Perez zurück. »Wir haben ein Funksignal aufgefangen.«

»Von wo?« fragte Esteban.

»Südwesten. Sechs Meilen.«

Sie hatten die Berge hinter sich und riefen Hilfe über Funk herbei. Wahrscheinlich einen Hubschrauber.

Verdammt.

»Schnappt sie.«

Bess stolperte und fing sich gerade noch, bevor sie stürzte.

»Alles in Ordnung?« fragte Kaldak, ohne zurückzublicken.

Nein, es war nicht in Ordnung. Kaldak hatte das Tempo während der letzten Stunde beschleunigt, und sie war völlig erschöpft, verschwitzt und hatte Seitenstiche.

»Können wir nicht ein bißchen langsamer gehen?«

»Nein.«

»Warum nicht? Wir sind doch bald da, oder?«

»Bald da ist noch nicht zu Hause.«

»Josie braucht eine neue Windel.«

»Sie muß warten. Beeilen Sie sich.«

Die letzten Worte hatten so nervös geklungen, daß Bess ihre Schritte automatisch beschleunigte. Sie blickte über ihre Schulter zurück. »Stimmt was nicht? Sind sie uns auf den Fersen?«

»Sie sind uns die ganze Zeit auf den Fersen, und wahrscheinlich haben sie unser Funksignal gehört.«

Josie wimmerte.

Armes Baby. »Wie weit ist es noch?«

»Eine Stunde. Und Esteban ist wahrscheinlich höchstens zwanzig Minuten hinter uns.«

»Und was ist, wenn der Hubschrauber nicht da ist?«

Kaldak antwortete nicht.

Darauf mußte er nicht antworten.

Unten im Tal schimmerte der armeegrüne Hubschrauber im Dämmerlicht. Er sah wunderschön aus.

Vor lauter Freude ging Bess noch schneller. »Er ist da. Wir fliegen –«

Ein Geschoß zischte an ihrem Ohr vorbei.

»Scheiße.« Kaldak packte sie am Arm und zog sie herunter.

Sie stolperte über ein Grasbüschel, behielt aber das Gleichgewicht.

Noch ein Schuß. Dreck wirbelte vor ihr auf.

Sie warf einen Blick über die Schulter.

Soldaten. Sie schwärmten über den Berg aus.

Die Hubschraubertür stand offen.

Noch ein Schuß. Sie zuckte zusammen und verspürte einen stechenden Schmerz in der Seite.

Sie erreichten den Hubschrauber. Kaldak schob sie hinauf und kletterte direkt hinterher.

»Los, Cass«, schrie er.

Die Tür war immer noch offen, als der Hubschrauber ruckend abhob.

Einer der Soldaten sprang hoch und faßte Halt. Kaldak trat ihm mit dem Absatz auf die Hand, und er fiel zurück auf den Boden.

Kugeln durchsiebten den Hubschrauber.

Was, wenn sie den Tank träfen?

Geschafft. Sie waren hoch genug über der Erde. Sicherlich schon außerhalb der Reichweite.

Sie sah zu Kaldak. Er nickte, und sie sackte erleichtert zusammen.

»Sie bluten.« Er betrachtete ihr Hemd. »Sind Sie getroffen?«

»In der Seite. Ist schon in Ordnung. Nur ein Kratzer, glaube ich. Das kriege ich schon – um Gottes willen.«

Josie war zu ruhig.

Bess streifte voller Panik das Tragetuch ab. Die Decke war blutgetränkt.

Josie.

»Hurensohn. Hurensohn. Hurensohn.« Die Tränen liefen ihr über die Wange. »Sie haben sie erschossen. Sie haben Josie erschossen.« Die Kugel, die sie gestreift hatte, mußte durch das Baby gedrungen sein. »Gottverdammte Kindermörder.«

»Ist sie tot?«

»Ich versuche es herauszufinden.« Eine Hüftwunde. Blut. Zu viel Blut. »Sie ist am Leben. Gerade noch.«

»Können wir sie retten?«

»Ich weiß es nicht. Ich kenne mich mit Erster Hilfe aus, aber ich bin keine Ärztin. Vielleicht. Wenn wir die Blutung stillen können.« Sie arbeitete schnell. »Sie muß in ein Krankenhaus.«

»Ich kann Sie nicht in Gefahr bringen. Wir können nicht landen, bis –«

»Hören Sie auf damit. Mir ist es egal, wo Sie uns hinbringen.«

Sie warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Bringen Sie mich zu einem Krankenhaus, wo ich Hilfe für sie bekomme.«

Kaldak nickte. »Ich werde was finden.« Er ging ins Cockpit.

