Kapitel 16
Tag zwei 12.35 Uhr
Kaldak war unterwegs zu Shea’s Bar, als er den Anruf von Yael bekam.
»Bess verläßt New Orleans. Ich dachte, du solltest es erfahren.«
»Wie bitte?«
»Sie ist gerade in ihrem Schlafzimmer und packt. Sie fährt zum Johns Hopkins. Das Kind wird morgen früh operiert.«
Murphys Gesetz. Er hätte sich denken können, daß das entscheidende Ereignis, das Bess in die Öffentlichkeit locken würde, passieren mußte, während er gerade Hunderte von Meilen entfernt war. »Fährst du mit ihr?«
»Sieht so aus. Weil ich dir voreilig ein Versprechen gegeben habe. Aber sie zu schützen bereitet zunehmend Schwierigkeiten.
Das einzig Gute ist, daß wir auf De Salmo gestoßen sind.«
»Wie das?«
Yael erklärte es ihm. »Ramsey hat angeordnet, ihn zu einem Verhör festzunehmen«, schloß er.
»Weiß Ramsey, daß du die Stadt verläßt?«
»Noch nicht. Sollte ich ihm das mitteilen?«
»Erst wenn ihr weg seid. Dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als dafür zu sorgen, daß Bess im Krankenhaus beschützt wird.«
»So sehe ich das auch.«
»Nehmt das Treppenhaus zum Hof und geht zum Hinterausgang raus. Hast du einen Wagen?«
»Er steht an der Canal Street. Und wie soll ich an Ramseys Wache im Hof vorbeikommen?«
»Wie zum Teufel soll ich das wissen? Laß dir was einfallen.
Damit hast du doch sonst auch keine Probleme.«
»Vielen Dank.«
»Kauf ein Ticket nach Milwaukee über Chicago. Wenn ihr in Chicago seid, paß auf, daß euch niemand folgt. Dann nehmt ihr einen Flug nach Baltimore.«
»Noch weitere Anweisungen?«
»Tut mir leid.« Yael hatte völlig recht mit seinem Sarkasmus.
Kaldak versuchte, die Kontrolle über die weite Entfernung hinweg zu behalten. Er fühlte sich so verflucht hilflos. Er wäre am liebsten dort. Und die Angst drehte ihm den Magen um.
»Kein Problem.« Yael dachte nach. »Hast du Morrisey gefunden?«
»Tot.«
»Mist.«
»Ja, aber ich habe vielleicht eine Spur. Ich werde dir später darüber berichten. Ruf mich an, wenn ihr im Krankenhaus seid.«
»Wenn ich ungestört telefonieren kann. Es wird Bess nicht gefallen, wenn sie mitbekommt, daß ich dir Bericht erstatte. Am Ende gibt sie mir noch einen Tritt, und das würde dir bestimmt nicht gefallen.«
»Also ruf an, sobald du kannst.« Er legte auf. Versuch jetzt vor allem, Cody Jeffers zu finden, sagte er sich. Bloß nicht an Bess denken. Es gab nichts, was er sonst tun konnte. Yael war intelligent und vorsichtig. Er würde sich um sie kümmern.
Einfach nicht an Bess denken, Yael telefonierte. Bess konnte nicht hören, was er sagte, aber sie hätte wetten können, daß sie genau wußte, wen er an der Strippe hatte. Es war ihr völlig egal, ob Kaldak erfuhr, wohin sie unterwegs war, aber es gefiel ihr nicht, daß Yael mit dem Gespräch gewartet hatte, bis sie im Schlafzimmer verschwunden war.
Sie zog ihre Jacke an, hängte sich die Kamera um und ging wieder ins Wohnzimmer. »Ich bin reisefertig. Ich hoffe, Kaldak hat Ihnen gute Vorschläge gemacht, wie wir hier rauskommen.«
»Ups.« Yael stand auf und nahm ihren Koffer ebenso wie seinen eigenen. »Ich wollte nur diskret sein.«
»Es wäre mir lieber, Sie wären ehrlich, anstatt diskret.
