinnern mich an Julie. Sie hat nachher auch immer –« Der Gedanke an Julie erinnerte sie auch schmerzhaft an Emily. Wie konnte sie sie nur vergessen, selbst für einen kurzen Moment?
»Julie ist die Tochter Ihrer Schwester? Die mit der Freundin im Internet?«
Sie nickte.
»Sieht sie Emily ähnlich?«
»Nein, sie ähnelt niemandem. Emily behauptet zwar, daß sie mir ein bißchen ähnlich sieht, aber ich glaube, sie ist ein Original.«
»Haben Sie viel mit ihr und Tom Corelli zu tun?«
»Ich liebe sie, und Tom ist immer nett zu mir. Ich mag ihn sehr gerne.« Sie spürte plötzlich eine Spannung, die noch kurz zuvor nicht dagewesen war. »Warum fragen Sie?«
»Wie steht es mit anderen Leuten? Mit wem haben Sie noch viel zu tun?«
»Sie reden wie Esteban. Er hat mich auch schon ins Verhör genommen.«
»Estebans Gründe und meine Gründe sind nicht dieselben.«
»Das will ich auch nicht hoffen. Er hat sich für alle näheren Angehörigen interessiert, die ihm Ärger machen könnten, falls er mir die Kehle durchschneidet.«
»Und ich bin daran interessiert, Sie davor zu bewahren, daß man Ihnen die Kehle durchschneidet. Sie sind doch geschieden?
Haben Sie noch mit ihrem Ex-Mann zu tun?«
»Nein.« Sie rümpfte die Nase. »Wir waren nur ein Dreivierteljahr verheiratet. Ein einziger großer Fehler. Emily hielt ihn von Anfang an für einen Schwächling, aber ich wollte nicht auf sie hören.«
»Warum nicht?«
»Meine Hormone kamen dazwischen. Matt ist Musiker. Er ist hinreißend, sexy, und man konnte sich gut mit ihm unterhalten, wenn das Thema nicht zu anspruchsvoll war. Er konnte Tiefgang nicht leiden.« Sie nahm einen kleinen Schluck Milch.
»Und er hielt nichts von Treue. Keine zwei Monate nach unserer Hochzeit fing er an, mit anderen Frauen zu schlafen.«
»Aber Ihre Ehe hat neun Monate gedauert.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin stur. Ich wollte nicht zugeben, daß ich schon wieder einen Fehler begangen hatte.
Deshalb gab ich nicht auf. Aber es fehlte die Basis, worauf man hätte aufbauen können.«
»Schon wieder ein Fehler?« wiederholte er.
»Ich bin nicht so perfekt wie Emily.«
»Erzählen Sie mir von Ihren Freunden. Gibt es da jemand Besonderes?«
»Nein, in meinem Job muß ich viel reisen. Es ist schwierig, Freundschaften aufrechtzuerhalten, wenn man ständig Hochzeitstage und Geburtstagsfeiern verpaßt und –
Warum fragen Sie?«
»Wo wohnen Sie?«
»Ich wohne zur Untermiete in New Orleans.«
»Irgendwelche Nachbarn, die Sie mögen?«
»Ich komme mit allen Nachbarn gut aus.«
»Mit irgend jemandem besonders gut?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Haustiere?«
»Man sollte keine Haustiere halten, wenn man sich nicht um sie kümmern kann.«
»Also haben Sie niemanden außer Emily und ihrer Familie?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich habe Freunde, jede Menge Freunde. In der ganzen Welt.«
»Das glaube ich Ihnen gerne. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
»Na ja, ich komme mir ja langsam vor wie ein armes Waisenkind.«
»Ich versuche einfach nur herauszufinden, an welcher Stelle Sie verwundbar sind.«
»Ich bin nicht verwundbar.« Ihr wurde plötzlich unbehaglich.
»Oder vielleicht doch? Julie und Tom?«
»Vielleicht. Ihre Wohnung in New Orleans wird schon überwacht, aber nach dem Abendessen geben Sie mir bitte die Adresse der Corellis und ihre Telefonnummer. Ich werde dafür sorgen, daß sie beschützt werden.«
»Einverstanden. Aber ich glaube nicht, daß wir uns sofort darum kümmern müssen. Tom und Julie sind in Kanada mit dem Zelt unterwegs. Sie sind die ganzen drei Wochen, die Emily und ich in Mexiko bleiben wollten, weg.«
»Wie kann man sie erreichen?«
»Nur als Grizzlybär. Tom kennt sich in der freien Natur aus, und wenn er zeltet, dann geht’s richtig zur Sache. Sie parken ihr Auto an einer Ranger-Station. Sie ernähren sich von dem, was sie in der Natur finden.«
»Sind sie über Funk erreichbar?«
»Nein, aber für den Notfall haben sie Leuchtmunition.«
»Dann sagen Sie mir, wo die Station liegt, damit ich einen meiner Leute dahin beordern kann. Er kann sie dann in Empfang nehmen, wenn sie wieder aus dem Wald kommen.«
»Das ist eine gute Idee.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Und jetzt erzählen Sie mir, was wir eigentlich in Atlanta machen, Kaldak.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich die Unterstützung eines Freundes brauche.«
»Welche Art von Unterstützung?«
Er antwortete nicht.