»Dieser Hurensohn.« Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Sie hatte sich geschworen, diese Art von Qualen nie wieder an sich heranzulassen. Nun war es wieder soweit. Schlimmer als je zuvor. »Halt durch, Josie«, flüsterte sie.

»Wir haben so viel gemeinsam durchgestanden. Laß mich jetzt nicht im Stich, Baby.«

»Wir werden gleich landen.« Kaldak war wieder da. »Wie geht es ihr?«

»Sie ist bewußtlos. Es ist mir gelungen, die Blutungen zu stillen. Hoffentlich gibt es keine inneren Verletzungen. Wo sind wir?«

»Im Golf von Mexiko. Ich habe einen Flugzeugträger ausgemacht, die Montana der US-Marine. Die werden sicherlich einen Arzt und medizinische Ausrüstung an Bord haben. In zehn Minuten müßten wir unten sein.« Er ging zurück zum Cockpit.

»So oder so.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Flugzeugträger haben nicht viel übrig für ungeladene Gäste.

Sie machen Schwierigkeiten und drohen damit, uns abzuschießen.« Er sah sie über die Schulter an. »Keine Sorge, ich kümmere mich darum.«

Sie drückte Josie fester an sich. Ihre ganze Sorge galt dem Baby. Sollte Kaldak sich um alles andere kümmern.

Esteban ballte die Fäuste, während er zusah, wie die Lichter des Hubschraubers verschwanden.

Sie war weg. Sie war ihm entkommen.

Nein.

Erschöpft holte er tief Luft.

Kaldak hatte sie ihm genommen. Wahrscheinlich glaubte er, sie sei nun außerhalb von Estebans Reichweite.

Da irrte er sich. Es gab immer eine Möglichkeit, eine Beute zur Strecke zu bringen. Er würde sie finden.

»Sagen Sie dem Funker, er soll herkommen, Perez.«

Die Frau mußte sterben. Und niemand war jemals außer Reichweite.

Bess stützte den Kopf in die Hände. Sie fühlte sich völlig hilflos.

»Das Baby?«

Als sie aufblickte, stand Kaldak neben ihr an Josies Bett.

»Dr. Caudill hat getan, was er konnte«, sagte sie müde. »Er glaubt, daß ein Wirbel durchtrennt ist, aber er ist kein Spezialist.«

»Soll ich einen besorgen?«

Sie lächelte schief. »Wollen Sie einen Spezialisten kidnappen und zum Flugzeugträger fliegen? Keine gute Idee.

Captain Hodgell war absolut nicht erfreut, daß wir hier gelandet sind. Sie haben recht, wir können froh sein, daß man uns beim Anflug nicht abgeschossen hat.«

»Der Hubschrauber hätte ja mit Sprengstoff beladen sein können.« Er zuckte die Achseln. »Mehr konnte ich nicht tun.«

»Es war mehr, als ich erwarten konnte. Danke.«

»Sie befehlen. Ich gehorche.« Er hockte sich vor ihren Stuhl.

»Sie haben mir noch nicht geantwortet. Wollen Sie, daß ich einen Spezialisten auftreibe?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das hat Zeit. Er würde sie in dieser Verfassung ohnehin nicht operieren. Sie schafft es vielleicht nicht, Kaldak.«

»Wann werden Sie es wissen?«

»In einer Stunde, vielleicht zwei. Wenn ihr Zustand sich stabilisiert …«

Er betrachtete das Baby in dem provisorischen Kinderbett, das sie aus einem Krankenbett hergerichtet hatten. »Ist sie schon mal aufgewacht?«

»Nein.« Bess bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Vielleicht wacht sie nie wieder auf.«

»Ich habe so ein Gefühl, daß sie es doch tun wird. Sie hat schon eine Menge überstanden. Sie hat Tenajo überlebt. Ich glaube nicht, daß es ihr bestimmt ist, jetzt zu sterben.«

»Und war es ihr etwa bestimmt, angeschossen zu werden?«

fragte Bess grimmig. »Sie ist noch ein Baby. Gott dürfte solche Dinge nicht zulassen.«

