Kapitel 10

Das Beerdigungsinstitut Duples befand sich in einem riesigen weißen Gebäude. Der Anstrich blätterte ab, und der Rasen war stellenweise gelb. Auf einem Sockel neben der Eingangstür stand die Statue eines Engels mit einer Trompete.

Sollte er den Erzengel Gabriel darstellen? fragte sich Bess dumpf. Emily hätte dieser Ort nicht gefallen. Sie wollte immer alles sauber und gut erhalten.

Kaldak packte sie am Arm. »Sie können es sich noch anders überlegen.«

Sie schüttelte den Kopf und beschleunigte ihren Schritt. Bring es bloß hinter dich, sagte sie sich. Du wirst erkennen, daß sie einen Fehler gemacht haben, und wirst wieder verschwinden.

»Sie gehen zu weit, Kaldak.« Ein großer, grauhaariger Mann trat aus einer Nische hervor. »Um Gottes willen, wollen Sie, daß sie umgelegt wird?«

»Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das nicht passiert, Ramsey. Haben Sie das Gebäude überprüft?«

»Ja. Schaffen Sie sie von hier weg.«

Kaldak betrachtete die Häuserreihe auf der anderen Straßenseite. »Was ist mit denen?«

Ramsey nickte kurz. »Wir haben sie überprüft. Keine Scharfschützen. Ich mußte den Leuten sagen, der Präsident würde einen Besuch abstatten. Wahrscheinlich werden sie ihre Kongreßabgeordneten anrufen. Warum zum Teufel sollte der Präsident hierherkommen?«

Kaldaks Blick wanderte an ihm vorbei ins Foyer. »Wo liegt sie?«

»Im ersten Raum links.« Ramsey warf einen Blick zu Bess.

»Sie vergeuden Ihre Zeit, Ms. Grady. Sie wollen das doch nicht wirklich tun. Der Sarg ist versiegelt.«

»Warum?«

Ramsey trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Sie ist in den Bergen gestorben und wurde dort begraben. Es war heiß, und die Bedingungen waren nicht gerade förderlich für –«

»Wollen Sie damit sagen, Esteban hat ihre Leiche ausgegraben und hierhergeschickt?« Grausam und entsetzlich. Es war ja schon entsetzlich genug, einfach ein Loch zu graben und eine Frau hineinzuwerfen.

Aber das war Emily nicht widerfahren. Es mußte jemand anders sein.

Bess öffnete die Eingangstür und betrat das Gebäude. Erster Raum links. Ein Eichensarg in der Mitte. Auf beiden Seiten brannten Kerzen. Keine Blumen. Wo waren die Blumen?

Ihre Brust schnürte sich zusammen. Sie bekam keine Luft.

»Bess.« Kaldak stand neben ihr.

Sie befeuchtete ihre Lippen. »Öffnen Sie ihn.«

»Nein.«

»Öffnen Sie ihn, Kaldak.«

»Sie haben gehört, was Ramsey gesagt hat. Sie werden nicht sehen wollen –«

»Ich muß es sehen. Ich muß es wissen. Öffnen Sie ihn, oder ich tu es selbst.«

Er stieß einen Fluch aus und trat auf den Sarg zu. Er riß den Deckel des Sargs auf.

Sie würde nur einen Blick hineinwerfen, und dann wüßte sie, daß es ein Irrtum war.

Nur ein Blick und es wäre vorbei.

Mein Gott!

Kaldak fing sie auf, als sie zusammenbrach.