»Welche Art von Unterstützung?«
Er seufzte entnervt. »Sie lassen ja wirklich nicht locker?«
»Warum sollte ich? Es geht schließlich um mein Leben. Und es geht um Emilys Leben. Sie sind sehr nett zu mir, aber ich will nicht beschützt werden, wenn man mich darüber im unklaren läßt, um was es eigentlich geht. So funktioniert das mit mir nicht. Die Karten müssen offen auf dem Tisch liegen. Sie haben mir doch längst nicht alles erzählt, oder?«
»Ich kann Ihnen nicht alles erzählen. Noch nicht.«
»Und wann?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Das reicht mir nicht, Kaldak. Bisher habe ich es zugelassen, daß Sie mich herumschubsen, mich antreiben und den Chef spielen. Von jetzt an arbeiten Sie mit mir zusammen, wenn Sie wollen, daß ich mit Ihnen zusammenarbeite.«
Er musterte sie prüfend und nickte dann langsam. »Also gut.
Aber ich weiß selbst noch nicht alles. Ich könnte nur spekulieren. Ich möchte erst meinen Freund treffen, und danach reden wir miteinander.«
»Ich möchte dabeisein.«
»Er bekleidet einen sehr heiklen Posten. Ich werde ihn um die Erlaubnis bitten, einige Vorschriften zu übertreten. Er läßt sich möglicherweise nicht darauf ein, wenn noch jemand dabei ist.«
Er räumte das Geschirr in die Spüle. »Keine Sorge, ich werde schon nicht abhauen. Morgen abend bin ich wieder zurück.«
Das hatte sie auch nicht befürchtet. »Und ich soll hier solange herumsitzen und Däumchen drehen?«
»Tut mir leid.«
Ihr tat es genauso leid, aber offensichtlich war er zu keinen weiteren Zugeständnissen bereit. »Und Sie versprechen, ehrlich mit mir zu sein?«
»Würden Sie mir denn glauben, wenn ich Ihnen mein Wort gäbe?«
»Ja.«
Er machte eine Verbeugung. »Ich fühle mich geehrt. Ich verspreche Ihnen, alles über mein Treffen zu berichten, sobald ich morgen abend zurückkomme.«
Sie spürte den ausweichenden Unterton in seinen Worten.
»Die Wahrheit.«
»Die Wahrheit.« Er verzog das Gesicht. »Sie sind ganz schön gründlich. Kein Wunder, daß Sie so viele Preise gewonnen haben.«
Sie sah ihn überrascht an. »Sie wissen eine ganze Menge über mich. Esteban meinte, sie hätten nicht viel herausbekommen.«
»Ich wollte ihn nicht mehr wissen lassen als unbedingt nötig.«
Er zuckte die Achseln. »Eine Zeitlang habe ich Ihre Arbeiten bewundert. Mir haben besonders die Fotos gefallen, die Sie von diesem Banditen in Somalia gemacht haben.«
»Mir auch.« Sie stand auf. »Da fällt mir ein, ich muß John Pindry anrufen und ihm sagen, daß ich den Artikel für seine Zeitschrift nicht fertigstellen kann.«
Er schüttelte den Kopf.
»Er muß Termine einhalten. Es wäre verantwortungslos, ihn einfach hängenzulassen.«
»Warten Sie noch ein bißchen. Wir wollen noch nicht, daß irgend etwas über Tenajo durchsickert.«
»Ich würde nichts erzählen über –« Na gut, sie erwarteten ohnehin noch nicht, von ihr zu hören. »Ich schreibe noch Emilys Adresse auf den Notizblock und gehe dann ins Bett. Ich bin so müde, ich falle bestimmt gleich ins Koma.«
»Ich wundere mich sowieso, daß Sie so lange durchgehalten haben.« Er fing an, das Geschirr zu spülen. »Sie haben verdammt viel durchgemacht letzte Woche. Sie haben sich gut geschlagen.«
Sie war überrascht und erfreut zugleich. »Wir tun doch nur, was zu tun ist.«
»Stimmt.« Und mit feierlicher Miene fügte er hinzu:
»Auch wenn wir nicht so perfekt sind wie Schwester Emily.«
Wollte er sie aufziehen? Schwer zu sagen. »Sie ist perfekt.
