Kapitel 13

»Esteban ist nach Cheyenne gefahren. Nach Aussage von Perez erhielt er einen Anruf von Morrisey, bevor er abreiste«, erklärte Ramsey Kaldak am nächsten Morgen am Telefon.

»Ich habe zwei Agenten nach Cheyenne geschickt, die versuchen sollen, seine Spur aufzunehmen.«

Schon wieder Morrisey. »Ich bezweifle, daß Esteban immer noch dort ist. Er hätte nie jemanden wie Perez plaudern lassen, wenn er davon ausgegangen wäre, daß er ihm schaden könnte.

Haben Sie irgend etwas Neues über Morrisey herausgefunden?«

»Wir haben vor fünf Tagen einen seiner Anrufe bis zu einem Motel in Jackson Hole, Wyoming, zurückverfolgt. Wir haben einen Agenten hingeschickt, um vor Ort zu ermitteln, und wir hatten Glück. Morrisey hatte das Zimmer per Kreditkarte bestellt. Vielleicht können wir seine zukünftigen Aktionen überwachen.«

»Den letzten Anruf konnten Sie nicht verfolgen?«

»Nein, er kam über Handy«, erwiderte Ramsey.

Wieder eine Sackgasse. Esteban lief frei herum, und sie waren nicht einmal in der Lage, Morrisey aufzuspüren.

»Und was gibt’s Neues vom CDC?« fragte Ramsey.

»Fortschritte.«

»Das reicht nicht. Das einzige, was unseren Arsch retten kann, ist ein Antikörper. Sie müßten über sie verfügen können.«

»Sie steht zur Verfügung. Ich verschicke jeden Tag eine Blutprobe.«

»Was vorbei ist, sobald sie getötet wird. Sie war gestern draußen auf der Straße, verflucht noch mal.«

»Heute wird sie wieder rausgehen«, erwiderte Kaldak.

»Was glauben Sie, wie lange ich mir das noch ansehen werde, Kaldak? Sie ist zu wertvoll für uns, um –«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie was von Morrisey hören.«

Kaldak legte den Hörer auf.

»Morrisey?« Bess stand in der Tür.

»Esteban ist abgereist, nachdem er einen Anruf von ihm erhalten hat. Unsere letzte Information besagt, daß er nach Cheyenne gefahren ist.«

»Was machen wir dann noch hier?«

»Er wird längst nicht mehr dort sein. Wir können nur hoffen, daß wir Morrisey finden und die Information aus ihm rausquetschen.«

»Wenn er überhaupt etwas weiß. Sie haben selbst gesagt, daß Esteban selten irgend jemandem etwas anvertraut.«

»Morrisey kennt den Auftrag, den er bekommen hat. Das wäre schon ein Anfang«, erklärte Kaldak.

»Haben Sie jemanden auf den Fotos erkannt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich eben ausgehen und noch mehr machen.«

»Das wird auch nichts nützen.«

»Vielleicht doch.« Sie verzog das Gesicht. »Zumindest habe ich das Gefühl, etwas zu tun. Ich hasse es, einfach die Zeit abzuhaken.«

»Finden Sie es nicht sehr unterhaltsam, den Lockvogel zu spielen? Ramsey verfolgt das alles mit großem Interesse. Er würde Sie am liebsten in eine hübsche sterile Zelle stecken und den Schlüssel wegwerfen.«

»Scheiß auf Ramsey.«

»Ganz meine Meinung.« Er erhob sich. »Zwanzig Minuten.

Sie zeigen sich, machen ein paar Fotos und dann kommen wir wieder her.«

»Und ich sorge dafür, daß mir niemand zu nahe kommt.«

»Jetzt wo ich weiß, daß es De Salmo ist, mache ich mir nicht mehr so große Sorgen über die engen Viertel. Er bevorzugt ein Messer oder eine Pistole, und eine Pistole ist unter diesen Umständen nicht unauffällig genug. Ich setze auf das Messer.«

»Wie beruhigend.« Sie ging zur Dunkelkammer. »Ich bin froh, daß Sie nicht beunruhigt sind. Ich bin gleich wieder da. Ich brauche mehr Film.«

O nein, beunruhigt war er nicht. Er hatte schreckliche Angst, und die hatte er auch am Tag zuvor in jeder Sekunde auf dem Weg zu dem Fotogeschäft gehabt.

