KAPITEL 1
Die Empfangshalle des Hotels
in der Michigan Avenue war voller Leben. Im Licht des Kronleuchters
stolzierten die Mächtigen Chicagos wie Pfaue umher und warfen
gelegentliche Blicke auf den riesigen Brunnen, wo ein paar
Halbprominente aus Hollywood sich mit den Gästen für eine schamlos
hohe Gebühr auf Fotos ablichten ließen, die angeblich für einen
guten Zweck bestimmt waren.
Die Ähnlichkeit mit einem bestimmten anderen Abend
entging Anna nicht, die sich auch heute in einer dunklen Ecke
herumdrückte und beobachtete, wie Conde Cezar sich wieder einmal
gewohnt arrogant durch den Raum bewegte.
Allerdings war dieser andere Abend beinahe
zweihundert Jahre her. Und obwohl sie keinen einzigen Tag gealtert
war (eine Eigenschaft, die ihr, wie sie nicht leugnen konnte, so
unangenehme Dinge wie Schönheitsoperationen und Mitgliedschaften in
Fitnessclubs erspart hatte), war sie nicht mehr das scheue,
rückgratlose Mädchen, das um Brosamen vom Tisch ihrer Tante betteln
musste. Dieses Mädchen war in der Nacht gestorben, als Conde Cezar
seine Hand ergriffen und es in ein dunkles Schlafgemach gezogen
hatte. Gott sei Dank, dass sie es los war.
Ihr Leben mochte anderen vielleicht merkwürdig
erscheinen, aber zumindest hatte Anna herausgefunden, dass
sie auf sich aufpassen konnte. Tatsächlich gelang ihr das sogar
verdammt gut. Nie wieder würde sie sich in dieses ängstliche
Mädchen verwandeln, das schäbige Musselinkleider trug - ganz zu
schweigen von den höllisch engen Korsetts!
Das hieß allerdings nicht, dass sie jene
schicksalhafte Nacht vergessen hätte. Oder Conde Cezar. Er hatte
ihr einiges zu erklären. Nur deshalb war sie schließlich von ihrem
momentanen Wohnsitz Los Angeles nach Chicago gereist.
Während sie geistesabwesend an dem Champagner
nippte, der ihr von einem der Kellner mit bloßem Oberkörper
aufgezwungen worden war, studierte Anna gründlich den Mann, der
durch ihre Träume spukte.
Als sie in der Zeitung gelesen hatte, ein Conde aus
Spanien würde anreisen, um an diesem Benefizevent teilzunehmen,
hatte sie gewusst, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit darin bestand,
dass dieser Mann ein Verwandter jenes Condes war, den sie in London
getroffen hatte. Die Aristokratie war besessen davon, ihren
Nachkommen den eigenen Namen zu vermachen. Als ob es nicht
ausreichte, dass sie die gleichen Gene besaßen.
Ein Blick genügte allerdings, um zu wissen, dass es
sich bei diesem Mann nicht um einen Verwandten handeln konnte.
Mutter Natur war viel zu wankelmütig, um eine so genaue Kopie
dieser feinen Gesichtszüge, der golden schimmernden Haut, der
dunklen, glühenden Augen und des unwiderstehlichen Körpers zu
schaffen … Und dann war da noch das Haar.
So schwarz wie die Sünde, floss es ihm wie ein
glatter Fluss über die Schultern. Heute Abend hatte er die obersten
Strähnen mit einer goldenen Spange nach hinten gerafft,
während die unteren Haarschichten über den teuren Stoff seines
Smokings streiften. Falls es im gesamten Raum auch nur eine einzige
Frau geben sollte, die sich nicht vorstellte, ihre Finger durch
diese glänzende Mähne gleiten zu lassen, würde Anna ihre mit
silbernen Perlen besetzte Handtasche verspeisen! Conde Cezar musste
einen Raum nur betreten, um das Östrogen in Wallung zu
bringen.
Diese Tatsache forderte prompt mehr als nur eine
wütende Reaktion der am Brunnen posierenden Hollywoodschönlinge
heraus, die die Redewendung »Wenn Blicke töten könnten …« nur allzu
demonstrativ umsetzten.
