KAPITEL 19
Anna war gerade damit
beschäftigt, die letzte Gabel Pasta in den Mund zu schieben, als
sie der erste Schmerz durchzuckte.
Es kam so unerwartet, dass sie tatsächlich vom
Stuhl fiel, bevor ihr klar wurde, dass sie nicht ihren eigenen
Schmerz spürte, sondern den von Cezar.
Sofort eilten Shay und Darcy zu ihr.
»Anna, was ist los?«, fragte Darcy.
»Cezar.« Mehr brachte sie nicht heraus. Anna
schüttelte den Kopf und ignorierte den Schmerz, der in ihrer Kehle
brannte, während sie sich auf die Beine kämpfte. Lieber Gott, Cezar
war verletzt! Sie musste zu ihm! Und zwar sofort! Sie ignorierte
die beiden Frauen und zwang ihre wackeligen Beine, sie aus der
Küche zurück in Richtung Arbeitszimmer zu tragen.
Ein Teil von ihr glaubte allerdings hartnäckig,
dass ihre Gefühle ihr nichts weiter als einen dummen Streich
spielten. Schließlich war dies eine Vampirfestung, und man hatte
keinerlei Kampfgeräusche gehört. Wenn jemand einen Angriff gewagt
hätte, gäbe es doch wohl irgendeinen Alarm, oder etwa nicht?
Dieser Gedanke schoss ihr in den Kopf, während ihre
Beine in einen panischen Spurt ausbrachen. Cezar steckte
in Schwierigkeiten, und sie wollte nichts anderes, als ihm zur
Seite zu stehen.
Als sie das Arbeitszimmer erreichte, stürzte sie
zur Tür herein, und ihr Blick schweifte hektisch über die drei
turmhohen Vampire, von denen jeder bei ihrem lautstarken Erscheinen
sofort diverse tödliche Waffen hervorgeholt hatte. »Wo ist Cezar?«,
keuchte sie.
Styx ließ das außergewöhnlich große Schwert zurück
in die Scheide gleiten und ging auf Anna zu, seine Miene starr vor
Besorgnis. »Stimmt etwas nicht, Anna?«
Sie musste tief Luft holen. Gott, ihre Kehle
schmerzte so sehr, und ihre Wahrnehmung von Cezar, die tief in
ihrer Seele verwurzelt war, wurde immer schwächer. »Er ist
verletzt! Und ich glaube, er wird verschleppt!«
Styx ergriff Annas Hand und drehte den Kopf, um
barsch über seine Schulter zu bellen: »Kommt mit mir!«
Anna stellte fest, dass sie mit einem plötzlichen
Ruck zurück durch den Korridor gezerrt wurde, wobei Styx’ lange
Schritte sie zwangen zu rennen, was das Zeug hielt. Nicht, dass sie
sich beschwerte. Das Bedürfnis, zu Cezar zu gelangen, war wie ein
brennender Schmerz mitten in ihrem Herzen.
Ein leises Geräusch war zu hören, dann erschien ein
Vampirwachtposten neben Styx, der sich mit Leichtigkeit seinem
Meister anschloss. »Mylord, gibt es Schwierigkeiten?«
»Der Kobold - wo ist er?«
»In der Bibliothek.«
Kein weiteres Wort wurde gesprochen, während sie
sich ihren Weg in den vorderen Teil des Hauses bahnten. Als sie
sich der Tür näherten, hob Styx die Hand, um sie aufspringen zu
lassen, und dann stürmten sie alle in den langen,
von Büchern gesäumten Raum. Den leeren von Büchern
gesäumten Raum.
Anna gab einen leisen Schrei von sich und sank auf
die Knie. »Er ist weg.«
»Dieser verdammte Kobold!«, rief Styx erbost. »Ich
werde ihn bei lebendigem Leibe häuten und ihm dann sein eigenes
Herz zu schlucken geben!«
Anna bemühte sich, trotz der schrecklichen Angst
nachzudenken, die ihr das Hirn vernebelte. Cezar brauchte sie! Sie
konnte später noch genug herumstammeln, jetzt musste sie sich
darauf konzentrieren, ihren Gefährten zu finden. Sie stand auf und
schluckte die Tränen herunter, die in ihr aufzusteigen drohten.
