Kapitel 11
Kaldak und Bess verließen die Wohnung am nächsten Morgen noch bei Dunkelheit. Sie eilten über das am Hinterausgang gelegene Treppenhaus hinunter zu einem bereitstehenden Wagen und fuhren zum Friedhof St. Nicholas in Metairie, einem Vorort von New Orleans.
Emily wurde in einer alten moosbewachsenen Krypta mit Blick auf einen kleinen, stillen Teich beigesetzt. Noch vor der Morgendämmerung klappte der Geistliche die Bibel zu, nickte höflich und verließ eilig die Grabstätte.
Armer Mann, dachte Bess wie betäubt. War er doch aus seinem Bett gezerrt und zu einem Friedhof gebracht worden, der irgendwie an einen Roman von Anne Rice erinnerte.
»Wir sollten auch gehen«, sagte Kaldak sanft.
Bess blickte hinab auf den glatten Steinsarkophag, in den Emilys Sarg eingeschlossen worden war. Lebe wohl, Emily. Ich liebe dich. Du wirst immer bei mir sein.
»Bess.«
Sie nickte, wandte sich ab und verließ die Krypta. Die Luft war feucht und kühl. Bess atmete tief ein und betrachtete den Friedhofswächter, der das Eisentor der Krypta verschloß. Durch die Zypressen fiel das erste Tageslicht auf die Inschrift des Grabmals.
Cartier.
Kaldaks Blick folgte dem ihren. »Ein gewisser Etienne Cartier hat mir den Platz für Emily vorübergehend zur Verfügung gestellt. Das hier ist seine Familienkrypta. Hier muß jeder über der Erde begraben werden.«
Das war ihr bekannt. Nicht einmal Kaldak hätte sie zugetraut, jemanden dazu zu überreden, seine letzte Ruhestätte herzugeben. »Vorübergehend?«
»Ich bin davon ausgegangen, daß Tom Corelli sie wahrscheinlich nach Hause holen will.«
Nach Hause holen. Die Worte klangen liebevoll und melancholisch zugleich. Emily nach Hause holen.
»In der Zwischenzeit ist sie hier sicher.«
Sicher in diesem Grab. Waren denn die Toten nicht immer sicher? Sie hatten keine Probleme, keine Angst oder Wut …
»Sind Sie damit einverstanden?« fragte Kaldak.
Sie nickte. »Ich glaube, ich habe darüber noch gar nicht nachgedacht. Emily hätte nicht für immer hierbleiben wollen.
Sie hat New Orleans nicht besonders gemocht. Sie hätte nach Hause gewollt.« Sie wandte sich ab und ging weg. Nicht über sie nachdenken. Nicht zurückblicken. Du verläßt sie ja nicht. Sie wird immer bei dir sein.
Kaldak holte sie ein, und sie gingen schweigend den von Grabstätten gesäumten Kiesweg entlang.
»Wie haben Sie das geschafft, daß man uns so früh auf den Friedhof gelassen hat?« fragte Bess, als sie sich dem Tor näherten.
»Nun, Ramsey hat seine Beziehungen.«
»Versuchen wir, einem gedungenen Mörder aus dem Weg zu gehen? Schleichen wir deswegen so herum und begraben meine Schwester bei Dunkelheit?«
»Glauben Sie, ihr wäre es lieber gewesen, daß Sie bei Tageslicht ein leichtes Ziel abgeben?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Deshalb sind wir so früh am Morgen hier, und deshalb sind auch acht Agenten hinter den Grabmälern postiert.«
Bess ließ ihren Blick über die Reihen der Grabmäler wandern.
»Ich kann keine sehen.«
»Das sollen Sie auch nicht.«
Sie hätte ohnehin nichts bemerkt auf dem Weg vom Auto zur Grabstätte. Sie hatte an nichts anderes als an Emily denken können.
Aber es war vorbei. All das war jetzt vorbei.
Kaldak hielt sie auf, als sie in Richtung des gemieteten braunen Lexus gehen wollte, der am Bordstein geparkt war.
»Einen Moment.« Er warf einen Blick auf einen Mann in einem karierten sportlichen Mantel, der gerade aus einem ein paar Meter entfernt geparkten Sedan ausstieg.
Sie erstarrte.
»Alles in Ordnung. Er ist einer von unseren Leuten. Er hat unseren Wagen bewacht.«
Der Mann nickte, und Kaldak öffnete die Beifahrertür.
»Hatten Sie Angst vor einer Bombe oder so was?«
»Ich habe Angst vor allem und jedem«, erwiderte er, während er sich ans Steuer setzte. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Ist Ramsey in dem Wagen?«
»Wahrscheinlich.«
»Was für ein Mann ist er?«
Er sah sie überrascht an. »Was meinen Sie damit?«
»Beim Beerdigungsinstitut hat er einen sehr ärgerlichen und ungeduldigen Eindruck gemacht.«
»Er muß sich um alles kümmern.«
»Genau wie Sie.« Ihr Blick ging noch einmal zu dem Sedan.