Anna murmelte einen Fluch vor sich hin. Sie ließ
sich ablenken. Okay, dieser Mann sah aus wie der Eroberer
schlechthin. Und seine Augen strahlten eine Hitze aus, die Stahl
aus einer Entfernung von hundert Schritten zum Schmelzen hätte
bringen können. Aber sie hatte bereits einen hohen Preis dafür
bezahlt, dass sie sich von dieser sinnlichen dunklen Schönheit
hatte blenden lassen. Das würde nicht noch einmal passieren.
Anna beeilte sich, sich selbst davon zu überzeugen,
dass das Prickeln in ihrer Magengrube nur von den teuren
Champagnerblasen rührte, aber sie versteifte sich trotzdem, als sie
plötzlich den unverkennbaren Geruch von Äpfeln wahrnahm, der in der
Luft lag. Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, wem sie gleich
in die Augen blicken würde. Die einzige Frage war … warum?
»Na, wenn das nicht Anna ist, die gute
Samariterin«, vernahm sie Sybil Taylors Stimme. Ihr vordergründig
süßes Lächeln hatte einen gehässigen Zug. »Und das auf einer der
Wohltätigkeitsveranstaltungen, von denen behauptet wird, dass es
sich um nicht mehr als eine weitere Gelegenheit für die Promis
handeln würde, um sich den Paparazzi zu präsentieren.
Ich wusste immer, dass diese selbstgerechte Haltung nur geheuchelt
ist.«
Anna hätte sich am liebsten übergeben. Trotz der
Tatsache, dass beide Frauen in L.A. lebten und Anwältinnen waren,
hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Sybil war eine
große, kurvenreiche Brünette mit heller Haut und großen braunen
Augen. Anna dagegen war gerade einmal einen Meter fünfzig groß und
besaß braunes Haar und haselnussfarbene Augen. Ihr Gegenüber war
von Beruf Firmenanwältin mit einer Moral von … nun ja, eigentlich
hatte sie überhaupt keine Moral. Anna arbeitete in einer freien
Anwaltskanzlei, die jeden Tag gegen die maßlose Gier von
Unternehmen ankämpfte.
»Offensichtlich hätte ich die Gästeliste etwas
sorgfältiger lesen sollen«, gab Anna zurück. Sie war nicht auf den
Anblick dieser Frau vorbereitet gewesen, aber auch nicht völlig
überrascht. Sybil Taylor hatte ein Talent dafür, in Berührung mit
den Reichen und Berühmten zu kommen, wo auch immer sie zu finden
waren.
»Oh, ich würde sagen, Sie haben die Gästeliste so
genau studiert wie jede andere Frau in diesem Raum.« Sybil warf
einen betonten Blick durch den Raum auf Conde Cezar, der mit einem
schweren goldenen Siegelring an seinem Finger spielte. »Wer ist
er?«
Für den Bruchteil einer Sekunde kämpfte Anna gegen
den Drang an, Sybil in das blasse, perfekte Gesicht zu schlagen.
Fast so, als ob sie sich über deren Interesse an dem Conde ärgerte.
Ganz schön dumm,Anna. Dumm und gefährlich.
»Conde Cezar«, antwortete sie zögernd.
Sybil befeuchtete sich die Lippen, die zu voll
waren, um echt zu sein. »Lässt er nur den Europäer raushängen, oder
ist er ein richtiger Adeliger?«, fragte sie.
Anna zuckte mit den Achseln. »Soweit ich weiß, ist
der Titel durchaus echt.«
»Er ist … zum Anbeißen.« Sybil strich mit den
Händen über ihr kleines Schwarzes, das den tapferen Versuch machte,
ihre beachtlichen Kurven zu verdecken. »Verheiratet?«
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer.«
»Hm. Gucci-Anzug, Rolex-Uhr, italienische
Lederschuhe.« Sie klopfte mit einem manikürten Nagel gegen die
allzu perfekten Zähne. »Schwul?«
Anna musste ihr Herz daran erinnern
weiterzuschlagen. »Ganz bestimmt nicht.«
»Aha … ich rieche eine Vorgeschichte zwischen Ihnen
beiden. Erzählen Sie sie mir.«
»Das können Sie sich nicht einmal im Entferntesten
vorstellen, Sybil.«
»Vielleicht, aber ich kann mir diesen dunklen,
leckeren Adonis vorstellen, in Handschellen an mein Bett gekettet,
während ich mit ihm mache, was ich will.«
»Handschellen?« Anna schluckte ein nervöses Lachen
herunter und umfasste instinktiv ihre Tasche fester. »Ich habe mich
schon immer gefragt, wie Sie es schaffen, einen Mann in Ihrem Bett
zu halten.«
Die dunklen Augen verengten sich. »Es hat noch nie
einen Mann gegeben, der nicht scharf darauf gewesen wäre, eine
Kostprobe von mir zu bekommen.«
»Scharf auf eine Kostprobe von diesem
überbeanspruchten Körper mit Silikonimplantaten und Botox? Jeder
Mann kann sich eine aufblasbare Puppe kaufen, die weniger Plastik
enthält als Sie.«
»Sie …« Die Frau fauchte. Es war tatsächlich ein
richtiges Fauchen. »Kommen Sie mir ja nicht in die Quere,
Anna Randal, sonst sind Sie bald nicht mehr als ein Fettfleck
unter meinen Pradaschuhen.«
Wäre sie ein besserer Mensch gewesen, hätte sie
Sybil gewarnt und ihr erzählt, dass Conde Cezar etwas ganz anderes
war als ein wohlhabender, attraktiver Aristokrat. Dass er mächtig
war und gefährlich und nicht einmal ein Mensch.