»Psst.« Seine Hand schloß sich um ihre. »Geben Sie nicht Gott die Schuld. Esteban trifft die Schuld.«

»Ich gebe Esteban die Schuld. Ich würde ihn am liebsten umbringen.«

»Das kann ich gut verstehen.« Er ließ ihre Hand los, stand auf und ging zur Tür. »Ich bin gleich zurück. Sie brauchen was zu essen, aber ich weiß, daß ich Sie nicht dazu bewegen kann. Also hole ich Ihnen einen Kaffee. Kann sein, daß wir lange warten müssen.«

»Sie müssen nicht bei mir warten. Sie können sowieso nichts tun.«

Er blieb an der Tür stehen. »Ich mache es nicht Ihnen zuliebe.

Ich glaube, Josie merkt, daß ich da bin. Ich bin gleich wieder zurück.«

Nach vier Stunden hatte sich Josies Zustand stabilisiert. Eine Stunde später öffnete sie die Augen.

»Sie lächelt«, flüsterte Bess staunend.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie leben will.« Kaldak berührte sanft die Wange des Babys. »Manche Dinge sind vorherbestimmt.«

»Ich bin nicht in der Stimmung zu philosophieren. Ich weiß noch nicht, ob sie überhaupt jemals einen Schritt machen kann.«

Aber Erleichterung und Freude durchströmten sie. Zumindest lebte das Baby.

»Dr. Caudill hat gesagt, für Verletzungen des Rückgrats ist Dr. Harry Kenwood am Johns Hopkins der beste Mann«, erklärte Kaldak. »Ich habe einen Lufttransport organisiert, mit dem wir morgen früh dorthin gebracht werden.«

»Wirklich?«

»Und jetzt, denke ich, sollten Sie etwas essen.« Er rümpfte die Nase. »Und duschen. Sonst bekommt Josie noch einen Rückfall, wenn sie wach genug ist, um an Ihnen zu schnuppern.«

»Ich wundere mich, daß Sie es überhaupt all die Stunden bei mir ausgehalten haben«, erwiderte sie mit spitzer Zunge.

»Für mich war es eine Übung in Disziplin.« Er wandte sich von ihr ab. »Gehen Sie duschen. Ich werde die Krankenschwester hereinschicken, damit sie nach Josie sieht, und Ihnen was zu essen und frische Kleider besorgen.«

»Warten Sie.«

Er warf ihr einen Blick zu.

»Emily.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe zu unseren Leuten in Mexico City Kontakt aufgenommen. Bisher keine Nachricht.

Aber wenn sie zu Fuß ist, kann es sein, daß sie die Küste noch nicht erreicht hat.«

»Dann muß ich zurück, um sie zu suchen.«

»Nein.« Die prompte, harsche Abfuhr schreckte sie auf.

Diesen Ton hatte er seit Tenajo nicht mehr angeschlagen.

»Ich werde sie nicht im Stich lassen.«

»Niemand sagt, Sie sollen sie im Stich lassen.« Er schaute das Baby an. »Wollen Sie Josie verlassen, bevor Sie wissen, in welchem Zustand sie ist?«

Sie folgte seinem Blick. Kaldak hatte ihre Zerrissenheit richtig eingeschätzt. »Sie wissen genau, daß ich das nicht will. Aber ich muß hin. Sie können Josie mit zu –«

»Sie wollen sie mir überlassen? Auf dem ganzen Weg hierher durfte ich sie doch kaum mal anfassen.«

»Ich kann Emily nicht dort lassen.«

»Herrgott noch mal, Esteban wird Sie kassieren, sobald Sie nur einen Fuß auf mexikanischen Boden setzen.«

»Ich werde zur Botschaft gehen und –«

»Nein, wir werden später darüber reden. Lassen Sie mich darüber nachdenken. Vielleicht finde ich eine Lösung.«

Sie sah ihm nach, als er ging. Wenn er dafür eine Lösung hätte, könnte er Salomon Konkurrenz machen, dachte sie müde.

Andererseits war es ihm gelungen, sie aus Mexiko herauszubringen, und er hatte Josie gerettet, indem er ein Krankenhaus gefunden hatte. Vielleicht konnte er dieses Wunder ja auch bewerkstelligen.