»Trauen Sie ihm?«
»Bis zu einem bestimmten Punkt. Ich habe ihn kennengelernt als jemanden, der auf dem Weg in die Führungsetage der Firma seine Ellbogen benutzt hat. Er leistet gute Arbeit, aber er ist ehrgeizig, und das prägt das Verhalten eines Menschen.«
»Das stimmt.« Sie wandte den Blick nach Osten. »Die Sonne geht auf.«
»Deshalb sollten wir uns lieber beeilen. Ich bin froh, wenn ich Sie aus der Stadt gebracht habe. Wir verlassen die Stadt direkt von hier aus. Ich werde dafür sorgen, daß jemand Ihre Koffer aus der Wohnung abholt und –«
»Nein.«
Er hielt inne und drehte sich langsam zu ihr. »Was?«
»Wir fahren nicht. Zumindest noch nicht. Bringen Sie mich zurück in meine Wohnung und schicken Sie jemanden zu Ramsey. Ich möchte mit ihm reden.«
»Sie können am Telefon mit ihm reden.«
»Von Angesicht zu Angesicht. Ich möchte über alles Klarheit haben. Erinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen einmal erklärt habe, daß ich immer Klarheit haben will?«
Er schwieg einen Moment. »Ich erinnere mich.«
»Also bringen Sie mich in meine Wohnung. Oder ich steige aus und laufe, Kaldak. Haben Sie Lust, hinter mir herzutrotten?«
»Ich könnte Sie einfach außer Gefecht setzen und losfahren.«
»An dem Punkt waren Sie schon mal, das ist vorbei«, sagte sie. »Es wäre billig, wenn Sie sich wiederholten. Wenn Sie wollen, daß ich in Sicherheit bin, bringen Sie mich in meine Wohnung, wo ich vier Wände um mich herum habe.« Ihre Stimme wurde schroff. »Weil ich nirgendwo anders hingehen werde, Kaldak.«
»Tun Sie das nicht, Bess.«
Sie legte die Hand auf den Türgriff.
»Also gut«, sagte er gepreßt. Er ließ den Motor an und gab Vollgas. Als der Wagen einen Satz nach vorn machte, wurde Bess in den Sitz gedrückt.
Diese Schlacht hatte sie gewonnen.
»Was machen Sie immer noch hier, zum Teufel?« Ramsey schlug die Wohnungstür hinter sich zu. »Sie sollten längst auf halbem Wege nach Shreveport sein, um von dort nach Atlanta zu fliegen. Herrgott noch mal, Kaldak, das lasse ich mir nicht bieten –«
»Kaldak hatte keine Wahl«, erklärte Bess. »Und es wäre angebracht, daß Sie mit mir sprechen, Mr. Ramsey. Ich bin es leid, so behandelt zu werden, als besäße ich die Intelligenz einer prämierten Kuh.«
Ramsey warf Kaldak, der es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte, einen fragenden Blick zu.
Kaldak zuckte die Achseln.
Ramsey wandte sich wieder Bess zu. »Niemand beabsichtigt, Sie respektlos zu behandeln, Ms. Grady. Seien Sie unseres Mitgefühls versichert. Mir ist zu Ohren gekommen, daß Dr. Corelli eine wundervolle Frau gewesen ist und –«
»Emily ist tot. Und was für eine Frau sie gewesen ist, geht nur die etwas an, die sie geliebt haben. Ich habe Sie nicht hierhergebeten, um mir Ihre Beileidsbekundungen anzuhören.«
»Weshalb haben Sie mich dann hergebeten?«
»Ich brauche Informationen. Ich möchte einige Dinge klarstellen. Wollen Sie nach Mexiko fahren, um Esteban zu stellen?«
»Das können wir nicht. Das würde zu diplomatischen Verwicklungen führen. Wir haben keine Beweise.«
»Sie haben die Leiche meiner Schwester.«
»Und eine Konfrontation zum jetzigen Zeitpunkt würde weitere Verwicklungen hervorrufen. Sie müssen Geduld haben.«
»Ich habe aber keine Geduld.« Sie schwieg einen Moment lang. »Ich brauche eine weitere Information. Ich muß über Kaldak Bescheid wissen. Ich habe beschlossen, mich an Sie zu wenden, da er mir offenkundig nur das mitteilt, was er für nötig hält.«
Ramsey warf Kaldak einen verlegenen Blick zu.
Kaldak sagte: »Schießen Sie los.«
»Sie sind sein Vorgesetzter?« fragte Bess.