»Was für ein Kobold?«, wollte sie wissen.
»Troy«, fauchte Styx und wandte seine
Aufmerksamkeit den Vampiren zu, die hinter ihm versammelt waren.
»Ich wusste, dass man diesem Hurensohn nicht trauen kann.«
»Sie können nicht weit gekommen sein«, erklärte
Viper, das Gesicht versteinert vor kalter Wut. »Wir können ihn
erwischen, bevor er das Gelände verlässt.«
Der Wachtposten schüttelte den Kopf. »Der Kobold
kam mit einem Auto her.«
»Das spielt keine Rolle.« Styx’ Lächeln war
eiskalt, als er Anna am Arm packte. Mit einer einzigen Bewegung
schob er den Ärmel ihres Sweatshirts hoch und enthüllte so das Mal.
»Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem wir Cezar nicht finden
könnten.«
Cezar war für einen Vampir, der gerade im Begriff
war, entführt zu werden, erstaunlich ruhig.
Er war ein Dummkopf gewesen, Styx’ Warnung zu
ignorieren, und ein Narr, sich mit diesem Kobold zu treffen,
während er geschwächt war. Aber nun, da er als Geisel genommen
wurde, war er entschlossen, seine überwältigende Wut und seinen
durchdringenden Schmerz, der von dem dicken Silberhalsband
herrührte, zu ignorieren. Er wollte lieber darüber nachdenken, wie
er diese Katastrophe zu seinem Vorteil wenden könnte.
Er zog sich tief in sich zurück und ließ Troy in
dem Glauben, er sei ohnmächtig, während der Kobold über die dunkle
Landstraße raste, direkt auf Morganas geheimes Versteck zu.
Sein Verhalten gab Cezar die Möglichkeit, seine
Kräfte zusammenzunehmen und damit zu beginnen, den brennenden
Schmerz zu bekämpfen. Nur wenige Vampire verfügten über eine
Widerstandsfähigkeit wie die seine gegen die tödliche Reinheit
dieses Metalls, und er verließ sich auf die Tatsache, dass Morgana
wohl annahm, er sei durch das Halsband vollkommen außer Gefecht
gesetzt. Außerdem gewann er dadurch eine Menge Zeit zum
Nachdenken.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Troy auf Befehl
von Morgana handelte. Er hätte niemals eine solche, möglicherweise
tödliche Wahnsinnstat unternommen, wenn er eine andere Wahl gehabt
hätte. Weder Kobolde noch Elfen waren sonderlich mutige Wesen und
zogen es vor, zu verhandeln, statt zu kämpfen. Dennoch war in
dieser kurzen Begegnung irgendetwas eigenartig gewesen. Doch
was?
Zweifelsohne war eine seltsame Eindringlichkeit bei
Troy zu spüren gewesen, die nichts mit Furcht zu tun gehabt hatte.
Fast so, als wünsche er, dass Cezar seine Gedanken las. Und warum
hatte es ihn so über alle Maßen interessiert, dass sich Cezar und
Anna verbunden hatten?
Es dauerte eine ganze Weile. Länger, als es
eigentlich hätte dauern sollen. Aber endlich gelang es seinem
langsamen Gehirn, die genaue Quelle seines Verdachtes zu bestimmen:
Troy brachte Cezar zu seiner Königin, so wie es ihm befohlen worden
war, doch der Vampir wusste, dass er eine eindeutige Spur
hinterließ, sodass Anna und seine Clanbrüder ihm folgen konnten.
Wusste das vielleicht auch Troy? War das der Grund, weshalb er ihn
so gelöchert hatte? Dank ihrer Verbindung konnte Anna ihm immerhin
bis zu den Toren der verdammten Hölle folgen. Und Styx würde es
niemals zulassen, dass sie ihm allein folgte. Der Anasso würde
darauf bestehen, seine Brüder mitzunehmen.
Der listige Kobold konnte nicht gegen die
größenwahnsinnige Morgana kämpfen, aber möglicherweise hoffte er
inständig, dass jemand anders es vermochte.