Zumindest fast.«
»Und Sie sind nur ein armes Würstchen?«
Er wollte sie wirklich aufziehen. Sie lächelte, als sie Emilys Adresse und Telefonnummer aufschrieb. »Von wegen. Ich bin eine verdammt gute Fotografin und ein netter Mensch.«
»Mir fällt auf, daß Sie den Beruf zuerst nennen.«
Ihr Lächeln verschwand. »Und?«
»Nichts. Ich fand es einfach interessant.«
Er versuchte, so lange zu bohren, bis das, was er für die Wahrheit hielt, zum Vorschein kam. »Es reicht, Kaldak.«
Er nickte. »Okay, tut mir leid. Ich habe halt auch einen analytischen Verstand. Es passiert automatisch, daß ich die Dinge ergründen will.«
Hatte er sie den ganzen Abend unter die Lupe genommen?
Auf jeden Fall hatte er ihr eine Menge Fragen gestellt, und nicht alle hatten ihre nächsten Bekannten betroffen. Aus irgendeinem Grund versetzte ihr die Erkenntnis einen Stich.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Bess.«
Sie ging die Treppe hinauf. Als sie fast oben angekommen war, warf sie einen Blick zurück. Kaldak Geschirr spülen zu sehen war ein unpassender Anblick. Und doch waren seine Bewegungen präzise und sicher. Mit derselben sicheren Präzision hatte er den Wärter in San Andreas getötet.
Plötzlich blickte er auf. »Was gibt’s?«
Sie suchte nach einer Antwort. »Sie machen das wirklich gut.
Hat Ihre Mutter Ihnen das beigebracht?«
Er nickte. »Sie hat immer von mir verlangt, meinen eigenen Kram aufzuräumen. Das ist vernünftig. Auf einem sauberen Deck läuft das Leben viel glatter.«
Alles mußte glatt ablaufen.
Das hatte er schon im Krankenhaus gesagt.
Aber sie hatte seine sorgfältigen Pläne durcheinandergebracht, und ein Mann war gestorben. Er war wütend auf sie gewesen, wütend, weil er gezwungen war zu töten. »Gehen Sie schlafen«, befahl er. »Ich werde weg sein, wenn Sie aufwachen. Fürs Frühstück sind Eier und Speck da. Verlassen Sie die Wohnung nicht. Öffnen Sie niemandem die Tür. Haben Sie verstanden?
Niemandem.«
»Ist ja gut, ich hab’s beim ersten Mal verstanden. Wann werden Sie wieder hier sein?«
»Sobald ich habe, was ich brauche.«
Sie wandte sich um und ging weiter nach oben.
»Bess.«
Sie sah sich um.
»Sie sind absolut kein armes Würstchen.«
»Ich kann das nicht machen, Kaldak«, sagte Ed Katz. »Ich arbeite in einem Team. Irgendeiner würde davon erfahren.«
»Gib ihnen den Tag frei.«
»Warum kannst du nicht den offiziellen Weg einhalten?«
»Es gäbe Berichte über Berichte und nichts als Berichte. Ich will keine undichten Stellen.«
»Du könntest es doch selbst machen.«
»Ich habe nicht die Möglichkeiten.«
Katz kaute auf der Unterlippe. »Mir gefällt das nicht. Es ist zu riskant.«
»Es gefällt dir. Du leckst dir doch schon die Lippen danach, endlich loszulegen.«
»Ich bin bloß neugierig.«
»Du schuldest mir noch was.«
»Scheiße.« Katz fuhr sich mit der Hand durch das lange, dunkle Haar. »Ich könnte dir mein Erstgeborenes anbieten.«
»Du hast überhaupt keine Kinder.«
»Also, es ist ja nicht so, daß Mara und ich es nicht versucht hätten. Wir testen gerade eine neue Hormontherapie. Vielleicht klappt’s ja. Wann brauchst du es?«
»Heute abend.«
»Unmöglich.«
»Tu, was du kannst. Ich brauche etwas, egal was.«
Katz machte ein mürrisches Gesicht. »Dann verschwinde endlich, damit ich loslegen kann.«
»Ich warte lieber hier.«
»Ein bißchen Druck kann nicht schaden.«
Kaldak lächelte. »Genau.«