»Emily.«

»Ruhig.« Sie nahm ganz schwach wahr, daß Kaldak sie die Treppenstufen hinauftrug. Es waren die Stufen zu ihrer Wohnung. Wie waren sie hierhergekommen? »Denken Sie nicht nach. Versuchen Sie zu schlafen.«

»Ich habe nicht geglaubt –«

»Ich weiß.«

»Hat sie Schmerzen gehabt?«

»Nicht sehr lange.«

»Sie haben sie einfach in ein Erdloch geworfen, Kaldak. Sie haben sie einfach weggeworfen.« Ihre Finger gruben sich in seine Schultern. »Niemand verdient so etwas – Emily war so fröhlich und warmherzig – Ich habe mich nicht von ihr verabschiedet. Ich habe ihr einfach Josie in die Hand gedrückt und bin zur Tür hinausgerannt. Ich hätte mich verabschieden sollen.«

»Das hätte sie bestimmt verstanden.«

»Aber ich hätte –«

»Bitte, weinen Sie nicht mehr.«

Weinte sie? Sie spürte die Tränen nicht. Ihr ganzer Körper schmerzte wie eine offene Wunde. »Es tut mir leid.«

»Ich wollte damit nicht sagen –« Er setzte sich in einen Sessel und hielt sie auf dem Schoß. »Weinen Sie. Schlagen Sie mich.

Machen Sie, was Sie wollen. Nur –« Er wiegte sie hin und her.

»Quälen Sie sich doch nicht so.«

»Ich kann nichts dafür. Sie ist … tot. Emily ist tot.« Die Wahrheit zerriß sie. Emily lag in diesem glänzenden Eichensarg im Beerdigungsinstitut. Emily würde nie wieder lachen oder lächeln oder sie herumkommandieren.

»Es wird alles gut.« Kaldaks Worte waren leise und bekümmert. »Es wird besser werden. Ich verspreche es, es wird besser werden.«

Wie konnte es besser werden?

Emily war tot.

Kaldak legte Bess vorsichtig auf das Bett und deckte sie zu. Er hoffte, sie würde nicht gleich wieder aufwachen. Sie hatte Stunden gebraucht, um Schlaf zu finden. Er verließ das Schlafzimmer und schloß sanft die Tür.

Er ließ sich in einen Sessel fallen und lehnte den Kopf zurück.

So etwas wollte er nicht noch einmal durchmachen. Er hatte ihren Schmerz über den Verlust nachempfunden, als wäre es sein eigener. Er trug die Verantwortung und die Schuld.

Herrgott, ja, die Schuld.

Nicht darüber nachdenken. Es war vorbei. Jetzt mußte er einen Weg finden, Bess zu schützen und sie davor zu bewahren, immer weiter zu leiden.

Ja, natürlich.

Sein Blick wanderte über das kleine Wohnzimmer des Apartments. Die Möbel waren einfach und ohne jedes Dekor, bis auf den Sessel und die Couch, die beige-burgunderrot gestreift waren. Die Fotos an den Wänden waren bemerkenswert: ein kleines schwarzes Mädchen mit unglaublich melancholischen Augen, Jimmy Carter, kurzärmlig in einem Naturpark. Auf dem Couchtisch standen Familienfotos: Emily in jungen Jahren, bekleidet mit Shorts und T-Shirt auf einer Schaukel an einem Fluß. Emily im Hochzeitskleid neben einem großen Mann im Smoking.

Emily und ein kleines rothaariges Mädchen mit frechen, neugierigen Augen. Überall Emily.

Sein Blick wanderte weiter zu dem Perserteppich, der die Eichendielen bedeckte, und zu den Pflanzen, die in der ganzen Wohnung verteilt waren.

Pflanzen.

Er berührte das Usambaraveilchen auf dem Tisch neben ihm.

Echt.

Er langte nach seinem Handy und wählte die Nummer von Ramsey.

»Sie haben mir gesagt, die Wohnung sei sicher«, sagte er, als Ramsey abgenommen hatte. »Bess ist die meiste Zeit außer Landes. Wer hat einen Schlüssel und gießt ihre Pflanzen?«

»Die Wohnung ist sicher. Ihr Vermieter kommt zweimal die Woche. Niemand hat sich an ihn herangemacht. Es gibt außer Ihnen noch andere Leute, die etwas von ihrer Arbeit verstehen, Kaldak.«

»So war’s nicht gemeint.«

»Wie geht’s ihr?«

»Was glauben Sie denn, wie es ihr geht?«

»Ich hatte Ihnen geraten, Sie nicht hierherzubringen.«

»Keine Spur von Esteban?«

»Noch nicht. Aber Sie wissen ja, daß er hier jemanden hat.«

Ja, das wußte er. Esteban hatte ganz sicherlich einen Mann zum Beerdigungsinstitut geschickt, und er würde genau wissen, wo Bess sich jetzt aufhielt. »Haben Sie die Luftfrachtfirma überprüft?«

»Die haben einfach nur ihre Arbeit gemacht. Sie haben vielleicht ein bißchen sehr bereitwillig die Überführungspapiere akzeptiert, aber das ist auch alles.« Ramsey zögerte.