Die Straßenlaternen warfen Schatten auf die Ziegelmauer, Schatten, die entfernt an zusammengekauerte Ungeheuer erinnerten.

Interessant, dachte Bess. Sie mußte schon Hunderte Male aus diesem Fenster auf die Straße gestarrt haben. Wieso war ihr dieser Effekt zuvor nie aufgefallen? Vielleicht hatte sie in so unmittelbarer Nähe keine Ungeheuer sehen wollen.

Sie hielt die Kamera ans Auge und stellte sie scharf.

»Was machen Sie?« fragte Kaldak von hinten. »Sehen Sie jemand?«

»Ein Ungeheuer.«

»Was?«

»Nur einen Schatten auf der anderen Straßenseite. Aber das Motiv ist zu schön, um es mir entgehen zu lassen.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nie zu nah an ein Fenster gehen.«

»Hab’ ich vergessen.« Sie trat einen Schritt zurück.

»Ich nahm an, Sie hätten für heute genug Fotos gemacht. Sie waren den ganzen Nachmittag in der Dunkelkammer.«

»Irgend etwas muß ich tun, sonst werde ich verrückt.«

»Das kann ich gut verstehen. Ich bin selbst auch schon fast soweit. Sie müssen Ihre Kamera sehr vermißt haben.«

»Ja.« Sie drehte sich um und blickte zu Kaldak, der im Sessel saß. Er war hemdsärmelig und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Er hätte entspannt wirken können, aber er war es nicht. Die Nervosität war immer noch da. Sie hatte ihn nie wirklich entspannt erlebt. »Nicht mehr, als ich meine Augen vermissen würde.«

»Oder einen alten Freund.«

Sie nickte.

»Sehen Sie denn nie etwas an, ohne es durch die Linse einer Kamera zu betrachten?«

»Manchmal. Nicht oft, glaube ich. Selbst wenn ich meine Kamera nicht habe, betrachte ich die Dinge häufig, als wollte ich ein Foto machen. Emily hat gesagt –« Sie unterbrach sich.

So vieles in ihrem Leben führte sie immer wieder zu Emily.

»Sie mußte immer lachen und sagte, ich sei besessen.«

»Und stimmt das?«

»Vielleicht. Na ja, wahrscheinlich. Es gibt Zeiten, da ist es ganz schlimm.« Das Ungeheuer schien größer geworden zu sein, noch grotesker. Hatte sich das Licht verändert? Sie machte noch ein Foto. »Ich würde mich nackt fühlen, wenn ich die Kamera nicht hätte.«

»Sie dient nicht als Schutz?«

Sie hob die Augenbrauen. »Was?«

»Distanzieren Sie sich durch das Fotografieren nicht von der Situation? Soll es den Schmerz abhalten?«

»Mich distanzieren?«

Er betrachtete ihr Gesicht aufmerksam. »In welchen Situationen tun Sie es besonders oft? Wann distanzieren Sie sich?«

»Ich weiß nicht.«

»Passiert es in schrecklichen Situationen? In Danzar? In Tenajo?«

»Vielleicht.« Sie runzelte die Stirn. »Halten Sie sich zurück, Kaldak. Ich lege keinen Wert auf Ihre Psychoanalyse.«

»Tut mir leid, ist so eine Angewohnheit von mir. Aber Sie haben recht, es geht mich nichts an. Und ich wollte Ihnen auch nicht zu verstehen geben, daß irgend etwas falsch daran ist, Barrieren aufzubauen. Das machen wir alle. Ich fand es einfach interessant, daß Sie dafür eine Kamera benutzen.«

»Und was benutzen Sie?«

»Ich improvisiere.«

»Eigentlich ist es auch keine Barriere. Ich liebe meine Arbeit.«

»Ich weiß. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Im Grunde beneide ich Sie.«

Aber an dem, was er gesagt hatte, war etwas dran. Er war scharfsinnig und einfühlsam, und er hatte allzuoft recht gehabt.

Sie verspürte plötzlich Lust, ihn aus dem Konzept zu bringen, und hob die Kamera. »Lächeln, Kaldak.«

Sie mußte selber lächeln, als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. Es verschaffte ihr eine köstliche Befriedigung, ihn ertappt zu haben.

»Noch mal.«

Scharf stellen.

Abdrücken.