Zwei Stunden später klopfte er an die Tür der winzigen Kabine, die ihr zugeteilt worden war. »Kommen Sie. Wir gehen zur Funkstation. Es ist mir gelungen, jemanden über Funk zu bekommen.«

Stirnrunzelnd ging sie neben ihm her. »Wen?«

»Yael Nablett. Er ist einer meiner Kontaktleute in Mexico City.«

»CIA?«

»Nein. Israelischer Geheimdienst. Die arbeiten bei bestimmten Aktionen mit uns zusammen.«

»Bei dieser auch?«

»Vor allem bei dieser.« Er zögerte einen Moment. »Ich kann Sie nicht zurückgehen lassen, Bess. Sie würden zuviel Aufsehen erregen.«

»Also gut. Und was spricht dagegen, der mexikanischen Regierung mitzuteilen, daß sie reingelegt worden ist?«

»Bisher kann noch niemand etwas über Tenajo wissen. Es könnte zu einer scheußlichen Gegenreaktion auf seiten von Esteban führen.«

»Nicht, wenn die Polizei ihn vorher schnappt.«

»Unwahrscheinlich. Er hat Informanten auf jeder Ebene des Regierungsapparats. Außerdem ist er nicht allein. Wir können nicht sicher sein, daß sie nicht losschlagen, sobald Esteban festgesetzt wird.«

»Wer würde losschlagen?«

»Habin, ein palästinensischer Terrorist mit Stützpunkt in Libyen. Außerdem kommen Sie wahrscheinlich sowieso nicht bis zur Polizei. Sie stehen wahrscheinlich auf Estebans Abschußliste. Es gibt da eine Menge Abschaum, der sich bei dem guten Oberst lieb Kind machen möchte.«

»Also muß ich Emily da erst recht rausholen.«

Er wandte den Blick von ihr ab. »Möglicherweise schafft sie es allein. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?

Wenn sie es geschafft hat, Esteban zu entkommen, dann hat sie schon ein gutes Stück geschafft.«

»Sie weiß nichts von Esteban.«

»Ist sie intelligent?«

»Natürlich ist sie intelligent. Sogar sehr intelligent. Was hat das denn damit zu tun?«

»Glauben Sie etwa, daß sie nach Tenajo noch irgend jemandem vertraut? Sie haben es nicht getan. Als Sie in dem Krankenhaus zu sich kamen, haben Sie sich über jeden aufgeregt und mit jedem angelegt, der in Sichtweite kam.«

»Und wenn sie zur Polizei geht? Sie haben doch gesagt, daß das schon einem Todesurteil gleichkommt.«

»Aber zuerst muß sie mal die Berge überqueren.«

»Also muß ich hin und ihr helfen. Ich habe die Berge schon mal überquert. Ich kenne sie jetzt.«

»Es wäre aber ein Risiko«, widersprach er.

»Ich habe keine andere Wahl.«

»Doch, haben Sie.« Er zögerte. »Lassen Sie Yael nach ihr suchen. Ich könnte ihn bitten, unauffällig vorzugehen und sie außer Landes zu schmuggeln, sobald er sie findet.«

Er hatte gesagt ›sobald‹, und nicht ›falls‹, und diese Unterscheidung ließ sie zum ersten Mal wieder hoffen, seit Esteban behauptet hatte, Emily sei tot. »Würde er das machen?

Würde er sie suchen?«

»Ich werde ihn über Funk bitten, sofort mit der Suche anzufangen. In ein paar Tagen könnte sie die Grenze passieren.«

Es war zu schön, um wahr zu sein. »Wieso sind Sie so sicher, daß er sie finden wird?«

»Ich weiß es nicht, aber wenn sie lebt, haben wir eine Chance von achtzig Prozent. Ich habe erlebt, wie Yael arbeitet. Er kann zwar keine Stecknadel in einem Heuhaufen finden, aber er kommt ihr ziemlich nahe.«

Achtzig Prozent. Sie wollte hundertprozentige Gewißheit.