»In gewisser Weise.«
»Bedeutet das, Sie sind nicht sein Vorgesetzter? Entweder Sie sind es oder Sie sind es nicht.«
»Kaldak hat einige Jahre für uns gearbeitet. Er hat besondere Fähigkeiten, die ihn für uns unersetzlich machen.«
»Fähigkeiten in bezug auf das Töten von Menschen oder in bezug auf biologische Kriegsführung? Er ist doch Wissenschaftler?«
»Hat er Ihnen das erzählt?« Ramsey zögerte. »Dann wissen Sie über Nakoa Bescheid?«
»Nein, davon weiß sie nichts.« Kaldak betrachtete Bess aufmerksam. »Worauf wollen Sie hinaus, Bess?«
»Ich möchte wissen, wieviel Einfluß Sie bei diesen Leuten haben. Offenbar können Sie nach Belieben über sie verfügen, aber ich muß wissen, wie weit Ihr Einfluß geht.«
»Wir gewähren Kaldak mehr Entscheidungsspielraum, als wir es gewöhnlich tun«, sagte Ramsey. »Aber in Anbetracht der ungewöhnlichen Umstände in dieser –«
»Sie benutzen mich«, bemerkte Kaldak unverblümt. »Alle haben eine teuflische Angst bei dieser Geschichte. Ich komme ihnen gelegen, weil sie mir die Schuld in die Schuhe schieben können, falls irgend etwas schiefgeht.« Er grinste Ramsey spöttisch an. »Und ich benutze sie.«
»Und Sie, haben Sie keine Angst?« fragte Bess.
»Klar doch. Aber davon kann ich mich nicht beirren lassen.«
Nein, Kaldak würde sich von gar nichts beirren lassen.
»Also benutzt jeder jeden.«
»So ist das Leben nun mal, Ms. Grady«, sagte Ramsey.
»Aber Sie können sich darauf verlassen, daß wir alles in unserer Macht Stehende unternehmen werden, um Esteban aufzuhalten.«
»Dessen bin ich mir nicht sicher. Ich traue Ihnen nicht.«
»Glauben Sie, wir würden eine nationale Katastrophe zulassen?« fragte Ramsey ungehalten. »Wir wissen Ihre Sorge zu schätzen, aber es ist idiotisch anzunehmen –«
»Hören Sie sie an«, unterbrach Kaldak ihn. »Sie möchte irgend etwas.«
Bess nickte. »Sehr richtig.«
»Und was?« wollte Ramsey wissen.
»Nicht was, sondern wen. Kaldak.«
Obwohl sie den Blick auf Ramsey gerichtet hatte, konnte sie Kaldaks plötzliche Anspannung fühlen.
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, erwiderte Ramsey vorsichtig.
»Jeder benutzt jeden. Ich möchte Kaldak benutzen.«
»Inwiefern?«
»Mich am Leben zu halten. Und mir dabei zu helfen, Esteban zu finden.« Sie wandte den Blick zu Kaldak und fügte ganz bewußt hinzu: »Mir dabei zu helfen, Esteban zu töten.«
»Aha, da also liegt der Hase im Pfeffer«, murmelte Kaldak.
»Sie begreifen das nicht«, sagte Ramsey. »So einfach ist das nicht. Das ganze Ausmaß ist viel größer als –«
»Das ganze Ausmaß interessiert mich nicht. Sie kümmern sich um das Anthrax-Problem. Mir überlassen Sie Kaldak und sorgen dafür, daß er alle notwendigen Kompetenzen hat.«
»Hätten Sie mich gern mit oder ohne Geschenkpapier?« fragte Kaldak.
Sie ignorierte ihn, konzentrierte sich statt dessen auf Ramsey.
»Ich möchte Kaldak.«
»Ich kann verstehen, daß Sie verletzt und wütend sind, aber wir müssen alle unsere Bemühungen darauf richten, Esteban dingfest zu machen, damit er kein weiteres Tenajo inszeniert.«
»Dann sind wir uns ja einig. Ich habe die feste Absicht, Esteban unschädlich zu machen.«
»Wenn Sie auf die Vernunft hören würden, bin ich sicher, daß
–«
» Sie hören jetzt zu.« Ihre Stimme zitterte vor Erregung.
»Ich traue Ihrer ›Vernunft‹ nicht. Ich habe zu viele Geschäfte erlebt, die unter dem Ladentisch gehandelt werden, zu viele Vertuschungen. Das wird nicht noch einmal passieren. Niemand wird mit Esteban verhandeln und dann ruhig zusehen, wie er sich absetzt. Auf keinen Fall.«
»Niemand will mit ihm verhandeln.«
Sie fuhr zu Kaldak herum. »Könnte das passieren?«
Er nickte langsam.
»Verdammt noch mal, Kaldak«, stieß Ramsey zwischen den Zähnen hervor. »Sie machen die Sache kein bißchen leichter.«
»Ich bin an der ganzen Geschichte viel zu sehr interessiert, um Ihnen zuliebe zu lügen, Ramsey. Ich bin bisher noch nie als Sklave verkauft worden.«
Ramsey warf ihm einen giftigen Blick zu, bevor er sanft sagte:
»Ms. Grady, wir haben alles unternommen, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten. Jetzt brauchen wir Ihre Kooperation.«
»Sparen Sie sich Ihre herablassende Art. Wollen wir es doch deutlich aussprechen. Sie brauchen nicht nur meine Kooperation, Sie brauchen mein Blut. Geben Sie mir Kaldak, und Sie bekommen es.«
»Bingo«, sagte Kaldak.
Ramsey erstarrte. »Sie würden sich weigern? Aber es könnte Tausende von Menschenleben kosten.«
»Deswegen gehe ich davon aus, daß das Weiße Haus sehr verärgert wäre, wenn Sie mich durch Ihr unüberlegtes Handeln so weit treiben würden, daß ich mich weigere mitzuspielen.