Natürlich bedeutete das nicht, dass Cezar nicht die
Absicht hegte, den Dämon windelweich zu prügeln, sobald er von
seinen Ketten befreit war. Sein Vorhaben mochte perfekt geeignet
sein, um in Morganas Versteck einzudringen, doch niemand durfte
einen Vampir entführen, ohne dafür eine sehr schmerzhafte
Bestrafung zu erhalten!
Er genoss es, sich einige Augenblicke lang die
diversen Methoden vorzustellen, mit denen er den Kobold zum Heulen
bringen würde. Es gab eine erstaunlich große Anzahl davon …
Auspeitschen, die Folterbank, heiße Schürhaken. Aber dann wandte er
sich wieder wichtigeren Angelegenheiten zu. Jede Strafe für Troy
würde warten müssen. Und vorerst hatte er keine andere Wahl, als
darauf zu vertrauen, dass seine Einschätzung wirklich stimmte und
Troy der Elfenkönigin nicht aus freien Stücken half.
Cezar ließ seine Kräfte wieder durch seinen Körper
strömen und unterdrückte ein Stöhnen, als der Schmerz erneut in
seiner Kehle wütete. Er öffnete seine Augen einen Spalt, um den
Kobold zu betrachten, der hinter dem Steuer des Sportwagens saß.
Selbst in der tiefen Finsternis konnte er die blassen, furchtsamen
Züge erkennen. »Weshalb ich?«, fragte er leise.
Troy schrie, und das Auto scherte aus, bevor der
Kobold das Steuer herumriss und sie auf die gegenüberliegende Seite
schlitterten.
»Wenn du diesen Wagen zu Schrott fährst, reiße ich
dir die Kehle heraus«, knurrte Cezar.
»Verdammt, Vampir, ich dachte, Sie wären
bewusstlos«, murmelte der Kobold und schaffte es, die Kontrolle
über das Auto zurückzuerlangen, während er Cezar einen
erschrockenen Blick zuwarf.
»Das spielt keine Rolle.« Cezar verlagerte seine
Position auf dem Sitz, bis er mit dem Rücken gegen die Tür lehnte
und seine Hände frei waren, um den Kobold zu töten, falls dieser
auch nur eine einzige falsche Bewegung machte. Oder vielleicht
auch, falls er ihn nur verärgerte.
»Sag mir, weshalb Morgana dich schickte, um mich
gefangen zu nehmen! Anna ist doch diejenige, die sie haben
will.«
Der Wagen fuhr langsamer, und Cezar fletschte seine
Fangzähne. Obgleich das Silber, das sich in sein Fleisch
einbrannte, eine Belastung für seine dahinschwindende Kraft
darstellte, gab es auf der ganzen Welt nichts Gefährlicheres als
einen in die Enge getriebenen Vampir.
Troy schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.
»Sie würde es nie zugeben, aber sie hat Angst, dass die
Prophezeiung wahr sein könnte«, erklärte er. Dabei zitterten seine
Hände so stark, dass das Auto weiterhin auf der leeren Landstraße
hin- und herschlingerte. Immerhin fuhren sie jetzt wieder in die
ursprüngliche Richtung. »Sie möchte sich sicher sein, einen Trumpf
in der Hand zu haben, wenn sie Anna schließlich
entgegentritt.«
Cezar runzelte die Stirn. »Und der Trumpf bin
ich?«
»Ja.«
»Warum?«
»Morgana ist imstande zu spüren, dass Anna Gefühle
für Sie hat.« Troy schluckte noch einmal. »Sie glaubt, Sie seien
ihre Achillesferse.«
Gar nicht so schlecht gedacht. Cezar bemerkte kaum,
dass er sich bewegte, als er seine Faust in das Armaturenbrett
rammte. Er wollte glauben, dass Anna niemals töricht genug wäre,
ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um seines zu retten, dass sie
verstand, dass er niemals überleben würde, falls ihr etwas zustieß.
Doch unglücklicherweise kannte er seine Gefährtin zu gut, um diese
Hoffnung aufrechtzuerhalten. Solange Morgana Cezar als ihren Schild
benutzen konnte, würde Anna niemals angreifen.