»Das ist nicht genug.«

»Das sind fünfundsiebzig Prozent mehr, als wenn Sie es alleine versuchen.« Und unverblümt fuhr er fort: »Seien Sie nicht töricht. Wenn Sie zurückgehen, werden Sie getötet werden. Yael wird Ihre Schwester aus dem Land bringen.«

Sie starrte ihn mit hilfloser Frustration an. Was er sagte, erschien ihr sinnvoll, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Sie wollte nicht mit gebundenen Händen Hunderte von Meilen von Emily entfernt sein. »Sie könnten diesen Yael anrufen, und ich könnte ihn treffen und ihm helfen –«

Kaldak schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Weil ich Yael nicht bitten werde, Ihnen zu helfen, wenn Sie zurückgehen. Sie werden auf sich allein gestellt sein.« Er zögerte. »Und Ihre Schwester wird tot sein.«

Sie starrte ihn ungläubig an. »Sie bluffen.«

Er verzog das Gesicht. »Sie haben recht. Ich könnte Sie nicht allein weggehen lassen. Aber ich sage Ihnen die Wahrheit über die Chancen Ihrer Schwester. Je eher ich Yael darauf ansetze, desto schneller werden Sie Ihre Schwester wiedersehen. Denken Sie darüber nach.«

Was er ihr vorgeschlagen hatte, widersprach jedem Instinkt.

Emily war immer für sie dagewesen, und sie brauchte sie jetzt.

Aber wenn sie sich auf die Suche machen würde, könnte das Emilys Tod bedeuten.

»Ich gebe ihm ein paar Tage«, entschied sie schließlich.

»Wenn er sie in dieser Zeit nicht ausfindig macht, fahre ich selbst hin.«

»Es dürfte länger dauern … falls sie am Leben ist.«

» Sagen Sie das nicht immer wieder. Sie ist am Leben. Emily ist eine der stärksten Frauen, die ich kenne. Sie ist nicht tot, glauben Sie mir.«

»Gern.«

Sie holte tief Luft. »Rufen Sie ihn sofort an.«

Ein paar Minuten später saß Bess am Funkgerät neben Kaldak, der die Kopfhörer aufsetzte. Nach kurzem Warten ertönte in der knisternden Leitung eine tiefe Stimme mit einem schwachen Akzent. »Das wurde ja langsam Zeit. Ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Anruf, du Hundesohn. Soll ich dich abholen?«

Bess war leicht überrascht. Die heitere Stimme ließ nichts von der Angst erkennen, die sie bisher bei allen bemerkt hatte, die mit Kaldak zu tun hatten, und was der Mann sagte, klang reichlich respektlos.

»Nein. Ich hatte Cass über Funk bestellt«, sagte Kaldak.

»Wir sind schon unterwegs.«

»Wie lief es in Tenajo?«

»Nicht wie erwartet. Schlimm.«

»Willst du mir nicht mehr erzählen?«

»Jetzt nicht.«

»Verschweige mir nichts. Ich bin genauso hinter ihnen her wie du.«

»Ich kann jetzt nicht sprechen«, erklärte Kaldak.

»Du hast deine Tarnung gegenüber Esteban aufgegeben?«

Kaldak warf einen Blick auf Bess. »In gewisser Weise.«

»Und warum hast du mich nicht angerufen?«

»Ich habe wieder einen Auftrag für dich. Wir glauben, daß sich eine Frau in den Bergen bei Tenajo aufhält. Esteban sucht sie. Du mußt sie vor ihm finden.«

Schweigen. »Es gefällt mir nicht, Frauen zu töten, Kaldak.«

»Kein Problem. Du sollst sie nur suchen und dann sicher aus dem Land bringen.«

Nablett seufzte. »Ein mieser Auftrag. Es wäre leichter, sie zu töten. Wie schnell?«

»Sehr. Esteban ist im Verzug, aber mein Verschwinden wird ihn sicherlich dazu bewegen, sich zu beeilen.«

»Und die Frau ist wichtig?« erkundigte sich Nablett.

»Hol sie raus, Yael.«

»Wird erledigt, Ihre königliche Häßlichkeit. Wo soll ich sie abliefern?«

»Du hörst von mir. Sie heißt Dr. Emily Corelli. Ungefähr eins fünfundsechzig –«

»Eins siebzig«, unterbrach Bess.

»Eins siebzig, sechsunddreißig, dunkle Haare und Augen, attraktiv. Amerikanerin, spricht aber Spanisch.«

»Großartig. Hast du eine Ahnung, auf wie viele Mexikanerinnen diese Beschreibung zutrifft? Na ja, wenn sie so ein Gesicht hat wie du, habe ich vielleicht eine Chance.«

»Mit einem Gesicht wie meinem hätte sie keine Chance. Das willst du doch der armen Frau wohl nicht zumuten?«

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, und Bess begriff, daß Kaldak scherzte. Die Vorstellung von Humor paßte überhaupt nicht zu diesem Gesicht und zu diesem einschüchternden Verhalten. Aber während des Marsches hatte sie herausgefunden, daß vieles bei Kaldak nicht so war, wie es schien.