Geben Sie mir Kaldak.«
»Angenommen, ich verspreche Ihnen, daß Kaldak, wenn das hier alles vorbei ist, die Fährte von Esteban aufnimmt. Werden Sie sich dann an einen sicheren Ort begeben und uns die notwendigen Dinge erledigen lassen?«
»Nichts da. Ich bleibe hier.«
»Herrgott noch mal, wollen Sie unbedingt sterben? Sie sind eine wandelnde Zielscheibe.«
»Nein, ich will nicht sterben. Kaldak wird sich um meine Sicherheit kümmern, und Sie helfen ihm dabei. Und zwar hier in der Öffentlichkeit. Wenn ich mich verstecke, ist es unmöglich, Esteban aus seinem Hinterhalt zu locken.«
»Esteban wird einen Killer schicken. Er wird nicht selber kommen.«
»Zunächst nicht. Aber ich schätze, sein Unmut wird sich steigern, solange ich lebe.«
Ramsey schüttelte den Kopf. »Sie sind zu wertvoll, um als Köder zu fungieren, und außerdem haben Sie keine Vorstellung, was Ihre Bitte bedeutet.«
»Das ist keine Bitte. Sie haben keine Wahl. So ist es nun mal.
Esteban wird für Emily bezahlen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Auf Wiedersehen, Mr. Ramsey.«
Ramsey starrte sie verärgert an. Dann ging er zur Tür. »Ich muß mit Ihnen reden, Kaldak.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Kaldak erhob sich.
»Ich bin gleich wieder zurück, Bess. Wir bleiben im Flur.«
Bess ging ins Schlafzimmer. Sie war froh, auch diese Schlacht hinter sich gebracht zu haben, aber sie bildete sich nicht ein, daß es mit Kaldak so leicht laufen würde wie mit Ramsey. Er hatte dagesessen, sie beobachtet, hatte zwei und zwei zusammengezählt und ihre Worte analysiert. Sie war sich dessen in jeder Sekunde während ihrer Auseinandersetzung mit Ramsey bewußt gewesen.
Sie entledigte sich schnell ihres schwarzen Kostüms und schlüpfte in Jeans und Hemd. Kaum hatte sie den letzten Knopf zugemacht, hörte sie, wie die Eingangstür geschlossen wurde.
Sie holte tief Luft, bevor sie ins Wohnzimmer ging.
Kaldak saß wieder im Sessel. »Sie haben gewonnen.« Er tippte sich auf die Brust. »Ich gehöre Ihnen.«
»Ach ja?«
»Soweit es Ramsey betrifft. Er hat natürlich seinen ursprünglichen Vorschlag wiederholt, Sie unter Drogen zu setzen, während wir Ihnen das nötige Blut entnehmen. Aber als ich nicht mitspielen wollte, gab er klein bei.«
»Sehen Sie eine gewisse Ähnlichkeit zu Estebans Methoden?«
»Vielleicht. Sie sind wirklich genau richtig mit Ramsey umgegangen. Er hat nicht gemerkt, daß Sie geblufft haben.«
»Ich habe nicht geblufft.«
»Ich hatte schon den Eindruck; in jedem Fall wäre es zu gefährlich gewesen, Zweifel aufkommen zu lassen. Ihr Blut ist entscheidend.«
»Sie werden es bekommen.«
»Ich weiß. Dafür werde ich schon sorgen.« Er zögerte.
»Und dazu muß ich Sie am Leben halten. Das bedeutet, ich werde jede Minute bei Ihnen sein. Ohne mich steigen Sie in kein Auto und gehen nicht mal an die Tür.«
»Einverstanden.«
»Lassen Sie uns die Wohnung anschauen. Ich zeige Ihnen, welche Sicherheitsvorkehrungen wir getroffen haben.«
Sie folgte ihm in den Flur.
»Weder Ihr Schlafzimmer noch Ihr Gästezimmer haben eine Feuertreppe oder sonst einen Eingang. Da gibt’s kein Problem.«
Er ging zur Tür am Ende des Flurs. »Das Schloß an dieser Tür, die in den kleinen Hof führt, war zu schwach. Wir haben es durch einen Sicherheitsriegel ersetzt. Der Hof wird von einem schmiedeeisernen Zaun eingefaßt und hat ein Tor. Da es einen langen Gehweg gibt, der zur Seitenstraße führt, haben wir einen Mann im Hof postiert. Ein anderer bewacht den Vordereingang an der Straße.«
»Können Ihre Leute sich unauffällig verhalten? Ich möchte meine Nachbarn nicht ängstigen.«
»Peterson war heute morgen, als wir vom Friedhof zurückkehrten, im Dienst. Er stand beim Geschäft auf der anderen Straßenseite in einer Nische. Haben Sie ihn bemerkt?«
»Nein.«
»Dann nehme ich an, daß er unauffällig ist.« Er öffnete die nächste Tür. »Und das ist Ihre Dunkelkammer. Machen Sie das Licht an.«
Sie betätigte den Schalter neben der Tür. Schummriges, rotes Licht erfüllte die Kammer.