Welchen Weg nehmen wir?«
»Durch den Hof.« Er schloß die Wohnungstür auf. »Sie bleiben hier am Treppenabsatz, während ich runtergehe und mit Ramseys Mann rede. Mal sehen, wie ich ihn von hier weglotsen kann.«
»Was ist, wenn es nicht klappt?«
»Ich denke, dann werde ich ihm sanft und vorsichtig eins über die Rübe geben.«
»Ich glaube nicht, daß man egal wem sanft eins über die Rübe geben kann. Ramsey wird ganz schön sauer auf Sie sein.«
»Damit muß ich leben.« Yael ging die steinernen Stufen hinunter. »Warten Sie hier.«
Im Hof gab es keine Beleuchtung, und es sah aus, als würde Yael in einem schwarzen Loch verschwinden. Bess strengte sich an, etwas zu sehen, aber sie konnte weder Yael noch den Wachposten ausmachen.
Ihr wurde plötzlich unbehaglich. Sie müßte eigentlich Schritte hören. Yaels Stimme. Irgend etwas …
Stille.
»Bess«, rief Yael.
Sie zuckte zusammen.
»Kommen Sie. Beeilen Sie sich.«
Sie rannte die Stufen hinunter, und Yael geleitete sie durch den Hof.
»Wie sind Sie ihn losgeworden?«
»Bin ich gar nicht«, murmelte er. »Er war nicht da.«
»Was?«
»Er war gar nicht da.« Sie konnte seine Anspannung fühlen.
»Und es gefällt mir nicht, verdammt noch mal. Ramsey hätte ihn nicht von seinem Posten beordert.«
»Der andere Wachmann, Peterson …« Peterson war tot.
Peterson war ermordet worden.
Yael antwortete nicht, aber er verstärkte den Druck auf ihren Arm.
Die Gasse, die zur Straße führte, wirkte düster und bedrohlich.
»Bleiben Sie ein paar Schritte hinter mir. Ich gehe voraus.«
Yael verschwand in der Dunkelheit.
Allein. Die Angst ließ sie erschauern. Irgend jemand beobachtete sie. Sie konnte es spüren.
Nicht in der Gasse, die Yael entlangging. Hinter ihr.
Sie blickte über die Schulter und sah nur Ungeheuer. Schatten über Schatten. Dann eine Bewegung.
Gott.
Sie rannte die lange Gasse entlang hinter Yael her. Sie konnte die Straßenlaternen und Yaels Umrisse erkennen.
»Yael!«
»Bess, was ist –«
Eine Hand faßte ihr ins Haar und hielt sie mit einem Ruck an.
Sie blickte über die Schulter. Ein weiß angemaltes Gesicht leuchtete in der Dunkelheit. Ein Totenkopf. Es sah aus wie ein Totenkopf. Noch etwas anderes blitzte auf, die Klinge in seiner Hand.
»Lauf, Bess.« Yael riß sie von De Salmo mit einer Wucht, die sie gegen die Mauer warf.
Sie konnte nicht weglaufen. Sie konnte Yael nicht allein lassen. Wo war er? Sie konnte nur undeutlich zwei Gestalten wahrnehmen, die in der Dunkelheit kämpften. Es dauerte nur einen Augenblick, dann kam einer der Männer auf die Füße, auf sie zu.
Yael?
De Salmo?
Sie wandte sich um und rannte.
Er war direkt hinter ihr.
Er packte sie am Arm. »Bess!«
Sie atmete erleichtert auf. »Yael. Ich dachte – Ich war mir nicht sicher –«
»Einen Moment lang war ich es mir auch nicht.« Er keuchte schwer. »Er war sehr gut.«
»De Salmo?«
»Ich nehme es an. Ich kenne sonst niemanden mit grünen Haaren, Sie etwa?«
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Er wird Sie nicht wieder belästigen.«
»Ist er tot?«
»Ziemlich. Ich bin auch sehr gut.«
Sie hatten die Gasse hinter sich gelassen und befanden sich auf der Straße. Lichter. Wunderschöne Lichter. Gott sei Dank.