»Sie wird sich womöglich sträuben, mit mir zu kommen. Sie müßte bescheuert sein, mir zu vertrauen, wenn sie auf der Flucht ist. Kannst du mir irgend etwas an die Hand geben, womit ich sie überzeugen könnte?«

»Ich frag mal ihre Schwester.« Kaldak sah Bess an.

Bess dachte kurz nach. »Ihre Tochter Julie hat eine Internet-Freundin namens Linda Hankins. Sie ist ihre beste Freundin.«

Kaldak gab die Information weiter.

»Ich bin schon unterwegs«, sagte Yael Nablett.

Er verabschiedete sich nicht, aber die Verbindung brach ab.

Kaldak schaute Bess an. »Zufrieden?«

Sie war nicht zufrieden, aber Nablett war ihr zuversichtlich erschienen, wenn auch ein bißchen merkwürdig. »Ein paar Tage.«

»Danke«, sagte Kaldak zum Funker und setzte die Kopfhörer ab. Er nahm Bess am Arm und schob sie zur Tür. »In diesen paar Tagen können Sie das Baby zum Johns Hopkins in die Hände von Dr. Kenwood bringen. Sie sollten noch mal nach dem Baby sehen und dann schlafen gehen. Der Luftrettungsdienst wird ziemlich früh hier sein.«

Sie nickte erschöpft. »Das wollte ich gerade tun. Würden Sie bitte aufhören, mir Befehle zu erteilen?«

»Ich habe versprochen, mich um Sie zu kümmern«, sagte er ruhig. »Und das habe ich genau so gemeint.«

Sie ging vor ihm her den engen Flur entlang. »Kümmern Sie sich vor allem um meine Schwester. Gute Nacht, Kaldak.«

»Gute Nacht.«

Er sah ihr nach, wie sie um die Ecke verschwand. Er hatte die Konfrontation vermieden, aber lediglich vorübergehend. Noch einmal würde er nicht den Fehler machen, Bess zu unterschätzen. Im Moment war sie noch vollauf damit beschäftigt, sich um das Baby und Emily Sorgen zu machen, aber er mußte sehr vorsichtig vorgehen.

Kümmern Sie sich um meine Schwester.

Er wünschte, er könnte ihr das versprechen.

Lügen und Täuschung und Manipulation. Den richtigen Knopf drücken, die Wahrheit vertuschen und die Wirklichkeit verdrehen. Gott, er war das alles leid.

Aber das waren die Spielregeln, und er mußte sich daran halten.

Er ging zurück zur Funkzentrale, um Yael noch einmal anzurufen.

Johns Hopkins

»Sie sieht genauso aus wie in dem Zimmer in San Andreas«, flüsterte Bess, als sie auf Josie hinunterblickte. »All diese Schläuche …«

»Laut Dr.

Kenwood sind sie nötig. Sie braucht eine Nährlösung. Sie hat viel Blut verloren«, erklärte Kaldak.

»Außerdem haben Sie mir gesagt, daß Sie ihn mögen und ihm vertrauen.«

Sie nickte. »Aber ich wollte, daß er sofort operiert. Ich will wissen, daß sie wieder ganz gesund wird.«

»Er meint, daß ihre Chancen gut stehen.«

»Aber ich will es wissen. Ich will nicht noch eine Woche warten.« Sie bückte sich hinunter und küßte Josie leicht auf die Stirn. »Er wird dich wieder in Ordnung bringen, Kleines. Hab nur Geduld.«

»Sie ist ruhiggestellt und bekommt nichts mit. Sie sind diejenige, die ungeduldig ist.« Kaldak geleitete sie behutsam aus dem Zimmer. »Kommen Sie, wir gehen ins Wartezimmer. Ich muß mit Ihnen reden.«

Erschrocken starrte sie ihn an. »Hat Dr. Kenwood ihnen irgend etwas gesagt, das er mir verschwiegen hat?«

»Nein.« Er schob sie in einen Sessel. »Er ist ein intelligenter Mann. Das hätte er nicht gewagt.«

Sie entspannte sich wieder. »Sie haben mir Angst gemacht.«

»Die Situation macht mir Angst.« Er setzte sich neben sie.