Doch auch nach zwei Jahrhunderten war sie noch
immer imstande, so engherzig zu sein wie jede andere Frau. Ein
Lächeln kräuselte ihre Lippen, als sie zusah, wie Sybil durch den
Raum davonstolzierte.
Cezar hatte ihre Anwesenheit schon lange gespürt,
bevor er die Empfangshalle betrat. Er hatte es bereits in dem
Augenblick gewusst, als sie auf dem O’Hare International Airport
gelandet war. Er war sich ihrer so bewusst, dass sie in jedem
Quadratzentimeter seines Körpers prickelte. Er wäre höllisch
ärgerlich gewesen, wenn es sich nicht so verdammt gut angefühlt
hätte.
Cezar knurrte tief in der Kehle aufgrund dieser
Gefühle, die in direkter Verbindung zu Anna Randal standen, und
wandte den Kopf, um wütend die Brünette anzufunkeln, die sich ihm
gerade näherte. Es war nicht weiter überraschend, dass die Frau auf
dem Absatz umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung
verschwand.
Heute Abend war seine Aufmerksamkeit vollkommen auf
die Frau gerichtet, die dort hinten in der Ecke stand. Die Art, wie
das Licht den seidigen Honigton ihrer Haare betonte, die Goldtupfen
in ihren haselnussbraunen Augen, das silberne Kleid, das allzu viel
von ihrem schlanken Körper zeigte.
Hinter ihm bewegte sich etwas. Cezar drehte sich um
und entdeckte einen großen Vampir mit rabenschwarzem Haar, der aus
dem Schatten trat. Das war ein hübscher Trick, wenn man bedachte,
dass es sich bei ihm um einen fast zwei Meter großen aztekischen
Krieger handelte, der mit einem Umhang und Lederstiefeln bekleidet
war. Dass er der Anasso war, der Anführer aller Vampire, hatte
durchaus seine Vorteile.
»Styx.« Cezar neigte den Kopf. Er war nicht im
Mindesten überrascht, als er feststellte, dass der Vampir ihm zum
Hotel gefolgt war.
Seit Cezar gemeinsam mit der Kommission in Chicago
eingetroffen war, war Styx nicht von seiner Seite gewichen und
hatte wie eine Glucke über ihn gewacht. Es war offensichtlich, dass
es dem uralten Anführer nicht gefiel, wenn einer seiner Vampire
sich in der Gewalt der Orakel befand. Und es gefiel ihm noch
weniger, dass Cezar sich geweigert hatte, die Sünden zu gestehen,
die ihm beinahe zwei Jahrhunderte Buße in der Gewalt der Kommission
eingebracht hatten.
»Sag mir bitte noch einmal, aus welchem Grund ich
nicht zu Hause in den Armen meiner schönen Gefährtin bin!«,
schimpfte Styx, wobei er die Tatsache ignorierte, dass Cezar ihn
gar nicht eingeladen hatte.
»Es war deine Entscheidung, von den Orakeln zu
verlangen, nach Chicago zu reisen«, rief er dem älteren Dämon ins
Gedächtnis.