»Wir müssen miteinander sprechen.«

»Später. Ich lasse sie nicht allein.«

»Was ist mit dem Bluttest?«

»Er ist vermutlich positiv. Ich habe Ed Katz gebeten, das Ergebnis anhand einer weiteren Probe zu verifizieren.«

»Positiv?« Ramsey fluchte leise. »Und dann lassen Sie sie hierherkommen? Sind Sie verrückt?«

»Wahrscheinlich.« Er wechselte das Thema. »Ist Yael zurück?«

»Bis jetzt noch nicht, aber er ist unterwegs hierher. Wann bringen Sie sie in das sichere Haus?«

»Warum kümmern Sie sich nicht darum, die Fälscherwerkstatt und das Labor in Iowa zu finden, und überlassen es mir, mich um Bess zu kümmern?«

»Weil Sie sich nicht gut genug um sie kümmern. Sie werden noch zulassen, daß sie getötet wird, und was machen wir dann, wenn Esteban losschlägt –«

»Ich melde mich wieder.« Kaldak schaltete sein Handy ab.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, daß Ramsey ihm vorwarf, wie leichtsinnig er handelte. Er wählte die Nummer von Ed Katz in Atlanta.

»Es ist eindeutig.« Ed sprudelte die Worte nur so hervor.

»Wir können damit was anfangen. Aber wir brauchen mehr, viel mehr.«

»Und wie soll ich das anstellen? Soll ich ihre Adern leerpumpen?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Aber es würde auch nicht schaden, wenn ich möglichst schnell eine weitere Probe bekäme.«

»Ich besorge sie dir, sobald ich kann.«

»Auf der Stelle.«

»Sie hat gerade ihre Schwester tot in einem Sarg liegen sehen.«

»Oh.« Ed schwieg einen Moment. »Schlimm. Aber vielleicht kannst du ihr erklären, wie wichtig es ist, zu –«

»Auf Wiederhören, Ed.«

»Warte. Ist sie sauer?«

»Klar ist sie sauer.«

»Gib ihr keine Beruhigungsmittel. Es würde die Ergebnisse der nächsten Proben verfälschen, die du –«.

»Ich gebe ihr, was immer sie braucht. Und wenn ich sie für die nächsten vierundzwanzig Stunden außer Gefecht setzen muß, werde ich das auch tun.«

»Du brauchst nicht so gereizt zu reagieren. Es ist schließlich dein Spiel. Aber laß mir so bald wie möglich irgendwas zukommen.«

Kaldak schob sein Handy wieder in die Jackentasche.

Es ist schließlich dein Spiel.

Ja, es war sein Spiel, und er durfte die Regeln bestimmen. Eine zweifelhafte Ehre, in deren Genuß er nur deshalb gekommen war, weil niemand sonst seinen Kopf hinhalten wollte. Es konnte zuviel schiefgehen. Zum Teufel, es war schon zuviel schiefgegangen. Bisher war in dem ganzen Schlamassel nur eins richtig gelaufen, nämlich Bess’ Immunitätsfaktor.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als Bess wie ein Versuchskaninchen zu behandeln. Zum Teufel mit ihren Gefühlen und Gedanken. Zum Teufel mit individueller Freiheit.

Nur an das öffentliche Wohl denken. Sie benutzen.

Es machte ihn krank. Es war ein Alptraum, der schon zu lange dauerte.

Er fürchtete, es nicht mehr lange durchstehen zu können.

Und er hatte noch mehr Angst, es doch zu können.