»Was wollen Sie mit ihm machen?«
»Wenn Sie immer noch vorhaben, nach Baltimore zu fahren, überlassen wir ihn Ramsey. Ich bezweifle, daß er für uns ein sehr unterhaltsamer Reisebegleiter wäre.«
»An meinem Vorhaben hat sich nichts geändert.«
»Das habe ich auch nicht angenommen.« Mit leichtem Druck schob er sie vorwärts. »Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, daß wir aus dem Viertel rauskommen, ohne Ramsey oder einem seiner Leute in die Arme zu laufen.«
Cheyenne 1.40 Uhr
Die Beleuchtung im Büro des Demolition Derby-Stadions war so schummrig, daß Kaldak näher an den Schreibtisch herantreten mußte, um das Gruppenfoto betrachten zu können.
»Das da ist Jeffers. Zweite Reihe, der dritte von links.«
Dunston zeigte auf einen Mann mit Cowboyhut. »Ich habe ihm empfohlen, den Hut nicht zu tragen, aber er setzte ihn trotzdem auf. Er ist ein richtiger Draufgänger.«
Jeffers war Anfang Zwanzig, hatte ein breites Gesicht mit tiefliegenden, hellen Augen. »Ist er gut?«
»Nicht schlecht, aber auch nicht so gut, wie er glaubt.«
Jeffers’ Haare wurden fast vollständig von dem Cowboyhut verdeckt. »Welche Haarfarbe hat er?«
»Aschblond.«
»Kurz?«
Dunston nickte. »Locken. Er hat immer versucht, sie glattzukämmen.«
»Ich kann seine Augenfarbe nicht erkennen.«
»Blau.«
»Führen Sie eine Akte über Jeffers?«
»Klar. Glauben Sie etwa, das Finanzamt ließe mich ein Geschäft betreiben, ohne daß ich über jeden Mist eine Akte anlege?« Dunston trat an den Aktenschrank und blätterte durch die Ordner. »Jeffers.« Er überreichte Kaldak den Ordner.
»Wissen Sie, das überrascht mich eigentlich nicht. Ich habe immer gewußt, daß Cody in Schwierigkeiten geraten würde.«
Kaldak schlug den Ordner auf. »Warum?«
Dunston zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht genau benennen. Aber wo er auftaucht, passieren schlimme Sachen.
Und zwar meistens bei Leuten, die Cody nicht leiden kann.«
Jeffers’ Mutter war geschieden und wohnte in Aurora, Kansas, einem Vorort von Kansas City. Von anderen Angehörigen war nichts bekannt. Nordlicht, hatte der Angestellte im Hotel gesagt.
Meinte er Aurora Borealis? »Können Sie mir etwas über Jeffers’
Mutter sagen?«
»Ich weiß, daß er sie ziemlich häufig besucht hat. Sie war letzten Monat hier, und ich habe ihr eine Freikarte für das Rennen gegeben. Er hat sich für sie herausgeputzt und angegeben wie ein Pfau.« Er verzog das Gesicht. »Ein ziemlich ehrgeiziges Luder. Die hat es doch fertiggebracht, mich zu fragen, warum ich ihr Herzchen nicht groß rausbringe. Er hat mir fast schon leid getan. Es war ziemlich deutlich, daß Cody in ihren Augen nicht bestehen konnte, wenn er nicht zu den Gewinnern gehörte.«
»Hat er Urlaub beantragt, bevor er verschwunden ist?«
Dunston schüttelte den Kopf. »Einen Abend war er hier, und am nächsten fuhr er wieder nicht.«
»Dürfte ich den Ordner und das Foto haben?«
»Wenn ich den Ordner zurückbekomme. Ich möchte mir nicht vom Finanzamt nachsagen lassen, ich würde einen Angestellten beschäftigen, der nicht existiert.«
Kaldak nahm einen Stift und malte einen Kreis um Jeffers’
Gesicht auf dem Foto. »Sie bekommen beides zurück.«
»Kann ich jetzt abschließen und wieder in die Bar gehen?«
fragte Dunston. »Ich wollte eigentlich nicht den ganzen Abend auf diese Weise verbringen.«
Kaldak nickte. »Danke, daß Sie sich Zeit genommen haben.