»Ich sollte dich auf der Stelle töten!«, fauchte
Cezar, und seine wilde Wut erfüllte den Wagen.
»Ich hatte keine andere Wahl, Vampir«, behauptete
Troy bestimmt und legte eine Hand auf seine Brust, als fühle er
Schmerzen. »Selbst wenn ich willens gewesen wäre, mein Leben zu
opfern - was ich nicht war, wie ich Ihnen versichern kann -, hätte
Morgana einfach einen anderen Lakaien geschickt, um Sie gefangen zu
nehmen. Und wenigstens wissen Sie bei mir, dass ich der Erste bin,
der diesem Miststück ein Messer in den Rücken stößt, wenn sich die
Gelegenheit bietet.«
»Und das soll mich beruhigen?«
»Nein, aber es soll Sie davon abhalten, mich zu
töten, bevor wir ankommen.«
Cezar brach geräuschvoll in Gelächter aus. Seine
Fäuste brannten immer mehr darauf, Bekanntschaft mit diesem
bleichen Gesicht zu machen. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass
Anna den Tod fand. Er würde Troy und jedes andere Mitglied des
Feenvolkes gnadenlos umbringen, das versuchte, ihn dazu zu zwingen,
Morganas Köder zu werden!
Troy hielt das Steuer verbissen fest, und sein
langes, karmesinrotes Haar knisterte, als Cezars Macht durch den
Wagen pulsierte. »Hören Sie mir zu,Vampir! Wir können das zu
unserem Vorteil nutzen«, drängte er, und seine Augen glühten in der
Dunkelheit.
Offensichtlich war er klug genug zu begreifen, dass
er nur einen Atemzug von einem äußerst unerfreulichen, blutigen Tod
entfernt war.
»Was zum Teufel faselst du da? Ich lasse Anna nicht
in Morganas Nähe, wenn diese Hexe meint, mich als ihre Trumpfkarte
benutzen zu können.«
»Morgana wird nur denken, Sie seien ihre
Trumpfkarte. Schließlich erwartet sie Sie bewusstlos und vollkommen
hilflos.« Der Kobold warf einen verärgerten Blick in Cezars
Richtung. »Was Sie auch sein sollten.«
Cezar lächelte.
Es war ein Lächeln, das Troy einen Schauder über
den Rücken jagte und ihn dazu brachte, seine Aufmerksamkeit hastig
wieder auf die Straße zu richten.
»Troy, wenn ich so verzweifelt sein sollte, dass
ich von einem Kobold einen Rat in puncto Kampfstrategien brauche,
werde ich mich freiwillig der Sonne aussetzen, verlass dich
drauf.«
»Denken Sie einfach darüber nach, in Ordnung?« Ein
scharfer Unterton schlich sich in die Stimme des Kobolds. Trotz
seiner Furcht schien er entschlossen, seine Meinung kundzutun. »Im
Moment glaubt Morgana, die Oberhand zu haben, und ist arrogant
genug, den Versuch zu machen, ihr Schicksal zu ändern. Sie lädt
sogar das Mittel zu ihrer eigenen Vernichtung in ihr eigenes Haus
ein. Aber sobald sie bemerkt, dass sie möglicherweise in
ernsthafter Gefahr ist, wird sie wieder nach Avalon fliehen und ist
damit außerhalb Ihrer Reichweite. Ihre Gefährtin wird gezwungen
sein, den Rest der Ewigkeit damit zu verbringen, ängstliche Blicke
über ihre Schulter zu werfen, aus Angst vor einem Attentäter. Sie
wird niemals Ruhe finden. Wollen Sie das?«
Cezar wurde still. So bitter es auch für ihn war,
es zuzugeben - der verdammte Kobold hatte nicht ganz unrecht. Er
war so besorgt über Morganas unaufhörliche Angriffe gewesen, dass
er keinen einzigen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet hatte,
diese widerwärtige Hexe könne in ihre Festung zurückkehren. Wenn
sie dies täte, gäbe es keine Möglichkeit mehr, sie zu erreichen.
Und wie Troy ganz richtig hervorgehoben hatte, konnte sie jederzeit
ohne Vorwarnung zuschlagen, wann auch immer es ihr gefiel. Anna
wäre nie in Sicherheit.