»Sie hat angebissen?« Esteban war hocherfreut. »Sie ist da?«

»Sie ist im Beerdigungsinstitut zusammengebrochen«, sagte Marco De Salmo. »Sie ist jetzt in ihrer Wohnung. Kaldak ist bei ihr.«

»Gibt es eine Möglichkeit, sie zu erwischen?«

»Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng, wirklich streng.

Beim Beerdigungsinstitut hatte ich keine Chance.«

»Aber Sie sind angeheuert worden, sie zu erledigen, Marco«, erwiderte Esteban sanft. »Ich bin sicher, daß Sie es schaffen.

Wir haben nicht viel Zeit. Man wird sie wegbringen und verstecken, sobald es geht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich ärgern würde, wenn das passierte. Nachdem ich schon soviel Ärger hatte.«

»Ich habe das Telefon angezapft. Und ich beobachte die Wohnung. Wir werden sie nicht wieder aus den Augen verlieren.«

»Das will ich hoffen. Jede Minute, die sie am Leben ist, ist eine Gefahr. Für Sie ebenso wie für Ms. Grady.«

Es herrschte Schweigen in der Leitung. »Ich werde einen Weg finden.«

»Da habe ich volles Vertrauen.« Esteban legte den Hörer auf.

Er hegte eine gewisses Vertrauen in De Salmo. Er war sehr effektiv, wenn auch ein bißchen phantasielos.

Kaldak dagegen hatte Phantasie, und das war eine seiner wertvollsten Fähigkeiten.

»Da ist ein Anruf von Mr. Morrisey auf Ihrem Handy.«

Perez stand im Türrahmen. »Sie haben gesagt, Sie würden seine Anrufe jederzeit entgegennehmen.«

Morrisey. Gierig griff er nach dem Hörer. Natürlich wollte er mit ihm sprechen. Seit Wochen hatte er wie auf glühenden Kohlen auf ihn gewartet. Morrisey hatte schon zu lange gebraucht, den richtigen Mann ausfindig zu machen.

»Haben Sie ihn gefunden?«

»Cody Jeffers. Einundzwanzig. Ein Einzelgänger. Ein Traumtänzer, der gewaltig angibt. Ein unbedeutender Fahrer beim Demolition Derby vor Ort. Seit einigen Wochen hängt er auf der Piste herum und nervt die Stars. Er hat bei ein paar unwichtigen Rennen den dritten oder vierten Platz belegt, aber er verjubelt seine Preisgelder schneller, als er sie einnimmt.

Könnte das der richtige Mann für Sie sein?«

Esteban wurde ganz aufgeregt. »Genau.«

»Soll ich mich an ihn ranmachen?«

»Nein, das mache ich lieber selber.« Der Teil des Plans war zu wichtig, als daß er ihn einem Untergebenen überlassen konnte.

Jeffers sollte sein Verbindungsglied werden, da mußte alles stimmen. »Wo finde ich ihn?«

»Hier in Cheyenne, Wyoming. Im Hotel Majestic. Eine Absteige gleich an der Piste.«

»Holen Sie mich am Flughafen ab. Morgen früh bin ich da.

Perez wird Sie anrufen und Ihnen die Flugnummer mitteilen.«

Er legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Grady würde bald tot sein, und das Verbindungsstück war gefunden.

Die Dinge entwickelten sich sehr zu seiner Zufriedenheit.

Das Licht fiel durch die Spitzengardinen ins Zimmer. Bess hatte das verschwommene Muster immer gemocht. Sie hatte die Spitzen in Amsterdam gekauft, dazu Stores aus gestreiftem Wollstoff aufgehängt. Sie hatte darauf geachtet, daß die Gardinen gerade hingen, ohne verspielte Volants. Einige Meter von der Spitze hatte sie auch für Emily gekauft, die daraus für Julies Zimmer Gardinen hatte machen lassen. Emily hatte gelacht und gesagt, sie hätte sich nie träumen lassen, daß Bess Gefallen an Spitze finden würde, weil es gar nicht zu ihrer Persönlichkeit paßte – Emily.