Rufen Sie mich an unter der Nummer, die ich Ihnen gegeben habe, sobald Sie etwas von Jeffers hören.«
»Ziemlich unwahrscheinlich, oder? Sie wären doch nicht hier, wenn er nicht was ziemlich Schlimmes angestellt hätte.«
»Man kann nie wissen.« Kaldak verließ das Büro und eilte zum Ausgang. Er bezweifelte, daß Dunston jemals wieder etwas von Jeffers hören würde. Esteban hatte den jungen Mann aus diesem Milieu geholt, um ihn für seine Zwecke zu gebrauchen, und würde Jeffers von dieser Welt fernzuhalten wissen.
Aber möglicherweise hatte Kaldak einen Ansatzpunkt gefunden. Es war schwierig, einen Mann von seiner Mutter fernzuhalten, vor allem, wenn sie eine so dominante Frau war, wie Dunston sie beschrieben hatte. Er würde Ramsey das Foto und die Akte per Fax schicken und den nächsten Flug nach Kansas City nehmen.
Kaldak wurde es um so unbehaglicher zumute, je mehr Einsichten er gewann. Jeffers schien rücksichtslos, impulsiv und eitel zu sein. Es würde Esteban leichtfallen, ihn zu manipulieren.
Wo er auftaucht, passieren schlimme Sachen.
Er konnte nur hoffen, daß Dunstons Worte sich nicht bewahrheiten würden.
Des Moines, Iowa 6.50 Uhr
Cody warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Höchste Zeit, nach Waterloo aufzubrechen. Esteban legte Wert darauf, daß alles wie ein Uhrwerk funktionierte und genau nach seinen Befehlen ablief. Hauptsache, er machte das Geld locker. Cody würde ihm geben, was er haben wollte.
8.30 Uhr
De Salmo war tot.
Esteban legte den Hörer auf. Ärgerlich.
Vielleicht aber auch nicht. Er hätte sich De Salmos sowieso entledigen müssen, außerdem hatte sich De Salmo nicht als effizient erwiesen, was die Frau betraf. Allerdings konnte sich Esteban im Moment nicht um die Frau kümmern.
Er war so nahe dran. Cody Jeffers müßte bereits in Waterloo sein.
Nach all der Zeit, nach all der Vorbereitung konnte der Countdown endlich losgehen.
Waterloo, Iowa 10.05 Uhr
Cody lehnte sich gähnend gegen die Stoßstange des LKW.
Warten war langweilig. Aber sie waren anscheinend bald fertig.
Er kletterte wieder auf den Fahrersitz. Es war alles zu einfach.
Keine Aufregung. Selbst der kleine Extraauftrag, den Esteban ihm verschafft hatte, war reibungslos über die Bühne gegangen.
Diese Araber hatten ihn nicht einmal begleitet, als er pinkeln wollte.
Er beobachtete, wie sie um den LKW herumwuselten. Wenn das sein Wagen wäre, würde er nicht zulassen, daß die Ausländer ihn berührten. Man konnte keinem trauen außer guten, weißen Amerikanern. Das wußte jeder.
Jetzt waren sie fertig und winkten ihn gebieterisch aus der Scheune heraus. Arrogante Hurensöhne. Genau wie die grinsenden Japse in dem alten Film mit John Wayne.
Aber John Wayne hatte es ihnen gezeigt.
Genauso wie Cody Jeffers es ihnen zeigen würde.