»Darf ich fragen, was Sie da eigentlich machen?«

»Ich mache ein Foto von Ihnen. Sie sind ein sehr interessantes Motiv.«

Das stimmte. Durch die Kameralinse nahm sie sein Gesicht als eine faszinierende Mischung aus Kühnheit und Feinheit wahr.

Sie wünschte, sie hätte eine angemessene Beleuchtung, um seine Wangenknochen hervorheben zu können.

»Weil ich so hübsch bin? Oder geht es Ihnen darum, Ungeheuer zu vergleichen?« Er lächelte bissig und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Tun Sie sich keinen Zwang an, wenn Sie unbedingt Ihre neue Kamera aufs Spiel setzen wollen.

Ich bin dafür bekannt, daß ich sie kaputtmache.«

Er entspannte sich nur ein wenig; sie konnte sehen, wie die Anspannung aus seinen Muskeln wich. Es war merkwürdig. Sie war bisher nie in der Lage gewesen, Kaldak objektiv wahrzunehmen. Seit ihrem ersten Zusammentreffen waren alle Situationen von einer breiten Palette intensiver Gefühle geprägt gewesen – Zorn, Furcht, Frustration …

Seine Hand, mit der er die Geste gemacht hatte, war groß und gut proportioniert, dachte sie abwesend. Wie alles andere an ihm. Muskulöse Schenkel, schmale Taille, breite Schultern.

Kraft und Geschmeidigkeit und Sexualität.

Sie ließ beinahe die Kamera fallen.

Sexualität? Wie war sie denn darauf gekommen?

»Etwas nicht in Ordnung?« Kaldak betrachtete sie aufmerksam.

»Es ist nichts.« Hastig senkte sie die Kamera, wandte sich um und ging in die Dunkelkammer.

Sie fühlte sich sicher. So sicher, daß sie sogar auf die Straße ging, dachte Esteban.

Und De Salmo unternahm nichts. Er brachte nur Entschuldigungen vor.

Sie versuchte, ihm zu zeigen, daß der Tod ihrer Schwester ihr nichts bedeutete. Er wußte aber, daß sie aufgewühlt war.

Sie war in dem Beerdigungsinstitut zusammengebrochen. Und dennoch zeigte sie sich, lief herum, machte Fotos, anstatt sich eingeschüchtert zu verstecken. Sie verspottete ihn. Dieser Gedanke versetzte ihn in Rage. Das konnte er nicht hinnehmen.

Als Bess und Kaldak am darauffolgenden Tag die Wohnung betraten, klingelte das Telefon.

»Haben Sie sich gut amüsiert auf der Beerdigung, Bess?«

Sie war wie vom Blitz getroffen. »Esteban.«

Kaldak rannte in die Küche.

»Es tut mir leid, daß ich sie verpaßt habe, aber einer meiner Angestellten hat mich vertreten. Er sagte, Sie hätten sich am Grab tapfer geschlagen.«

»Sie Hurensohn.« Ihre Stimme zitterte. »Sie haben sie getötet.«

»Das hatte ich Ihnen doch gesagt. Sie hätten mir glauben sollen. Aber dann hätten Sie mich um das Vergnügen gebracht, Ihnen ein so erlesenes Geschenk machen zu können. Leider war sie schon ein wenig angegammelt. Was haben Sie gedacht, als Sie sie gesehen haben –«

»Halten Sie den Mund.«

»Sie sind verärgert. Andererseits, was wollen Sie von Mutter Natur erwarten? Es war heiß. Wir wissen doch, was Hitze anrichten kann, oder? Als Sie über die Berge geflohen sind, muß Ihnen auch ganz schön heiß geworden sein.«

»Aber wir sind Ihnen entkommen. Sie haben verloren, Sie Scheißkerl.«

»Nicht Ihr Verdienst. Sie sind nur eine Frau. Ich hätte Sie gekriegt, wenn es den Hubschrauber nicht gegeben hätte. Hören Sie zu, Kaldak?«

»Ja«, erwiderte Kaldak.

»Das habe ich mir gedacht. Sie passen wirklich gut auf sie auf.

Aber es wird Ihnen nichts nützen. Ich werde sie kriegen. Das Miststück wird mich nicht aufhalten, aber sie hat mich geärgert.