»Ja, damit eine Entscheidung bezüglich Salvatores
Eindringen in Vipers Territorium getroffen wird, ganz zu schweigen
davon, dass er meine Braut entführte. Eine Entscheidung, die auf
unbestimmte Zeit verschoben wurde. Es war mir nicht gewärtig, dass
es ihre Absicht war, die Herrschaft über mein Versteck zu
übernehmen und in den
Winterschlaf zu verfallen, sobald sie eintrafen.« Die scharfen
Gesichtszüge versteinerten sich. Styx grübelte noch immer darüber
nach, weshalb die Orakel darauf beharrt hatten, dass gerade er
seine düsteren, feuchtkalten Höhlen verließ, damit sie sie für ihre
eigenen geheimnisvollen Zwecke nutzen konnten. Seine Gefährtin
Darcy jedoch schien sich recht schnell mit dem großen, weitläufigen
Herrenhaus am Rande von Chicago abgefunden zu haben, in das sie
gezogen waren.
»Und ganz sicher war mir nicht bewusst, dass sie
einen meiner Brüder als ihren Lakaien betrachten.«
»Ist dir bewusst, dass die Orakel niemandem Rede
und Antwort stehen, obgleich du der Herr und Meister über alle
Vampire bist?«
Styx murmelte etwas vor sich hin. Etwas über Orakel
und die Abgründe der Hölle. »Du hast mir nie erzählt, wie du in
ihre Klauen geraten bist.«
»Diese Geschichte erzähle ich niemandem.«
»Nicht einmal dem Vampir, der dich einst aus einem
Harpyiennest rettete?«
Cezar lachte auf. »Ich bat nie darum, gerettet zu
werden, Mylord. Ich war durchaus zufrieden damit, mich in ihren
bösartigen Klauen zu befinden. Zumindest, solange die Paarungszeit
währte.«
Styx rollte mit den Augen. »Wir schweifen vom Thema
ab.«
»Und worin besteht das Thema?«
»Sag mir, weshalb wir hier sind.« Styx warf einen
leicht angewiderten Blick auf das glanzvolle Gewimmel. »Soweit ich
das beurteilen kann, handelt es sich bei den Gästen um nichts
weiter als einfache Menschen, einige niedere Dämonen und ein wenig
Feenvolk.«
Cezar betrachtete die Gäste mit zusammengekniffenen
Augen. »Eine überraschend große Anzahl an Feenvolk, oder
nicht?«
»Es neigt dazu, sich zu versammeln, wenn der Duft
von Geld in der Luft liegt.«
»Vielleicht.« Cezar spürte, wie ohne jegliche
Vorwarnung eine Hand auf seiner Schulter landete, wodurch er seine
Aufmerksamkeit schlagartig wieder dem zunehmend frustrierten Vampir
an seiner Seite zuwandte. Offenbar war Styx allmählich am Ende
seiner Geduld, was Cezars Ausflüchte betraf.
»Cezar, ich habe den Zorn der Orakel bereits zuvor
riskiert. Ich werde dich an den Dachgiebel hängen und verrecken
lassen, wenn du mir nicht erzählst, weshalb du hier bist und durch
diese armselige Ansammlung von Lust und Gier schleichst!«
Cezar schnitt eine Grimasse. Im Augenblick war Styx
lediglich gereizt. Doch sobald er wahrhaft zornig wurde, würde es
wirklich schlimm werden. Und das Letzte, was er brauchte, war ein
tobender Vampir, der seine Beute verscheuchte.
»Ich habe den Auftrag, ein wachsames Auge auf ein
potenzielles Mitglied der Kommission zu haben«, gestand er
widerstrebend.
»Potenzielles …« Styx versteifte sich. »Bei den
Göttern, wurde ein neues Orakel gefunden?«
Der Schock des älteren Vampirs war verständlich.
Weniger als ein Dutzend Orakel waren in den vergangenen zehn
Jahrtausenden entdeckt worden. Bei ihnen handelte es sich um die
seltensten, kostbarsten Wesen, die auf Erden wandelten.