Johns Hopkins 11.20 Uhr
»Warum ist sie immer noch im Operationssaal?« fragte Bess besorgt. »Es kann doch nicht so lange dauern.«
»Wirklich nicht?« erwiderte Yael. »Ich wußte gar nicht, daß Sie Chirurgin sind. Vielleicht sollten Sie reingehen und Dr. Kenwood ablösen.«
»Halten Sie den Mund, Yael. Ich habe unglaubliche Angst. Sie ist so klein …«
»Ich weiß«, gab Yael sanft zurück. »Wahrscheinlich dauert es deshalb so lange. Es ist sicherlich eine Operation, bei der man Fingerspitzengefühl braucht.«
Er hat recht, dachte sie erleichtert. Vielleicht war gar nichts schiefgelaufen. Es war gut, daß Yael bei ihr war, und nicht Kaldak. »Ich nehme an, Sie haben Kaldak angerufen, nachdem wir hier angekommen sind.«
Er nickte. »Während Sie vor der Operation mit Dr. Kenwood gesprochen haben.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr. »Ich habe auch Ramsey angerufen.«
Sie zuckte zusammen.
»Ich mußte es tun. Sie brauchen erheblich mehr Schutz, wenn Sie hierbleiben.«
»Hauptsache, er zwingt mich nicht, Josie allein zu lassen.«
»Wahrscheinlich wird er es versuchen, aber wir werden ihn eine Weile hinhalten.«
»Wissen Sie mittlerweile, was dem Wachmann zugestoßen ist, der im Hof postiert war?«
Yael verzog das Gesicht.
»Tot?«
»Man hat ihn unter dem Treppenabsatz gefunden. De Salmo beabsichtigte offensichtlich, in die Wohnung einzudringen.«
Sie lächelte gequält. »Eine Mamba im Abfluß?«
»Ich habe meine Zweifel, ob er intelligent genug war, um James Bond zu spielen. Machen Sie sich darüber keine Sorgen mehr. Sie sind jetzt hier und in Sicherheit.«
»Sie hätten Ramsey nicht sagen sollen, daß ich hier bin. Ich möchte wetten, daß das Kaldaks Idee war.«
»Stimmt, und ich fand es auch richtig. Ich wußte, daß ihm Ihr und Josies Wohlergehen am Herzen liegt.«
»Quatsch. Wir sind ihm völlig egal.«
»Sie wissen selbst, daß das nicht stimmt. Ihm liegt eine Menge an Ihnen. Nur konnte er sich davon nicht aufhalten lassen. Er hat so lange darauf gewartet, endlich an diese Sache heranzukommen,«
»Er hat sich falsch verhalten. Ich kann nachvollziehen, wie nahe es ihm ging, daß seine Kollegen in Nakoa gestorben sind, aber das entschuldigt noch lange nicht –«
»Seine Kollegen?« fragte Yael. »Das hat er Ihnen gesagt?«
»Ja.« Seine Reaktion verwirrte sie.
»Seine Mutter und sein Vater waren Wissenschaftler, und beide waren in Nakoa. Seine Mutter hatte die Leitung des Projekts inne. Sie haben Kaldak in das Projekt hineingebracht.
Lea, seine Frau, arbeitete im Labor. Sie hatten einen vierjährigen Sohn.«
Der Schock traf sie tief. »Und sie sind alle in Nakoa ums Leben gekommen?«
Yael nickte. »Ich glaube, das erklärt seine Besessenheit.«
»Davon hat er mir nichts erzählt.«
»Mir auch nicht. Ich mußte es selber herausfinden.«
»Warum?« murmelte sie. »Warum hat er mir das verschwiegen?«
»Das weiß ich auch nicht. Ich bin nicht Kaldak.«
Wer war Kaldak? Er hatte ihr die Geschichte von Nakoa so emotionslos erzählt, als wäre er ein Roboter. Er hatte behauptet, nicht mehr der Mann zu sein, der durch diesen Horror gegangen war. Aber seine Qualen waren offensichtlich so heftig, daß er selbst nach all den Jahren nicht über diesen Verlust sprechen konnte.
»Trotz allem ist sein Verhalten unverzeihlich.«
»Ich entschuldige nicht, ich erkläre lediglich.« Er lächelte.