Um ihr zu beweisen, daß ich nicht nachtragend bin, habe ich ihr ein weiteres Geschenk geschickt.«

Bess umklammerte den Hörer. »Warum kommen Sie nicht her und überreichen es mir eigenhändig?«

»Ich bin anderweitig beschäftigt, und so wichtig sind Sie nun auch wieder nicht.«

»Von wegen. Sie würden nicht hier anrufen, wenn Sie sich nicht vor Angst in die Hose machen würden.«

»Einen Häuserblock weiter steht eine Mülltonne. Ihr Geschenk liegt oben drauf.«

Er legte auf.

Kaldak war schon raus aus der Küche und unterwegs zur Wohnungstür. »Bleiben Sie hier. Ich hole es.«

»Ich komme mit.«

»Er will Sie vielleicht reinlegen.«

»Dann bewachen Sie mich eben, verdammt noch mal. Ich gehe mit.«

»Wenn Sie auch nur einen Fuß vor die Tür setzen, schlage ich Sie nieder, das schwöre ich Ihnen. Ich werde einen Agenten schicken, der das Scheißding abholt.«

Er rannte die Treppen hinunter und schlug die Eingangstür hinter sich zu. Kurz darauf war er wieder da. »In ein paar Minuten wird er hier sein. Er wird es hereinbringen und wieder auf seinen Posten zurückkehren. Und Sie bleiben, wo Sie sind.«

Es dauerte zwei lange Minuten, bis der Agent einen Karton hinter die Wohnungstür stellte.

Sie starrte darauf.

»Fassen Sie es nicht an. Gehen Sie ein Stück zurück. Ich fordere Sprengstoffexperten an«, sagte Kaldak.

»Da ist keine Bombe drin. Er weiß genau, daß das Ihr erster Gedanke wäre.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich habe ihn wütend gemacht. Er will mich damit nicht töten.«

Sie bückte sich nach dem Karton. »Er will mir weh tun.«

Er schlug ihre Hand zur Seite. »Ich werde das machen.«

Vorsichtig hob er den Deckel an.

Innen lag eine weiße Bluse, die Bluse eines Kindes mit einem Schulabzeichen auf der Brusttasche. Von Julies Schule. Bess hatte oft gesehen, daß Julie sie getragen hatte. Unterhalb der Brusttasche befand sich ein dunkelroter Fleck.

Blut. Sie wurde von Angst gepackt. »Julie.«

»Bleiben Sie ruhig.« Kaldak legte die Hand auf ihren Arm.

»Das will er doch erreichen.«

»Das ist Julies Bluse.«

»Aber Julie hätte bestimmt keine Schuluniform zum Zelten mitgenommen, oder?«

Vor Erleichterung bekam sie weiche Knie. »Nein. Sie zieht sie nur zur Schule an.«

»Also hat er jemanden beauftragt, in die Wohnung einzubrechen und die Bluse zu stehlen. Er hat Julie nicht in seiner Gewalt. Er hat ihr nichts angetan.«

Und trotzdem. Estebans Drohung hing über ihnen wie ein Damoklesschwert. Erst Emily und jetzt auch noch ihre Tochter.

»Sie befindet sich außerhalb seiner Reichweite. Und einer unserer Leute wartet auf sie bei der Ranger-Station. Esteban hat keine Möglichkeit, an sie heranzukommen.«

Aber wie lange würde sie noch außerhalb seiner Reichweite sein?

Kaldak schob sie sanft von dem Karton weg. »Ich werde die Bluse ins Labor schicken und den Fleck analysieren lassen.

Wahrscheinlich ist es Tierblut.«

»Nein, es ist menschliches Blut. So einfach würde er es mir nicht machen.«

»Es stammt nicht von Julie, Bess. Er will Ihnen einfach nur klarmachen, daß Sie hier für ihn nicht unerreichbar sind. Ich könnte Sie immer noch in das sichere Haus bringen, und wir könnten –«

»Ich weiß genau, was er beabsichtigt hat«, fiel sie ihm ins Wort. Und es war ihm auch gelungen. Diese neuerliche Scheußlichkeit hatte sie verängstigt und verletzt. »Sein verfluchtes Ego ist angekratzt, weil es ihm nicht gelingt, ›nur‹

eine Frau zu töten.« Wut stieg in ihr auf. »Ich mache ihn fertig.«

»Sie wollen nicht fahren?«

»Um ihn gewinnen zu lassen? Um ihm die Gewißheit zu geben, daß er mich eingeschüchtert hat und ich das Feld räume?