»Haben Sie gehört, was ich …«, begann Troy, aber er
schloss seinen Mund schnell wieder, als Cezar warnend
knurrte.
»Ich habe es gehört«, entgegnete der Vampir. Sein
Kopf kämpfte gegen den Schmerz an, um sich die unterschiedlichen
Möglichkeiten, wie diese Nacht enden konnte, vorzustellen.
»Also …?«
»Troy, halt den Mund, bevor ich dir die Zunge
herausreiße!«
Der Kobold seufzte tief. »Wissen Sie, Vampire wären
vielleicht etwas beliebter in der Dämonenwelt, wenn sie nicht immer
so unwirsch wären. Bloß attraktiv zu sein bringt sie nicht immer
weiter.« Ein verführerisches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
»Außer in mein Bett vielleicht …«
Cezar wollte nur noch eins: seine Fangzähne tief in
die Kehle des Kobolds graben. »Bettelst du etwa darum, dass
ich dich töte?«
Troys Lächeln verschwand augenblicklich. »Das wäre
auch nicht schlimmer als …«
»Was hat sie dir angetan?«
Der Kobold wehrte mit einem Schaudern ab. Was auch
immer geschehen war, er wollte anscheinend nicht darüber sprechen.
»Conde Cezar, ich habe eine Bitte an Sie«, sagte er stattdessen,
und seine Miene war plötzlich grimmig vor Entschlossenheit.
»Und das wäre?«
»Wenn ich am Ende nicht entkommen kann, möchte ich
lieber, dass Sie mich aussaugen, als dass Sie mich bei Morgana
lassen.«
Cezar nickte langsam. Besser als irgendeine andere
Person auf der Welt verstand er, dass es Dinge gab, die schlimmer
waren als der Tod.
»Nun gut.«
Anna hielt die Augen geschlossen, als der Jeep
über die dunkle Landstraße raste. Neben ihr am Steuer saß Styx, und
auf dem Rücksitz befand sich der erschreckende Jagr.
Hinter ihnen fuhr ein zweiter Jeep, in dem Viper,
Dante,
Shay, Abby und Darcy saßen. Anna hatte die leisen
Auseinandersetzungen wahrgenommen, die ausgebrochen waren, als die
drei Frauen sich nicht davon hatten abbringen lassen, an der
Rettungsaktion teilzunehmen. Es hatte einen weiteren Wortwechsel
gegeben, als Styx darauf bestanden hatte, dass Jagr mitkam.
Sie selbst hatte nur an Cezar denken können. So
verzweifelt, dass ihr fast die Luft wegblieb. Jeder Moment, der
ohne ihn verging, fühlte sich an wie ein Dolch, der ihr ins Herz
gestoßen wurde, und nur das Wissen, dass sie die Hilfe von Cezars
Brüdern brauchen würde, hielt sie davon ab, sie alle zur Hölle zu
wünschen und einfach aus dem abgelegenen Landhaus zu stürmen.
Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam,
hatten sie sich endlich auf den Weg gemacht. Die Tatsache, dass
Anna ihren Gefährten fühlen konnte, wurde genutzt, um die Gruppe
aus der Stadt heraus in Richtung Westen zu führen, zwischen den
ebenen Feldern und den verschlafenen Städtchen hindurch.
Annas Gefühl der Dringlichkeit ließ im Laufe der
Fahrt kaum nach. Insbesondere, als ihre Verbindung zu Cezar
verstummte. Schließlich spürte sie ihn aber doch wieder, und auch
der brennende Schmerz im Hals kehrte zurück, aber selbst das hielt
nur wenige Minuten an, bevor es wieder zu verblassen begann.
Anna wusste nicht, was diese merkwürdigen Gefühle
bedeuteten, aber sie glaubte keinen Moment an etwas Gutes. Sie
ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass ihre Nägel Abdrücke in
ihren Handflächen hinterließen, und drehte den Kopf, um Styx mit
aufgerissenen Augen anzusehen.