Er betrachtete das Fenster. »Fensterläden, das ist gut.«
»Ich habe sie nicht aus Sicherheitsgründen anbringen lassen, sondern um zu verhindern, daß Licht eindringt. Deshalb sind sie speziell abgedichtet.« Sie runzelte die Stirn. »Sie haben Bretter darüber genagelt. Mußte das sein?«
»Ja.« Er verzog das Gesicht. »Mein Gott, wie es hier drin stinkt. Sind das Chemikalien?«
»Ich mag den Geruch.«
»Verrückt.«
»Vielleicht. Aber es ist schon gut, daß ich ihn mag; schließlich verbringe ich eine Menge Zeit hier drin.«
»Dann dürfen Sie aber nicht an Klaustrophobie leiden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir gefällt es. Hier fühle ich mich immer sicher.«
Er sah sie fragend an.
»Ich weiß auch nicht, warum das so ist.« Sie zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht doch. Wahrscheinlich weil ich bei jedem Abzug, den ich in der Wanne da hinten entwickle, weiß, daß ich die Welt so zeigen kann, wie sie wirklich ist. Nicht so, wie ich sie gerne hätte, und auch nicht so, wie jemand anders es mir einreden will. Sondern wie sie in Wahrheit ist. Die Fotos zeigen den ganzen Scheißdreck, wie er ist.«
»Sie haben ja eine interessante Vorstellung von einem Sicherheitsnetz.« Er schaltete das Licht aus, ging wieder in den Flur und öffnete die nächste Tür. »Wie ich schon sagte, das Gästezimmer ist sicher. Das werde ich belegen. Es liegt nahe genug an Ihrem Schlafzimmer, so daß ich alles hören kann.
Lassen Sie die Tür nachts einen Spalt offen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Irgendwelche Einwände?«
»Nein, wieso? Sie sorgen für meine Sicherheit. Deswegen wollte ich Sie.«
»Nicht wirklich. Ich bin nur Mittel zum Zweck. Sie wollen den Tod von Esteban, und Sie wollen, daß ich Ihnen helfe, ihn zu erwischen. Alles andere ist Nebensache.« Er schwieg einen Moment. »Sie wollen der Lockvogel sein? Meinetwegen, aber dann nach meiner Methode. Sie wollen Esteban? Ich werde ihn abliefern, und ich werde nicht riskieren, daß dabei einer von uns beiden draufgeht.«
»Ich will nicht, daß Sie ihn abliefern. Ich will einfach, daß Sie mir dabei helfen, an ihn heranzukommen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie viele Leibwächter er um sich herum hat? Sie werden nie in seine Nähe kommen.«
»Die werden nicht immer um ihn sein. Niemand ist rund um die Uhr geschützt. Ich könnte es schaffen, wenn Sie mir dabei helfen.«
»Und dann gerät Habin in Panik und führt selbst den Schlag aus. Wollen Sie das?«
»Nein, finden Sie heraus, wie das zu verhindern ist.«
»Glauben Sie, ich kann Wunder bewirken?«
Sie hatte es für ein Wunder gehalten, daß er den Flugzeugträger für Josie gefunden hatte. »Sie sind intelligent und erreichen eine Menge. Das ist schon Wunder genug. Ich bin nicht so blöde zu glauben, ich könnte mein Vorhaben allein ausführen. Ich brauche Sie.«
Er schwieg eine Zeitlang. »Sie haben also wirklich vor, mich zu benutzen?«
Sie zuckte zusammen. »Ja.«
»Sie haben ja schon Probleme bei dem Gedanken daran.«
»Das wird sich legen.« Sie tastete nach dem Pflaster auf ihrem linken Arm. »Sie sind nicht der einzige, der benutzt wird. Ich bitte Sie nicht um Ihr Blut.«
»Vielleicht doch.« Er sah sie prüfend an. »Aber nicht jetzt.
Solange werde ich mich, wie es einem wirklich loyalen Sklaven geziemt, auf andere Weise nützlich machen. Was möchten Sie zu Mittag essen?«
Erleichtert atmete sie auf. Bis zum letzten Augenblick war sie sich unsicher gewesen, ob er mitspielen würde. »Ich habe keinen Hunger.«
»Sie müssen trotzdem essen. Es ist wie bei Josie. Sie müssen Blutkörperchen bilden.«
»Dann geben Sie mir irgendwas.«
Er nickte und machte sich auf den Weg in die Küche.
»Kaldak.« Sie zögerte, als er sie über die Schulter ansah.
»Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen. Jeder weiß über Esteban Bescheid, aber keiner hält ihn auf. Ich will nicht, daß Ihnen etwas zustößt, aber Sie sind der einzige, dem ich vertrauen kann.«
»Sie vertrauen mir?« fragte er langsam.
»Ja.«
»Tun Sie es nicht, Bess.« Er verschwand in der Küche.