Ich bin froh, daß ich ihn so wütend gemacht habe. Vielleicht kommt er ja selbst, wenn seine Wut nur groß genug ist. Finden Sie heraus, wieso der Agent, der Emilys Haus bewachen soll, zulassen konnte, daß die Bluse da herausgeholt wurde. Und sorgen Sie bitte dafür, daß mehr als einer von Ramseys Leuten an der Ranger-Station warten.«

»Das müssen Sie mir nicht erst sagen.«

»Doch, das muß ich. Julie und Tom darf auf keinen Fall etwas passieren.« O Gott, das Blut auf der Bluse … »Haben Sie mich verstanden?«

»Ich habe verstanden«, sagte er ruhig. »Ich werde Ramsey anrufen und ihn ausquetschen, wie das passieren konnte.«

Sie nickte heftig. »Sagen Sie ihm auf jeden Fall –«

»Ich weiß, was ich ihm zu sagen habe.«

Natürlich wußte er das. »Tut mir leid, es ist einfach –«

»Es ist einfach so, daß Sie verflucht zu stur sind, um sich von mir von hier wegbringen zu lassen, obwohl Sie eine Todesangst ausstehen«, sagte er brüsk.

Sie hatte Angst. Noch bis vor ein paar Minuten hatten Zorn und Benommenheit wie ein Schutzschild gewirkt. Aber Esteban hatte diesen Schutzschild durchbohrt und die Angst eindringen lassen.

»Es ist nicht Julies Blut«, erklärte Yael, als er am folgenden Morgen anrief. »Wir haben ihre Blutgruppe von ihrem Hausarzt erfahren, und die stimmt nicht überein.«

Bess atmete erleichtert auf. »Danke, Yael.«

»Das muß ja eine scheußliche Überraschung gewesen sein.

Wie geht’s Ihnen?«

»Ich werde fast verrückt.« Und panisch. Sie hatte immer noch Angst. »Sie haben recht, es war scheußlich.« Sie legte den Hörer auf und wandte sich Kaldak zu. »Eine andere Blutgruppe.« Sie zog ihre Jacke an und langte nach der Kamera. »Gehen wir.«

»Sie wollen wieder da raus?«

»Daran hat sich nichts geändert.«

Er sah sie an.

»Er soll nicht denken, daß er mich eingeschüchtert hat. Ich werde ihm diese Genugtuung nicht verschaffen.«

Mehr Fotos.

Sie hatte ihn nicht gezielt anvisiert, aber sie mußte schon fünf oder sechs Fotos von ihm haben.

Es spielte eigentlich keine Rolle. Wer sollte ihn schon erkennen?

Es spielte eine Rolle. Er hatte stets dafür gesorgt, daß keine Fotos von ihm existierten, seit er sich in Marco De Salmo verwandelt hatte. Fotos waren gefährlich. Die Menschen erinnerten sich an ein Gesicht, wenn sie sich auch an sonst nichts erinnern konnten. Und heutzutage konnte man in technischer Hinsicht alles mögliche mit Fotos anstellen.

Wenn sie doch endlich damit aufhören würde, diese verdammten Fotos zu machen. Er hatte geglaubt, sie schneller erledigen zu können, aber immer war Kaldak da und paßte auf.

Es war ihm nicht gelungen, in ihre Nähe zu kommen, und Esteban wurde allmählich ungeduldig. Wahrscheinlich war es sinnvoller, zu seinem ersten Plan zurückzukehren und die Wohnung in die Luft zu jagen. Aber ganz egal, wo er sie umlegte, die Fotos konnte er auf keinen Fall zurücklassen. Er mußte in die Wohnung und sie herausholen.

»Sind Sie jetzt zufrieden?« fragte Kaldak gereizt, als sie zur Wohnung zurückgingen. »Wir waren mehr als zwei Stunden unterwegs. Wollten Sie sichergehen, daß sie eine gute Gelegenheit für einen Anschlag auf Sie bekommen würden?«

Sie antwortete nicht. Sie hatte gemerkt, wie angespannt Kaldak die ganze Zeit über gewesen war.

Er öffnete die Haustür. »Nun?«

Er schien nicht lockerlassen zu wollen. Sie ging die Treppe hinauf. »Nichts ist passiert. Er soll ruhig wissen, daß er nicht –«

Ratten.

Dutzende von Ratten. Riesige Ratten.

Auf der Treppe vor ihr. Und auch hinter ihr. Sie huschten aufgeregt die Stufen hinauf und hinunter.