»Und vielleicht wollte ich Sie auch nur ein wenig ablenken. Es betrübt mich, daß Sie derart –«
»Da sind sie ja.« Sie sprang auf, weil sich die Tür des Operationssaals öffnete und ein ganzer Schwarm von Krankenschwestern und Ärzten herauskam. In ihrer Mitte schoben sie eine Trage, auf der Josie lag.
Dr. Kenwood nahm seinen Mundschutz ab und lächelte Bess an. »Es geht Josie sehr gut. Ihr Zustand ist stabil.«
»Das ist alles?«
»Das ist schon ganz gut für eine Operation, die so lange gedauert hat. Es wird Sie freuen zu hören, daß alles hervorragend geklappt hat.«
»Ich freue mich ja. Aber meine Freude wäre noch größer, wenn Sie mir sagen würden, daß Josies Aussichten ebenso hervorragend sind.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich wünschte, ich könnte es. Jetzt geht es ihr erst einmal gut. Später werden wir mehr wissen.«
Bess war zutiefst enttäuscht. Sie hatte gehofft –
»Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen berichten werde, sobald ich etwas weiß.« Dr. Kenwood entfernte sich.
Yael legte Bess tröstend die Hand auf die Schulter. »Sie hat die Operation überlebt. Vor fünf Minuten wären Sie schon darüber glücklich gewesen.«
»Ich weiß. Ich wünsche nur –« Sie hoffte verzweifelt, daß Josie wieder völlig genesen würde, und es war so schwer zu warten. »Ich suche jetzt jemanden, der mir eine Blutprobe abnimmt, die Sie nach Atlanta schicken können. Dann gehe ich zum Aufwachraum und warte darauf, daß Josie wach wird.«
»Ich begleite Sie.« Yael lief neben ihr her. Sie war schon unterwegs in die Richtung, in die man Josie gebracht hatte.
Aurora, Kansas 15.50 Uhr
Das Haus der Jeffers’ war ein gepflegtes kleines Holzhaus wie ein halbes Dutzend andere im gleichen Block.
Die Frau, die die Tür öffnete, schlüpfte gerade in einen braunen Mantel. »Was gibt’s?« fragte sie ungehalten.
»Mrs. Jeffers?« fragte Kaldak.
»Sind Sie Vertreter? Haben Sie mich erschreckt, ich wollte gerade zur Tür raus.« Donna Jeffers war vermutlich in den Fünfzigern, wirkte aber jünger. Sie hatte das blonde Haar elegant frisiert und war tadellos geschminkt. Sie trug ein Tweedkostüm, dessen kurzer, kesser Rock ihre gutgeformten Beine betonte.
»Und außerdem habe ich eine Verabredung und bin spät dran.«
»Ich bin kein Vertreter. Ich suche Ihren Sohn Cody.«
Ihre Lippen wurden schmal, und sie musterte Kaldak von Kopf bis Fuß. »Warum? Sind Sie Geldeintreiber?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich beabsichtige, eine Demolition-Bahn in der Stadt zu eröffnen, und möchte ihm einen Job anbieten.«
»Cody hat einen Job.«
»Vielleicht kann ich ihm eine höhere Gage bieten. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finden kann?«
»Cody wohnt schon lange nicht mehr hier.«
»Aber Sie müssen doch noch in Verbindung mit ihm stehen.«
»Wieso müssen? Seit einiger Zeit haben wir uns auseinandergelebt.«
Sie sah auf die Uhr. »Und ich muß in einer halben Stunde am anderen Ende der Stadt sein, um ein Haus anzubieten.«
»Sie sind Immobilienmaklerin?«
»Interessiert Sie das?« Sie ging an ihm vorbei zu einem Oldsmobile, der in der Einfahrt geparkt war. »Vielleicht haben Sie ja für mich auch einen Job.«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir helfen könnten, –«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Mr ….?«
»Breen. Larry Breen.«
»Sie müssen Cody schon selber finden, Mr. Breen. Ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Über die Jahre haben wir den Kontakt verloren.«
Kaldak sah zu, wie sie rückwärts aus der Einfahrt setzte, ging dann zu seinem Mietwagen.