Wieder eine Schlacht. Eigentlich hätte sie sich als Siegerin fühlen müssen, aber es gelang ihr nicht. Kaldak hatte sich nicht ergeben, sondern nur vorübergehend eingelenkt. Sie hatte seine Wut und seine Frustration gespürt, die unter der Oberfläche brodelten, und das beunruhigte sie. Diese Wut mußte ihn dazu veranlaßt haben zu sagen, sie solle ihm nicht trauen. Aber sie konnte ihm vertrauen. Sie vertraute ihm tatsächlich. Sie wußte nicht immer, was er dachte, er war manchmal grob und auf brutale Weise offen, aber fast von Anfang an war er an ihrer Seite gewesen und hatte ihr geholfen.
Ich werde mich um Sie kümmern.
Sie brauchte niemanden, der sich um sie kümmerte, aber es war gut gewesen, nicht allein zu sein.
Und gerade jetzt fühlte sie sich sehr allein.
»Steak?« Sie betrachtete zweifelnd ihren Teller. »Ich kann das nicht alles essen. Nicht zu Mittag.«
»Klar können Sie das.« Er setzte sich ihr gegenüber. »Das wird Ihnen guttun.«
Sie zuckte die Achseln und nahm die Gabel. »Ich werd’s versuchen.«
»Es freut mich zu sehen, daß Sie kooperieren.«
»Wir haben eine Vereinbarung getroffen. Ich halte meine Versprechen.«
»Soweit ich mich erinnere, war es eher eine Erpressung. Aber das ist schon in Ordnung. Wir wollen uns nicht über die Wortbedeutung streiten. Nicht, wenn Sie brav Ihr Steak essen.«
Er nahm einen Bissen von seinem eigenen. »Und ich habe auch ein bißchen geschummelt. Ich habe nicht die Absicht, ausschließlich Ihnen zu Diensten zu sein. Ich habe vielleicht noch einige andere Dinge zu erledigen.«
»Was für Dinge?«
Er antwortete nicht. »Keine Sorge, ich lasse Sie nicht ohne Schutz.«
»Was für Dinge?«
»Seit zwei Jahren setze ich alles daran, Esteban und Habin davon abzuhalten, den Anthrax-Erreger freizusetzen. Ich war nicht in der Lage zu verhindern, was in Tenajo geschehen ist.
Aber ich werde nicht zulassen, daß hier dasselbe passiert.« Er erwiderte ihren Blick. »Ich kann verstehen, daß Sie den Tod von Esteban wollen. Glauben Sie etwa, ich will das nicht? Ich habe meine eigenen Gründe, warum ich den Tod dieses Verbrechers will. Als ich für ihn in Mexiko gearbeitet habe, konnte ich mich manchmal nur mit Mühe zurückhalten. Haben Sie eine Ahnung, wie viele Gelegenheiten ich hatte? Ich hätte ihm nur den Hals umzudrehen brauchen. Aber ich habe ihn nicht getötet, und ich werde Sie auch daran hindern, ihn zu töten, bevor der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich wußte, daß es keinen Zweck haben würde, mit Ihnen darüber zu reden«, sagte er achselzuckend. »Der Schmerz ist noch zu frisch. Ich hätte an Ihrer Stelle auch nicht zugehört.«
»Sie haben versprochen, mir zu helfen.«
»Ich werde Ihnen helfen. Ich versuche einfach, ehrlich zu Ihnen zu sein. Wenn Ihr Versuch, ihn zu töten, unsere Pläne durchkreuzt, werde ich dafür sorgen, daß Sie es noch aufschieben.« Er deutete mit einem Nicken auf ihren Teller.
»Sie haben das ja kaum angerührt. Essen Sie noch ein bißchen.«
»Ich glaube, es geht im Moment nicht. Vielleicht können wir unterwegs in ein Restaurant einkehren.«
Er riß schockiert die Augen auf. »Unterwegs?«
»Wir machen einen Spaziergang ins Französische Viertel. Wir werden jeden Tag ausgehen, aber immer zu einer anderen Zeit und mit einem anderen Ziel. Angeblich ist es immer ein Fehler, sich an Gewohnheiten zu halten.«
»Wir werden diese Wohnung überhaupt nicht verlassen.«
»Doch, das werden wir. Esteban soll wissen, daß ich hier bin und daß ich hierbleibe.«
»Dieser Leichtsinn kann Sie das Leben kosten.«
»Das ist kein Leichtsinn. Hier in der Wohnung bin ich genausowenig sicher, stimmt’s?«
»Hier sind Sie um einiges sicherer als auf der Straße.«
»Beantworten Sie meine Frage.«
Schließlich nickte er. »Es gibt immer einen Weg, wenn man es darauf anlegt. Ein Stromschlag, eine Giftschlange im Duschabfluß.« Resigniert hob er die Schultern. »Und wenn sie bis zum Äußersten gehen wollen, gibt’s noch die Möglichkeit, eine kleine Rakete durch dieses Fenster zu feuern.«
»Soviel zum Thema Sicherheit.«
»Was glauben Sie, warum wir Sie aus Ihrer Wohnung herausbringen wollten?«