»Er hat aufgehört, sich zu bewegen.«
In der Dunkelheit, die im Auto herrschte, sah der
Anasso wie ein Rachegott aus. Er glich dem personifizierten Tod,
der nur auf die Gelegenheit wartete, sein Geschenk zu übergeben.
Und der goldhaarige Riese auf dem Rücksitz wirkte auch nicht
vertrauenerweckender. Jagr mochte die Art von wilder Schönheit
besitzen, die das Herz vieler Frauen höherschlagen ließ, aber die
eiskalte Gewalt, die um ihn herum knisterte, war unverkennbar. Er
kam ihr wie eine Zeitbombe vor, die kurz davor stand zu
explodieren, und Anna wollte nicht in seiner Nähe sein, wenn das
passierte. Wenn sie nicht außer sich vor Angst um Cezar gewesen
wäre, hätte sie nie alleine mit den beiden in einem Auto
gesessen.
»Gut«, knurrte Styx, und die winzigen Perlen in
seinem geflochtenen Haar schimmerten im Mondlicht, als er ihr einen
düsteren Blick zuwarf. »Wie geht es ihm?«
»Ich weiß es nicht.« Anna rubbelte ihren
durchgefrorenen Körper mit den Händen. Sie hasste diese schmerzende
Leere, die ihr Herz erfüllte. »Er hat Schmerzen, aber er ist wieder
weit von mir weg. Als ob um ihn herum irgendein Schild wäre.«
Styx tätschelte kurz ihren Arm. »Er schützt sich,
Anna. Ein Vampir besitzt die Fähigkeit, sich tief in seinen eigenen
Körper zurückzuziehen. Das wird ihm nicht nur dabei helfen, den
Schmerz zu bekämpfen, sondern auch, andere davon zu überzeugen,
dass er keine Bedrohung darstellt.«
»Also … stellt er sich tot?«, hakte Anna nach in
dem Bemühen, Styx’ Worte zu verstehen.
Ein grimmiges Lächeln bildete sich auf Styx’
Lippen. »Etwas in dieser Art.«
Anna rieb sich die Gänsehaut, die sich auf ihren
Armen
gebildet hatte. Es war eine Erleichterung, zu wissen, dass das
gedämpfte Gefühl kein Anzeichen dafür war, dass Cezar vom Tod
bedroht oder irgendein anderes Wesen imstande war, ihre Verbindung
zu durchtrennen. Trotzdem war es unerträglich für sie.
»Ich wünschte, er würde das nicht tun«, sagte sie
leise. »Ich muss ihn fühlen.«
»Wir werden ihn zurückholen, Anna, so viel kann ich
versprechen.«
Sie holte tief Luft, als sie spürte, wie sie mit
jedem Kilometer, der verging, Cezar näher kamen. »Ich verstehe
immer noch nicht, warum Troy Cezar gekidnappt hat. Das ergibt doch
keinen Sinn.«
»Es ergibt sehr wohl einen Sinn«, entgegnete Jagr
vom Rücksitz aus. Seine Stimme war ein leises Grollen.
Anna drehte den Kopf und sah den gefährlichen
Vampir mit einem Anflug von Verwirrung an. »Warum?«
Sein Lächeln war nichts weiter als ein Fletschen
seiner riesigen Vampirzähne. »Solange Morgana den Vampir gefangen
hält, weiß sie, dass niemand von euch sein Leben aufs Spiel setzen
wird, nicht einmal, um sich selbst zu retten. So kann sie euch in
ihr Versteck locken und euch in aller Ruhe töten.«
Anna hielt die Luft an. Aber sicher doch! Natürlich
versteckte sich Morgana als der Feigling, der sie war, hinter
Cezar. Sie wusste bestimmt, dass Anna alles tun würde, um den Mann
zu retten, den sie liebte.
»Jagr«, knurrte Styx warnend.
Der große Vampir zuckte mit den Schultern. »So
würde ich es jedenfalls machen.«
»Ihr müsst unbedingt an Euren Umgangsformen
arbeiten, Bruder«, bemerkte Styx.