Schmerz durchzuckte Bess, und sie schloß fest ihre Augen, um den Gedanken an ihre Schwester abzuwehren.

»Schlafen Sie nicht wieder ein.«

Sie öffnete die Augen und sah Kaldak neben ihrem Bett sitzen.

»Sie schlafen schon seit zehn Stunden«, sagte er ruhig. »Sie müssen jetzt was essen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Doch.« Er stand auf. »Ich mache Ihnen eine Suppe und ein Sandwich.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Sie müssen aber essen. Gehen Sie duschen und ziehen Sie sich an.« Er verließ das Zimmer.

Er war wieder kühl und bestimmend, stellte sie fest. Und doch hatte er sie vergangene Nacht stundenlang in den Armen gehalten, sie beruhigt und ihren Kummer mit ihr geteilt, als sei Emily auch seine Schwester gewesen.

Emily.

»Stehen Sie auf«, rief er aus der Küche hinauf.

Zum Teufel mit ihm. Sie hatte keine Lust aufzustehen. Sie wollte wieder in Schlaf versinken und das Bild von Emily im Sarg vergessen. Mein Gott.

Er kam zurück, hob sie auf die Füße und schob sie sanft zum Badezimmer. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten. Wenn Sie dann noch nicht aus der Dusche raus sind, komme ich rein und helfe Ihnen, fertig zu werden.«

Sie hätte ihn schlagen können.

»Das Leben geht weiter. Sie werden nicht gesund, wenn Sie im Bett liegen. Sie werden gesund, wenn Sie etwas unternehmen.«

»Hören Sie auf, mir Vorträge zu halten. Sie wissen nicht, wie

–«

Er war weg.

Sie schlug die Badezimmertür zu und lehnte sich dagegen. Sie mußte wieder weinen. »Verdammt«, flüsterte sie. »Zum Teufel mit Ihnen, Kaldak.«

Und zum Teufel mit Esteban, der Emily getötet und in ein Erdloch geworfen hatte, als wäre sie nichts. Ungeheuer.

Krochen aus den Höhlen hervor und vernichteten und fügten Leid zu – »Fünf Minuten, Bess.«

Warum konnte er nicht aufhören, sie zu nerven? dachte sie, als sie sich den Bademantel auszog. Er war genau wie Emily mit seiner Art zu – Mußte denn alles sie an Emily erinnern? Kaldak war nicht wie Emily. Niemand war wie sie.

Sie drehte die Dusche auf und stellte sich unter den Wasserstrahl.

Emily war strahlend gewesen, treu und liebevoll. Und dieses Ungeheuer hatte sie getötet.

Alle sollen die Ungeheuer sehen.

Aber alle wußten, wer das Ungeheuer war, und trotzdem war Emily gestorben. Das Ungeheuer lief herum, atmete, aß, lachte und redete, und Emily war tot.

Und Bess heulte und klagte, weil »sie« nichts unternommen hatten. Es waren immer »sie«. Sie hatten in Tenajo nichts unternommen. Und in Danzar hatten sie ebenfalls nichts unternommen.

Sie hatte nichts unternommen.

Emily war tot, und sie unternahm nichts.

»Bess?«

Kaldak stand vor der Duschkabine. Sie konnte seine riesige Gestalt durch die beschlagene Duschwand sehen.

»Lassen Sie mich in Ruhe, Kaldak.«

»Kommen Sie raus, Ihr Mittagessen ist fertig.«

»Verschwinden Sie.«

»Sie waren jetzt lang genug da drin.« Er fing an, die Duschtür aufzuschieben.

» Raus hier.«

Sie knallte die Tür wieder zu. »Ich komme raus, wenn ich fertig bin. Jetzt lassen Sie mich alleine.«

Einen Augenblick stand er da, verblüfft über die Wut in ihrer Stimme.

Sie war auch verblüfft. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Wut in ihr hochgekommen war. Sie hatte die Fäuste so heftig zusammengeballt, daß sich die Fingernägel in die Handflächen bohrten. Wut und Haß überkamen sie abwechselnd.