»Es gibt also immer nur relative Sicherheit. Wenn wir uns verschanzen, werden die sich nur überlegen, wie sie mich hier erwischen können. Wenn sie glauben, daß ich irgendwo hingehe, wo ich ein leichteres Ziel bin, werden sie vielleicht warten.«
»Vielleicht. Wollen Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, um das herauszufinden?«
»Ja. Das ist besser, als mich zu verstecken und abzuwarten, bis sie kommen und mich erwischen. Ich bin lieber die Jägerin als die Gejagte.«
»Sie sind nicht im Vorteil. Die wissen, wie Sie aussehen.«
»Aber ich habe Sie, um mich zu beschützen. So sieht es aus, Kaldak.«
»Großartig, einfach großartig«, sagte er. »Sonst noch was?«
»Ja, alle Anrufe von Ed Katz aus dem CDC sollten über meine normale Telefonleitung kommen.«
»Diese Leitung haben sie garantiert angezapft.«
»Esteban soll wissen, was wir tun. Ich möchte ihn beunruhigen, ihn nervös machen.«
»Er ist nicht der einzige, den Sie damit nervös machen.«
»Sie werden es überstehen.« Neugierig fragte sie: »Haben Sie jemals eine Schlange in einem Abflußrohr ausgesetzt?«
»Nein, verdammt. Ich habe Angst vor den Viechern. Aber nicht jeder ist so zimperlich.«
»Das tröstet mich.«
»Sie wollten es wissen. Wenn Sie Trost brauchen, dann –
lassen Sie uns in das sichere Haus in North Carolina fahren.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das habe ich mir gedacht. Also werden wir uns zeigen und ihnen zu verstehen geben, daß es sich nicht lohnt, die Wohnung aufs Korn zu nehmen. Gibt es einen Ort, den Sie bevorzugt aufsuchen möchten?«
»Zontag’s«, erwiderte sie spontan.
Er zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Das ist der beste Laden für Fotoausrüstung in der Stadt. Ich muß mir eine neue Kamera kaufen.«
Die Kamera im Schaufenster von Zontag’s zog sie in ihren Bann.
»Ich wünschte, Sie hätten mein Steak heute mittag genauso angesehen«, bemerkte Kaldak. »Gierig. Richtig gierig.«
Das war sie wirklich. Sie konnte es kaum abwarten, die Kamera in die Hand zu nehmen. »Das ist eine gute Kamera. Mit allem Drum und Dran.«
»Ist es so eine, wie Sie sie vorher hatten?« fragte Kaldak.
Sie schüttelte den Kopf. »Das war eine Hasselblad. Ich besitze natürlich noch andere Kameras, aber das war meine liebste.«
»Wollen Sie sie nicht durch dasselbe Modell ersetzen?«
»Nein, sie läßt sich nicht ersetzen. Ich habe mit dieser Kamera acht Jahre lang gelebt. Sie war wie ein alter Freund. Man kann alte Freunde nicht einfach ersetzen, wenn sie nicht mehr da sind.« Genauso, wie man eine Schwester nicht ersetzen kann.
Der Gedanke traf sie schmerzhaft, aber sie unterdrückte ihn schnell, als sie auf den Eingang des Geschäfts zuging. »Dann kann man sich nur einen neuen Freund mit großartigen Qualitäten suchen und das Beste hoffen. Ich bin gleich wieder da.«
Er folgte ihr. »Wo Sie hingehen, da will auch ich sein.«
Den ganzen Weg von ihrer Wohnung bis hierher war er ihr keinen Millimeter von der Seite gewichen. »Ich bezweifle, daß da drin irgend jemand auf mich wartet, um sich auf mich zu stürzen.«
»Wenn ich hinter Ihnen her wäre, würde ich genau hier auf Sie warten. Sie sind eine Fotografin ohne Kamera. Das hier ist das beste Geschäft für Kameras in der ganzen Stadt. Es wäre eine ideale Gelegenheit.« Er hielt ihr die Tür auf und warf einen Blick in den Laden. »Keine Kunden. Wenn irgend jemand reinkommt und sich Ihnen nähert, treten Sie zur Seite. Lassen Sie sich von niemandem berühren. Ein Nadelstich würde genügen.«
»Nächste Woche beginnt der Mardi Gras. Es wird nicht leicht sein, im Französischen Viertel Körperkontakt zu vermeiden. Sie werden um mich herumwuseln müssen wie ein Linebacker von den Saints.«
»Dann mache ich das eben. Aber helfen Sie mir dabei, okay?«
»Darauf können Sie sich verlassen«, sagte sie geistesabwesend und sah zu der Kamera im Schaufenster hinüber. Sie spürte die vertraute Erregung, und sie bekam ein schlechtes Gewissen.
Emily hatte es Besessenheit genannt, Emily, die gerade erst heute morgen beerdigt worden war. Durfte sie sich solche Gefühle erlauben?