Jagrs Miene versteinerte sich. »Ich bin nicht Euer
Bruder.«
Anna, die spürte, dass eine Schlägerei drohte,
räusperte sich hastig. »Lass nur, Styx, ich möchte die Wahrheit
wissen.« Sie berührte Styx’ harten Arm und verzog das Gesicht, als
sie sein Muskelspiel fühlte, das darauf hinwies, dass er sich
danach sehnte, auf etwas einzuschlagen. Oder jemanden. »Glaubst du,
dass Morganas Plan so aussieht, wie Jagr es vermutet?«
»Ja«, gab er widerstrebend zu.
»Was tun wir also?«
»Offenbar gehen wir ihr direkt in die Falle«,
murmelte Jagr.
Ein leises Knurren war zu hören, als Styx’ Macht
die Luft erfüllte, Annas Haut zum Prickeln brachte und Jagr vor
Schmerz fauchen ließ. »Jagr, wenn ich Eure Meinung hören möchte,
werde ich danach fragen. Ist das klar?«
Anna hielt den Atem an, als eine angespannte Stille
sich im Jeep ausbreitete. Die Ausdünstung von Gewalt lag so spürbar
in der Luft, dass sie sie fast schmecken konnte. Gerade machte sich
Anna bereit, vom Sitz zu rutschen und sich hinter ihrem Sitz zu
verstecken, als Jagr leise ächzte und sich mit deutlicher
Verärgerung selbst zum Sprechen zwang.
»Ja, Mylord.«
Das Kribbeln hörte auf. Tausend Dank. Das war
wirklich knapp gewesen. Sie warf Styx einen vorsichtigen
Blick zu und war verblüfft über seinen ruhigen Gesichtsausdruck. Es
gab nicht das kleinste Anzeichen darin, dass er kurz davor
gestanden hatte, einen Mord zu begehen. »So«, sagte sie, mehr, um
das unbehagliche Schweigen zu durchbrechen, als aus dem Bedürfnis
heraus zu reden. »Haben wir einen Plan?«
»Wir holen Cezar, töten Morgana und fahren eilends
nach Chicago zurück«, gab Styx knapp zurück.
Anna schnitt eine Grimasse. Klang ja nicht gerade
sehr ausgefeilt. »Okay.«
Ohne Vorwarnung glitt Styx’ Blick in ihre Richtung,
und die strengen Züge wurden weicher. »Anna, wenn du lieber im
Wagen warten möchtest, wird niemand geringer von dir denken.«
Sie schnappte nach Luft, so entrüstet war sie über
den Vorschlag, sich im Auto zu verstecken, während Cezar in Gefahr
war. »Auf gar keinen Fall!«, schnauzte sie, als Styx den Mund
öffnete, um fortzufahren. »Nein, Styx! Cezar ist meinetwegen
in Schwierigkeiten. Außerdem ist es meine Pflicht, mich Morgana zu
stellen. Ich bin diejenige aus der Prophezeiung. Niemand sonst kann
ihr etwas antun.«
»Du weißt, dass Cezar mich töten wird, wenn dir
etwas zustößt?«
Anna zuckte unter Styx’ Blick nicht einmal
zusammen. »Ich mag ja Cezars Gefährtin sein, aber ich treffe immer
noch meine eigenen Entscheidungen«, erklärte sie.
DerVampir gab ein kurzes, humorloses Lachen von
sich. »Klingt bemerkenswert vertraut.«
Annas Lippen zuckten bei seiner Anspielung auf
Darcy, aber bevor sie antworten konnte, spürte sie ein Ziehen in
ihrem Inneren. »Hier abbremsen«, befahl sie und drückte ihre Hand
gegen das Fenster, als ob ihr das dabei helfen könnte, eine
Verbindung zu Cezar herzustellen. »Die nächste Ausfahrt raus und
rechts abbiegen.«
Ohne nachzufragen, gehorchte Styx ihren Anweisungen
und fuhr langsamer, während Anna die Augen schloss und sich auf das
gedämpfte Gefühl konzentrierte, das von ihrem Gefährten ausgelöst
wurde.
Styx reduzierte die Geschwindigkeit, als sie sich
weiter von der Landstraße entfernten und das abgelegene Ackerland
erreichten. Drei weitere Male bogen sie auf zunehmend kleinere und
weniger befahrene Straßen ab, bis der Weg nur noch aus zwei
Radspuren zwischen den weiten Feldern bestand.