»Ich weiß, daß Sie Dr. Kenwood gebeten haben, Ihnen hier ein Zimmer zu geben.« Er zögerte. »Sie können hier nicht bleiben, Bess.«

Sie erstarrte. »Und ob ich kann.«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich.«

»Niemand weiß, daß ich hier bin.«

»Sie werden es wahrscheinlich bald wissen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Esteban hat hier ein Netzwerk auf die Beine gestellt. Sie müssen untertauchen. Ich werde Sie in ein sicheres Haus bringen.«

»Ich werde Josie nicht allein lassen.«

»Sie wollen also lieber, daß sie stirbt?« fragte er direkt.

»Das wird nämlich passieren. Sie sind eine Augenzeugin.

Esteban will Ihren Kopf. Solange Sie in der Nähe sind, ist Josie in Gefahr. Wollen Sie das?«

»Sie wissen genau, daß ich das nicht will.«

»Ich habe das Hauptquartier angerufen und eine Bewachung für Josie hier im Krankenhaus organisiert, nur für den Fall, daß Esteban versucht, sie dazu zu benutzen, an Sie heranzukommen.

Aber Sie sind diejenige, die er will. Wenn er nicht hört, daß Sie hier in der Nähe sind, dann denkt er vielleicht, daß Josie für Sie nicht wichtig ist. Ohne Sie ist Josie erheblich sicherer.« Dann fügte er sanft hinzu: »Geben Sie ihr eine Chance, Bess. Sie hat noch einen langen Weg vor sich.«

Bess spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Kann doch sein, daß er sie nicht findet.«

»Und wenn doch? Wollen Sie das Risiko eingehen?«

»Sie wird ganz allein sein.«

»Sie wird gut bewacht sein, und außerdem ist sie so ein süßes Baby. Die Krankenschwestern werden den ganzen Tag um sie herumschwirren.«

»Aber ich möchte –« Sie konnte nicht tun, was sie wollte.

Nicht wenn sie wollte, daß Josie in Sicherheit war. »Ich möchte jeden Tag einen Bericht. Haben Sie mich verstanden? Und ich möchte jeden zweiten Tag mit Dr. Kenwood sprechen. Und sorgen Sie dafür, daß sie sicher ist, oder ich schneide Ihnen die Kehle durch, Kaldak.«

»Sie wird sicher sein. Ich gebe Ihnen mein Wort. Vertrauen Sie mir.«

Sie vertraute ihm, erkannte sie überrascht. Wie war es dazu gekommen? Der Marsch durch die Berge, die Nacht, in der er nach der Operation bei Josie geblieben war? Wie auch immer, das Vertrauen war da. Sie stand auf. »Ich möchte mich noch von ihr verabschieden.«

Er nickte. »Zehn Minuten? Ich muß noch ein paar Dinge erledigen.«

Es war albern, sich zu verabschieden, dachte sie, als sie auf Josie hinunterblickte. Das Baby schien nicht einmal zu wissen, daß sie da war. »Ich komme zurück«, flüsterte sie. »Sie werden gut auf dich aufpassen, aber ich muß eine Zeitlang von hier weg.

Ich werde an dich denken.« Es fiel ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. »Du mußt auch an mich denken. Ich weiß, daß du ganz schön beschäftigt sein wirst mit all diesen Ärzten und Krankenschwestern, aber denk dran, daß ich es war, mit der du hierhergekommen bist.«

Sie verlor die Beherrschung und fing selbst an zu weinen.

Blind vor Tränen, lief sie aus dem Zimmer und Kaldak direkt in die Arme.

Er reichte ihr ein Taschentuch. »Alles in Ordnung?«

»Nein.« Sie wischte sich die Tränen ab. »Bringen Sie mich hier raus. Wohin fahren wir?«

»Zum Flughafen. Ein Hubschrauber wartet schon auf uns.«

»Und dann?«

»Atlanta.«

»Zu Ihrem verfluchten sicheren Haus?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir sind auf der Durchreise. Ich muß einen Freund treffen, der uns vielleicht helfen kann. Und das sichere Haus ist noch nicht hergerichtet.«

Durchreise. Ihr ganzes Leben war nichts anderes, seit sie in Tenajo angekommen war. »Ich bleibe in keinem sicheren Haus, wenn Sie nicht Emily dahin bringen.«

»Okay, ich verspreche es.« Kaldak öffnete ihr die Tür.

»Sobald wir sie finden.«