»Würden Sie lieber in Ihre Wohnung zurückgehen und sich in einer Ecke verkriechen?« fragte Kaldak grob und musterte ihr Gesicht. »Glauben Sie, daß Emily Ihnen das wünschen würde?«
Emily würde wollen, daß Bess ihr Leben genoß. Emily hatte Bess’ Leidenschaft nicht verstanden, aber sie hätte nie gewollt, daß Bess auf etwas verzichtete, was sie glücklich machte. Im Gegenteil, sie hätte sich mit jedem angelegt, der versuchte, Bess das Leben schwerzumachen. Nicht daß sie sich nicht selbst reichlich in Bess’ Angelegenheiten eingemischt hätte. Bess konnte beinahe hören, wie sie …
Zielstrebig trat sie an den Verkaufstresen. »Nein, das würde Emily nicht wünschen, und ich selbst will es auch nicht.«
»Sie streicheln die Kamera wie einen Hund«, bemerkte Kaldak, als er ihr die Ladentür aufhielt.
»Ich bin gerade dabei, ein Gefühl für sie zu entwickeln. Und sie fühlt sich an wie ein deutscher Schäferhund. Jedenfalls nicht wie ein Golden Retriever. Wir hatten einen, als ich klein war, und Simon war zwar liebenswert, aber ziemlich dumm.« Sie berührte die Kamera, die um ihren Hals hing.
»Diese Kamera ist intelligent, sehr intelligent.«
»Ein neuer Freund?«
Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Vorerst ist sie noch eine flüchtige Bekannte. Aber ich glaube, ich werde sie liebgewinnen.« Sie war bereits dabei, die Kamera liebzugewinnen. Bess spürte ganz deutlich, daß es die Richtige war, daß alles stimmte. Sie hob die Kamera ans Auge, stellte sie auf den Balkon auf der anderen Straßenseite scharf und drückte schnell ab. »Das ist eine gute Kamera.«
»Dann bin ich ja froh, daß Sie sie entdeckt haben.« Er nahm ihren Arm. »Es wird Zeit, daß wir zur Wohnung zurückkehren.
Wir sind schon lange genug auf dem Präsentierteller.«
Der große Clown mit grünen Haaren, der an der Ecke jonglierte.
Scharf stellen.
Abdrücken.
Die alte Obdachlose mit geröteten Wangen und dicken Strümpfen, die auf einem Hocker neben dem Durchgang saß.
Scharf stellen.
Abdrücken.
Der Musiker in Latzhose und kariertem Hemd, der mitten auf der Royal Street auf seiner Geige spielte.
Scharf stellen.
Abdrücken.
»Wenn Sie dauernd stehenbleiben, sind wir vor morgen früh nicht in der Wohnung«, bemerkte Kaldak trocken.
»Nun, ich muß mich an die Kamera gewöhnen.« Sie machte noch ein Foto von dem Clown. »Und es gibt keinen Ort auf der ganzen Welt, an dem sich so gute Fotos machen lassen wie in New Orleans. Das war einer der Gründe, warum ich hierhergezogen bin. Hier gibt’s alles, was ich mir wünsche. Man braucht nur einen Häuserblock weit in irgendeine Richtung zu gehen, und schon findet man ein Motiv, das eine Geschichte erzählt.«
»Hauptsache, Sie sind nicht die Story.« Er behielt die Menge um sie herum im Auge. »Und ich habe das Gefühl, daß Sie nicht nur aus Liebe zu Geschichten fotografieren.«
»Er könnte doch hier sein, oder?«
»Er ist wahrscheinlich in der Nähe.«
»Dann habe ich ihn vielleicht auf einem Foto.«
»Haben Sie sich deshalb heute die Kamera gekauft?«
»Nein.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Aber ich dachte, es würde Sie freuen, wenn ich ein bißchen Aufklärungsarbeit leiste.«
»Tut mir leid.« Kaldak faßte ein Trio von Teenagern ins Auge.
»Ich glaube, ich bin ein bißchen nervös.«
Es mußte schon eine Menge passieren, damit Kaldak nervös würde, dachte Bess mit einem Frösteln. »Ich glaube nicht, daß einer von diesen Jungs Ihr Killer ist.«
»Könnte aber sein. Es könnte jeder sein. Ich möchte wetten, daß er hier ist und uns beobachtet. Man kann nie wissen.«
»Stimmt, man kann nie wissen.« Sie hatte früher schon Fotos von Mördern gemacht. In Somalia, in Kroatien und von jenem Mann, der in Chicago kleine Jungs abgeschlachtet hatte. Aber sie hatte noch kein Foto von jemandem gemacht, der sie töten wollte.
Sie sollen sie sehen.
Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie die Kamera ans Auge führte.
Scharf stellen.
Abdrücken.
Sie hatte ein Foto von ihm gemacht.
De Salmo starrte hinter Grady und Kaldak her, bis sie um die Ecke gebogen waren.
Sie hatte ihn überrascht. Er hatte nicht erwartet, daß sie herumlaufen und fotografieren würde. Ihre Bewachung war so streng, daß er angenommen hatte, sie würden sie versteckt halten. Er hatte sich schon Gedanken gemacht, wie er in die Wohnung kommen könnte.
Kaldak, dieser eitle Bastard, glaubte offensichtlich, daß allein seine Anwesenheit abschreckend genug wirkte. Blödsinnig.
Dieser Auftrag war längst nicht so schwierig, wie Esteban annahm. Schnell verdientes Geld.
Aber es beunruhigte ihn, daß sie ein Foto von ihm gemacht hatte.