»Er ist in der Nähe«, flüsterte sie leise.
Ohne Vorwarnung hielt der Wagen an, und Styx
streckte die Hand aus, um Anna am Arm zu berühren. »Anna?«
Sie klammerte sich an die schwache Emotion, die sie
von Cezar empfing. Ungeduldig seufzte sie auf.Verdammt, was war
denn nun schon wieder? »Was ist denn?«
»Anna, sieh mich an!«, befahl Styx.
Seine Stimme war so scharf, dass sich ihre Augen
sofort öffneten. »Warum hast du angehalten?«, wollte sie wissen.
»Cezar ist …«
»Cezar ist in Gefahr, ja, das weiß ich«, unterbrach
er sie. »Doch Morgana bedeutet im Augenblick nicht die einzige
Gefahr für ihn.«
Anna biss sich auf die Lippen. Sie war gerade
wirklich nicht in der Stimmung, um über weiteres Grauen
nachzudenken, das irgendwo in den Schatten lauern konnte. Eine
verrückte, größenwahnsinnige Verwandte reichte vorerst. »Ich
verstehe nicht.«
Styx’ unnahbarer Gesichtsausdruck verriet gar
nichts. »Das ist das Problem. Du bist keine Vampirin.«
Weil ihre Nerven sowieso schon blank lagen, brauste
sie bei seinen Worten auf.War das der Grund, warum er angehalten
hatte? Um noch mal klarzustellen, dass sie keine Dämonin war? »Das
ist wohl kaum eine Neuigkeit, Styx! Worauf willst du hinaus?«
Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Du bist keine
Vampirin,
also verstehst du nicht vollständig, was es bedeutet, verbunden zu
sein.«
»Styx, kann das nicht warten, bis wir Cezar
gerettet haben?«
»Nein, denn ich spüre deine Verzweiflung.«
»Sie stinkt danach«, murmelte Jagr vom Rücksitz
aus.
Anna schüttelte frustriert den Kopf. Ein Teil ihrer
Macht strömte aus, um im Auto herumzuwirbeln, die Luft zu erhitzen
und ihre Haare zu Berge stehen zu lassen. Was zur Hölle war hier
los? »Wäre es dir lieber, wenn es mir scheißegal wäre, was mit
ihm passiert?«
»Das wäre in mancher Hinsicht einfacher.«
Anna holte tief Luft und bemühte sich, ihre Kräfte
zu kontrollieren. Versuchte Styx sie mit Absicht wütend zu machen,
sodass sie kurz vor dem Explodieren stand, wenn sie auf Morgana
traf? Falls ja, klappte es hervorragend. »Styx, sag mir einfach,
warum du kostbare Zeit verschwendest.«
Es folgte eine kurze Pause, als ob Styx sorgfältig
über seine Wortwahl nachdenke. »Cezar hat dich zu seiner Gefährtin
genommen«, sagte er schließlich. »Wenn du stirbst, stirbt auch
er.«
Anna erstarrte vor Schreck. »Du meinst … dann
stirbt er wirklich?«
»Nicht sofort. Aber ja.« Er neigte steif den Kopf.
»Du bist zu seinem Lebensinhalt geworden, Anna. Ohne dich wird er
jeden Instinkt verlieren, sich selbst zu schützen. Tatsächlich wird
er sogar nach der Gefahr streben, in der Hoffnung, seinem Leiden
ein Ende zu setzen. Vampire überleben nur selten mehr als ein paar
Monate nach dem Tod ihrer Gefährtin.«
Eine kalte Hand griff nach Annas Herz. Irgendwie
hatte
Cezar vergessen, dieses kleine Detail zu erwähnen, als er ihr von
der Zeremonie erzählt hatte. »Und warum erzählst du mir das
jetzt?«, fragte sie, und ihre Stimme war dabei kaum mehr als ein
Flüstern.
»Weil du willens bist, dich zu opfern, um ihn zu
retten.« Er berührte ihre blasse Wange mit einem kalten Finger.
»Wenn du das tust,Anna Randal, wirst du Cezar zu deinem eigenen Los
verurteilen.«