Sie erschauerte, als ihr eine über die Füße lief.

»Raus.« Kaldak packte sie am Arm und zog sie die Treppe hinunter hinaus auf die Straße.

Die Ratten strömten zur Tür hinaus auf den Gehweg. Noch eine Ratte streifte ihren Fuß.

Agent Peterson kam über die Straße gerannt. »Was ist passiert?«

»Wie zum Teufel sind die hier hereingekommen?« fragte Kaldak.

»Niemand war im Haus. Ich habe es die ganze Zeit beobachtet

–«

»Schaffen Sie sie von der Treppe runter.«

Peterson verschwand im Haus.

»Ich hasse Ratten. Widerlich …« Sie hörte gar nicht auf zu zittern. »Esteban?«

Er nickte. »Wenn man seinen Hintergrund in Erwägung zieht, möchte ich darauf wetten. Er wollte seine schlimmsten Alpträume an Sie weitergeben.«

Sie schloß die Augen.

»Ist alles in Ordnung?«

»Es ist nur der Schock.« Sie öffnete die Augen und steuerte das Treppenhaus an. »Ich muß rauf. Er ruft bestimmt an. Er wird wissen wollen, wie ich es verdaut habe.«

Sie ging an dem Agenten vorbei, der die Ratten die Treppe hinunterscheuchte, und schloß die Wohnungstür auf.

Kaldak war direkt hinter ihr und schob sie zur Seite. »Lassen Sie mich die Wohnung zuerst durchsuchen. Der Agent muß Mist gemacht haben.«

Das Telefon klingelte, als Kaldak aus der Dunkelkammer kam.

»Lassen Sie mich abnehmen.«

»Nein. Er will mit mir sprechen. Und ich will mit ihm reden.«

»Aha, Sie sind also endlich nach Hause gekommen. Ich hab’s schon zweimal probiert«, sagte Esteban, als sie den Hörer abnahm. »Hat Ihnen meine kleine Überraschung gefallen?«

»Ein ziemlich schlapper Versuch. Ich wußte, daß Sie Julie nicht haben«, erwiderte sie. Bleib ruhig. Zeig ihm bloß nicht deine Angst und deinen Abscheu. »Was die Ratten betrifft …

die haben mich nicht beeindruckt. Ich mag sie. Ich hatte als kleines Kind eine zahme Ratte.«

Er schwieg. »Sie lügen.«

»Es war eine weiße Ratte, und sie hieß Herman. Sie war in einem Käfig mit einem Laufrad und einem kleinen –«

Er legte auf.

»Hatten Sie wirklich als Kind eine Ratte?« fragte Kaldak.

»Sind Sie verrückt? Ich kann die Viecher nicht ausstehen

Sie holte tief Luft. »Aber ich glaube, er hat es mir abgekauft.«

»Wenn ja, wird er Sie noch mehr hassen. Sie sind jetzt im Bunde mit der ihn verfolgenden Rachegöttin Nemesis.«

Als es klopfte, öffnete Kaldak die Tür. Es war Peterson.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Kaldak über die Schulter.

»Ich muß etwas überprüfen.«

Sie war froh, daß er weg war. Er sollte nicht mitbekommen, wie dieser jüngste Anschlag sie beunruhigt hatte. Sie mußte sich ein bißchen erholen. Zum Teufel, sie würde ein ganzes Jahr brauchen, um sich zu erholen.

Zuerst der psychische Anschlag mit Julies Bluse, und jetzt der physische Anschlag mit den Ratten.

»Jemand hat ein Loch in die Außenwand zur Gasse gebohrt«, sagte Kaldak, als er wieder in die Wohnung kam.

»Das kann jederzeit passiert sein, und Peterson konnte von seinem Posten auf der anderen Straßenseite aus gar nichts mitbekommen.« Er preßte die Lippen zusammen. »Von jetzt an wird auch die Gasse bewacht.«

»Dort sind sie hereingekommen?«

Er nickte. »Sie haben ein Stück Rohr durch das Loch in der Wand geschoben. Als wir weg waren, haben sie die Ratten reingelassen, die uns dann bei unserer Rückkehr erwartet haben.«

»De Salmo?«

»Oder ein anderer von Estebans Leuten. De Salmo ist ein Spezialist, aber das hier war Kleinkram.«

Ihr war es nicht wie Kleinkram vorgekommen. Eher wie ein Alptraum.