Er hatte seine Aufgabe erledigt. Er hatte Donna Jeffers beunruhigt und mißtrauisch gemacht. Jetzt konnte er nur noch abwarten und sehen, ob Ramsey seine Aufgabe, ihre Telefone im Haus und im Wagen abzuhören, ebenfalls erledigt hatte.
Wenn sie wußte, wie ihr Sohn zu erreichen war, dann konnte sie wahrscheinlich nicht widerstehen, ihn zu kontaktieren. Das große Wenn.
Er fuhr vier Blocks weiter auf einen Supermarktparkplatz, um auf Ramseys Anruf zu warten.
20.15 Uhr
Dr. Kenwood kam den Flur entlang auf sie zu.
Bess spannte sich an. Gott, er lächelte nicht. Er wirkte einfach nur … abwesend.
Er blieb neben ihr stehen. Und er lächelte.
»Es wird ihr wieder gutgehen«, sagte er. »Sie hat noch einen weiten Weg vor sich, aber sie wird sich wohl wieder völlig erholen.«
»Gott sei Dank.«
»Amen«, sagte Yael.
Dr. Kenwood setzte ein strenges Gesicht auf. »Und möchten Sie jetzt ein bißchen schlafen? Ihr Freund hat Ihnen ein Bett im Zimmer direkt neben Josies besorgt. Wie, weiß ich nicht.
Eigentlich war diese Etage voll.«
Gott segne Yael. Gott segne Dr. Kenwood. »Gleich. Ich möchte mich erst noch ein bißchen zu Josie setzen.«
»Sie ist immer noch unter Narkose.«
»Das ist mir egal.«
Dr. Kenwood grinste. »Habe ich doch gut gemacht, oder?«
»Phantastisch.« Sie war schon unterwegs zu Josies Zimmer.
»Sie haben recht. Sie sind absolut hervorragend.«
21.30 Uhr
»Des Moines«, sagte Ramsey, nachdem Kaldak den Hörer aufgenommen hatte. »Jasper Street Nr. 1523.«
»Hat sie ihn angerufen?«
»Er hat sie angerufen. Offensichtlich hat sie seine Nummer nicht, denn sie hat versucht, sie während des Anrufs in Erfahrung zu bringen. Er hat sie auflaufen lassen, und das gefiel ihr gar nicht. Und Ihr Besuch bei seiner Mutter gefiel ihm auch nicht. Ich werde organisieren, wie Sie dorthin kommen, aber ich schicke auch Leute aus St. Louis hin für den Fall, daß Sie nicht schnell genug da sind.«
»Soll ich mich jetzt mit Ihnen streiten? Von mir aus könnten Sie auch die örtliche Polizei hinschicken, um ihn festzunehmen, wenn man nicht befürchten müßte, daß die es vermasseln. Ich bin schon unterwegs zum Flughafen.«
Es bestand die Möglichkeit, daß Jeffers schon ausgeflogen war, bevor irgend jemand bei ihm eintraf. Ihn aus der Fassung zu bringen war ein Risiko, das Kaldak hatte eingehen müssen, als er Kontakt zur Mutter aufgenommen hatte. Sollte er ihn so sehr aufgescheucht haben, daß Jeffers Kontakt zu Esteban aufnahm oder sogar selbst handelte?
Er hoffte nicht. Er hatte das Gefühl, daß ihm die Zeit weglief.
23.10 Uhr
»Wollen Sie nicht endlich schlafen gehen? Es ist beinahe Mitternacht.« Yael hockte sich neben ihren Stuhl. »Das nützt Josie überhaupt nichts.«
»Ich weiß.« Sie lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und hielt den Blick unverwandt auf Josie geheftet. »Ich habe Angst davor, sie allein zu lassen.« Sie lächelte. »Vor fünf Minuten hat sie die Augen aufgemacht. Ich glaube, sie hat mich erkannt.«
»Das ist gut.«
»Das ist doch ein schönes Zimmer hier, finden Sie nicht auch?