Esteban.

»Ihr Morgenmantel hängt an der Tür.« Er schloß die Tür, und sie war allein.

Nein, nicht allein.

Die Erinnerung an Emily, wie sie sie im Beerdigungsinstitut gesehen hatte, blieb haften. Würde sie jetzt immer dieses Bild von ihrer Schwester vor sich sehen? Wurden alle Erinnerungen an die Vergangenheit durch dieses eine Bild ausgelöscht?

Schieb es weg, wehr es ab. Am liebsten würde sie wieder heulen, und das machte sie schwach. Sie mußte nachdenken und planen. Sie durfte jetzt nicht schwach sein. Sie mußte so stark sein, wie Emily es an ihrer Stelle wäre.

Sie hatte schließlich gelernt, daß es zu nichts führte, wenn man die Monster ans Licht brachte.

Man mußte sie töten.

Sie blieb fast eine Stunde im Badezimmer.

Kaldak blickte auf, als sie die Küche betrat. »Ihre Suppe ist kalt.« Er stand auf und nahm die Schüssel. »Ich stelle sie kurz in die Mikrowelle.«

»Wir essen in der Küche?« Sie deutete ein Lächeln an.

»Das würde Ihre Mutter nicht billigen.«

»Sie hatte Verständnis für Notfälle. Nehmen Sie Platz.«

»Okay.« Sie setzte sich an den Tisch und sagte zögernd:

»Es tut mir leid … ich habe Sie … angeschrien. Dabei haben Sie nur getan, was Sie für das Beste hielten.«

»Kein Problem.«

»Und Sie waren sehr nett zu mir vergangene Nacht. Danke.«

»Um Himmels willen, ich möchte nicht, daß Sie sich bei mir bedanken.« Er musterte ihr Gesicht. »Geht es Ihnen gut?«

Nein, es ging ihr nicht gut. Emily war tot und Esteban nicht.

»Mir geht’s gut.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht. Sie sind bleich wie ein Laken und sehen aus, als würden Sie gleich umfallen.«

»Mir geht’s gut«, wiederholte sie.

»Ich habe Dr. Kenwood heute morgen angerufen. Josie ist auf dem Weg der Besserung.«

»Weiß er schon, wann sie operiert wird?«

»Er will sich noch nicht festlegen.« Er stellte die Suppe vor sie hin. »Er sagt, daß sie noch mehr Blutkörperchen bilden muß.«

Blut, das Esteban ihr abgezapft hatte.

»Hat schon irgend jemand Tom und Julie wegen Emily benachrichtigt?«

»Noch nicht. Sie sind nicht zu erreichen. Sie halten sich immer noch in Kanada auf.«

»Ich möchte nicht, daß Sie versuchen, sie zu finden. Ich möchte nicht, daß sie es erfahren.«

»Warum nicht?«

»Sie würden hierherkommen, und das wäre gefährlich für sie.

Sie haben doch selbst gesagt, daß man es vielleicht auf sie abgesehen hat.«

Er nickte. »Wir werden weiterhin die Ranger-Station und ihre Wohnung im Auge behalten.«

»Ich möchte nicht, daß sie Emily sehen … so wie ich sie gesehen habe.« Sie brauchte eine Weile, um ihre Stimme zu beruhigen. »Tom und Julie würden genausowenig wie ich glauben, daß sie tot ist. Sie würden den Sarg öffnen und sie sehen – ich kann es nicht zulassen. Sie soll in Würde und Achtung begraben wird. Können Sie für morgen ein stilles Begräbnis arrangieren? Wenn wir es ihnen dann sagen, kann ich Julie erzählen, daß ihre Mutter an einem Ort ist, der –«

»Sie sind nicht die nächste Angehörige. Tom Corelli hat das Recht, diese Entscheidung zu treffen, Bess.«