»Wenn es Ihnen nicht gefällt, wissen Sie ja, was Sie tun können.«

»Seien Sie still, Kaldak. Ich gehe nirgendwohin.«

»Außer morgen wieder ins Viertel.«

»Stimmt.«

»Hervorragend«, murmelte er. »Ganz hervorragend.«

Am folgenden Nachmittag warf sie die neuen Fotos vor ihn auf den Couchtisch. »Hier sind sie. Sehen Sie zu, was Sie damit anfangen.«

Er blätterte die Fotos durch. »Das ist ja eine ganze Menge.«

»Vier Filme. Ich wollte sicherstellen, daß ich ihn drauf habe, falls er da draußen war.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen.

»Nun?«

»Auf Anhieb nichts. Ich muß sie mir genauer ansehen.«

»Wir können es ja noch mal versuchen«, erwiderte sie enttäuscht.

»Nein!« Er warf noch einmal einen flüchtigen Blick auf die Fotos. »Die Straßen werden allmählich immer belebter. Wir können nicht mehr rausgehen.«

»So ein Quatsch.«

»Kein Quatsch«, entgegnete er knapp. »Es ist zu gefährlich, verdammt noch mal. Wir bleiben hier.«

Nur nicht aufregen. Ganz ruhig bleiben. »Und was ist mit der Rakete durchs Fenster und der Mamba im Abfluß?«

»Darum kümmere ich mich schon.«

»Wir waren uns doch einig, daß das Risiko nicht viel größer ist.« Sie beugte sich stirnrunzelnd vor. »Das ergibt keinen Sinn, Kaldak.«

»Wir waren uns überhaupt nicht einig, und außerdem ergibt es sehr wohl einen Sinn. Sie wollen, daß ich Ihr Leben schütze.

Und das tue ich.«

»Wir waren jeden Tag auf der Straße, und bisher ist nichts passiert.«

»Wir gehen nicht mehr raus.«

»Warum sind Sie plötzlich dagegen? Was hat sich geändert?«

»Ich hatte gehofft, er würde mir auffallen, und ich könnte mich um ihn kümmern. Aber er spielt nur Katz und Maus mit uns.«

»Dann spielen wir eben mit. Und in der Zwischenzeit werde ich weiter fotografieren, und Sie können –«

»Nein, es ist zu gefährlich.«

»Bisher haben Sie es nicht für zu gefährlich gehalten.«

»Aber jetzt, verdammt noch mal.« Er wischte die Fotos auf den Fußboden. »Tun Sie gefälligst, was ich Ihnen sage.«

Sein Ausbruch überraschte und schockierte sie. Sie hatte ihn früher schon gewalttätig erlebt, aber die Gewalttätigkeit war kühl und kontrolliert gewesen. Diesmal war er alles andere als kühl. Der Mann vor ihr war völlig anders als der Kaldak, den sie kennengelernt hatte. »Was stimmt nicht, Kaldak?«

»Fragen Sie lieber, was stimmt. Esteban versucht, Sie an die Ratten zu verfüttern; der Schlag kann jeden Moment losgehen; Ramsey ist nicht in der Lage, Morrisey oder Esteban zu finden, und De Salmo ist irgendwo da draußen und wartet nur darauf, daß ich eine falsche Bewegung mache, um Sie umlegen zu können.«

»Vielleicht ist er ja nicht einmal hier. Vielleicht hat sich der Informant getäuscht.«

»Er ist hier.« Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf die Fotos auf dem Fußboden. »Ich kann den Scheißkerl nur leider nicht identifizieren.«

»Sie haben ihn ja auch nur einmal aus der Entfernung gesehen.«

»Irgend etwas müßte es doch geben … irgendeine Möglichkeit.«

Sie kniete sich hin, um die Fotos einzusammeln. Aber er war sofort neben ihr. »Das war ich. Ich hebe sie auf.«

»Ist das schon wieder eine der Regeln Ihrer Mutter?«

»Das ist meine Regel. Wenn man irgend etwas kaputtmacht, repariert man es auch wieder.« Er legte die Fotos auf den Couchtisch. »Man versucht es zumindest. Manchmal kann man einen Scherbenhaufen aber nicht wieder zusammensetzen.«

»Nun war das ja kein irreparabler Scherbenhaufen.«

Er wollte ihr nicht in die Augen sehen. »Es tut mir leid.«

Bevor sie antworten konnte, war er schon in der Küche verschwunden.