In allen Kinderzimmern sollten Schaukelstühle stehen.«
»Wahrscheinlich steht der hier, damit man kranke Babys schaukeln kann.«
»Ich würde Josie gerne schaukeln. Sehen Sie sie nur an. Sie trägt eine Zwangsjacke.«
»Ich glaube, der korrekte Begriff ist Haftschale. Ich nehme an, daß damit verhindert werden soll, daß sie sich bewegt.«
»Haben Sie schon Kaldak angerufen und ihm mitgeteilt, daß es ihr gutgeht?«
»Glauben Sie denn, das interessiert ihn? Einen kalten, grausamen Mann wie Kaldak?«
»Halten Sie den Mund, Yael. Das ist er zwar alles, aber er mochte Josie. Aber wer würde Josie nicht mögen?« Während sie bei Josie gesessen hatte, hatte sie sich an die Nacht auf der Montana erinnert, in der Kaldak so lange bei ihr geblieben war, bis sie wußten, daß Josie überleben würde. In jener Nacht hatte er nicht so getan, als ob. Er hatte sich wirklich Sorgen um Josie gemacht.
Yael nickte, während er Josie betrachtete. »Sie erinnert mich an meinen Sohn. Das scheint schon ewig her, daß er ein Baby war. Sie werden so schnell größer.«
»Wie alt ist er?«
»Vier.« Er dachte nach. »Genauso alt war Kaldaks Sohn, als er starb.«
»Ich möchte nicht über Kaldaks Sohn sprechen. Ich habe Sie nach Ihrem gefragt.«
»Das war auch nur so eine Bemerkung. Kann ich Sie jetzt dazu bewegen, ins Bett zu gehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich sitze hier bequem. Ich möchte hiersein, wenn sie wieder wach wird.«
»Sie sollten jetzt wirklich ins Bett –« Yael unterbrach sich.
»Ich kann Sie nicht überzeugen, stimmt’s?«
»Nein. Sie können das Bett benutzen.«
»Ich könnte nicht so unhöflich sein.« Er setzte sich auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne. »Ich werde hierbleiben für den Fall, daß Sie Ihre Meinung ändern.«
Es herrschte eine angenehmes Schweigen im Zimmer.
»Yael, rufen Sie Kaldak an und erzählen Sie ihm von Josie.«
»Er weiß es schon. Er hat mich angerufen.«
»Tatsächlich?«
»Er war unterwegs zum Flughafen in Kansas City. Er war ganz erleichtert wegen Josie.«
»Kansas City?«
»Er verfolgt die Spur eines Mannes, der ihn vielleicht zu Esteban führt.«
Esteban. Sie hatte sich so viel Sorgen um Josie gemacht, daß sie keine Zeit gehabt hatte, sich mit Esteban zu beschäftigen.
Aber Kaldak hatte ihn nicht vergessen. Er war genauso besessen wie immer. Konnte sie ihm das vorwerfen? Als Emily gestorben war, wäre sie fast verrückt geworden. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn ihre ganze Familie ausgelöscht worden wäre?
Mein Gott, jetzt fing sie schon an, ihn zu entschuldigen, wo es keine Entschuldigung gab. Kaldak hätte nichts Schlimmeres tun können. Er hatte sie benutzt und die Situation dahingehend manipuliert –
Genau wie sie es nach Emilys Begräbnis getan hatte. Sie hatte keinerlei Gewissensbisse gehabt, Kaldak zu benutzen. Sie hätte jeden benutzt, um an Esteban heranzukommen. Ungeheuer hatten kein Recht zu leben.
Alle sollen die Ungeheuer sehen.
Nein, nicht jetzt. Der Haß und die Rachegefühle würden wiederkommen, aber in dieser Nacht wollte sie nicht an Esteban oder Kaldak oder sonst irgend etwas denken, das sie beunruhigte.
Sie wollte sich nur entspannen und diesen Augenblick der Dankbarkeit auskosten. Josie war am Leben, und eines Tages würde sie laufen und spielen wie andere Kinder auch.
Es war bestimmt nicht schlimm, wenn sie sich erlaubte, die Ungeheuer noch eine Weile zu vergessen.