»Ich nehme mir dieses Recht.« Sie nahm den Löffel in die Hand, die ein wenig zitterte. »Sie können es veranlassen. Sie sind die CIA. Wenn Sie Papiere fälschen und Leute töten können, dann können Sie auch das tun. Ich werde nicht zulassen, daß Tom und Julie Emily in diesem Zustand zu Gesicht bekommen. Sie sollen sie in Erinnerung behalten, wie sie vor Esteban war – Sorgen Sie dafür, Kaldak.«

Er nickte langsam. »Ich werde es in die Wege leiten. Aber die Beerdigung sollte heute stattfinden. Je eher wir hier wegkommen, desto besser.«

»Morgen.« Sie würde morgen soweit sein. Sie war noch nicht stark genug. Sie mußte sich zwingen, von der Suppe zu essen. Iß die Suppe, das Sandwich. Versuch zu schlafen heute nacht.

Sammle deine Kräfte. »Morgen, Kaldak.«

»Es gefällt mir zwar nicht, aber – na gut.« Er sah ihr beim Essen zu. »Aber jetzt muß ich Sie um einen Gefallen bitten. Ed kann mit der Blutprobe arbeiten, aber er braucht noch mehr.«

Blut. Sie hatte es fast vergessen. Sie durfte es nicht vergessen.

Es wurde für die Vergleichsprobe gebraucht. »Nehmen Sie es mir jetzt ab.«

»Ich kann noch ein bißchen warten.«

»Machen Sie schon.«

Er erhob sich vom Tisch und verschwand im Wohnzimmer.

Als er wieder hereinkam, hielt er das Etui aus schwarzem Leder in der Hand. Darin befand sich das Blutabnahmebesteck, das er auch schon auf dem Parkplatz in Atlanta verwandt hatte. Als die Nadel in ihre Haut stach, spürte sie es kaum. »Sie machen das sehr gut.«

»Halten Sie still.« Konzentriert zog er das Blut in die Kanüle.

»So.« Er klebte ihr ein Pflaster auf den Arm. »Ich bin gleich wieder zurück. Ich muß die Röhrchen gut gekühlt verpacken.

Noch heute abend müssen sie bei Ed ankommen. Sein Team arbeitet rund um die Uhr.«

»Dann ist es ja doch ziemlich eilig. Sie haben gesagt, Sie könnten warten.«

»Sie waren ganz schön lange weggetreten.« Er lächelte schief.

»Und ich wollte einfach human sein. Haben Sie das nicht gemerkt?«

»Doch.« Er war nett gewesen. Er hatte sie festgehalten und versucht, den Schrecken von ihr fernzuhalten. Eine Zeitlang war ihm das gelungen, aber jetzt tat der Abgrund sich wieder auf, und sie mußte sich damit auseinandersetzen.

»Ich weiß es.«

Er war hinausgegangen, um das Blut für den Transport zum CDC zu verpacken. Wie ungerecht, daß sie gegen die Seuche immun war, Emily aber daran gestorben war. Emily war Ärztin und hatte eine Familie. Wählte Gott nach dem Zufallsprinzip aus?

Bess stand auf und trat ans Fenster, von dem aus man einen Blick auf die Dächer und schmiedeeisernen Balkone des Französischen Viertels hatte. Sie hatte diese Stadt immer geliebt. Als Emily zu Besuch war, hatte ihr die Stadt nicht gefallen, und sie hatte Bess davon überzeugen wollen, sich eine Wohnung in Detroit zu nehmen. New Orleans war zu spleenig für die praktisch veranlagte Emily.

»Ich habe Ramsey angerufen und ihn gebeten, einen Kurier für das Päckchen herzuschicken«, berichtete Kaldak, als er wieder in die Küche kam. »Ich werde an die Tür gehen, wenn es klingelt.«

»Haben Sie Angst, es könnte jemand mit einem Maschinengewehr auftauchen und mich wegpusten?«

»Nein, nicht mit einem Maschinengewehr. Es gibt leisere Methoden.« Er legte das Päckchen auf die Kommode neben der Tür. »Außerdem bezweifle ich, daß sie an die Haustür kommen.

Die warten, bis Sie rauskommen.«

Sie blickte wieder zum Fenster hinaus. »Sie glauben, die warten schon auf mich?«