»Sie wurde vor beinahe zweihundert Jahren in den
Prophezeiungen
offenbart, doch die Information wurde von der Kommission geheim
gehalten.«
»Aus welchem Grund?«
»Sie ist sehr jung und muss sich noch in ihre
Kräfte einfinden. Von der Kommission wurde darum die Entscheidung
getroffen, dass man noch warten wolle, bis sie an Reife gewonnen
und ihre Fähigkeiten akzeptiert hätte.«
»Ah, das kann ich verstehen. Eine junge Frau, die
sich in ihre Kräfte einfindet, ist zuweilen eine schmerzliche
Angelegenheit.« Styx rieb sich die Seite, als erinnere er sich an
eine kürzlich zugefügteVerletzung. »Ein weiser Mann lernt,
jederzeit auf der Hut zu sein.«
Cezar hob die Augenbrauen. »Ich dachte, Darcy wurde
so verändert, dass sie sich nicht verwandelt?«
»Die Verwandlungen sind nur ein kleiner Teil der
Werwolfkräfte.«
»Nur der Anasso wählt eine Werwölfin zu seiner
Gefährtin.«
Die scharfen Gesichtszüge nahmen einen weicheren
Ausdruck an. »Es war tatsächlich weniger eine Wahl als vielmehr
Schicksal. Auch du wirst das eines Tages erkennen.«
»Nicht, solange ich unter der Herrschaft der
Kommission stehe«, entgegnete Cezar, und sein kalter Ton wies
darauf hin, dass er sich nicht drängen lassen würde.
Styx betrachtete ihn eine ganze Weile, bevor er
leicht nickte. »Wenn also dieses potenzielle Kommissionsmitglied
noch nicht darauf vorbereitet ist, ein Orakel zu werden, weshalb
bist du dann hier?«
Instinktiv warf Cezar einen Blick zu Anna. Auch
wenn das unnötig war. Er war sich ihrer in jedem Augenblick
bewusst, all ihrer Bewegungen, all ihrer Atemzüge, all ihrer
Herzschläge. »Im Laufe der vergangenen Jahre gab es mehrere
Zauber, von denen wir glauben, dass sie auf sie abzielten.«
»Welche Art von Zaubern?«
»Die Magie war die des Feenvolkes, doch die Orakel
waren nicht in der Lage, mehr als das zu bestimmen.«
»Eigenartig. Das Feenvolk befasst sich nur selten
mit dämonischer Politik.Warum auf einmal dieses Interesse?«
»Wer weiß? Vorerst ist der Kommission nur daran
gelegen, Schaden von der Frau abzuwenden.« Cezar zuckte leicht mit
den Schultern. »Als du um die Anwesenheit der Orakel in Chicago
batest, beauftragten sie mich mit der Aufgabe, sie herbeizulocken,
sodass ich ihr Schutz bieten kann.«
Styx setzte einen finsteren Blick auf, woraufhin
prompt ein menschlicher Kellner in Ohnmacht fiel und ein weiterer
ohne zu zögern auf den nächsten Ausgang zuschoss. »Schön, diese
junge Dame ist anscheinend etwas Besonderes. Aber weshalb solltest
gerade du derjenige sein, der gezwungen ist, sie zu
beschützen?«
Cezar lief ein Schauder über den Rücken, aber er
bemühte sich, ihn vor den gesteigerten Sinnesempfindungen seines
Begleiters zu verbergen. »Du zweifelst an meinen Fähigkeiten,
Mylord?«
»Sei kein Esel, Cezar. Niemand, der dich je im
Kampf sah, würde an deinen Fähigkeiten zweifeln.« Mit der
Unbefangenheit zweier Freunde, die sich seit Jahrhunderten kannten,
warf Styx einen Blick auf die perfekte Kontur von Cezars
Smokingjacke. Beide wussten, dass unter dem eleganten
Kleidungsstück ein halbes Dutzend Dolche verborgen war. »Ich habe
gesehen, wie du dich durch ein Rudel von Ipar-Dämonen kämpftest,
ohne auch nur einmal zu
straucheln. Doch in der Kommission gibt es Leute, die über Kräfte
verfügen, gegen die es niemand jemals wagen würde,
anzutreten.«
»Ich hatte nicht das Privileg der Wahl. Wenn es
sein muss, werde ich eben sterben …«
»Du wirst nicht sterben«, unterbrach Styx Cezars
spöttischen Redefluss.
Sein Gegenüber wirkte unbeeindruckt. »Nicht einmal
der Anasso kann eine solche Behauptung aufstellen.«
»Tatsächlich habe ich es soeben getan.«
»Du warst seit jeher edler gesinnt, als es dir
guttut, Styx.«
»Wie wahr.«
Cezars Haut begann zu prickeln. Anna steuerte auf
eine Seitentür der Empfangshalle zu. »Geh nach Hause, amigo,
zu deiner schönen Werwölfin.«
»Ein verlockendes Angebot, aber ich werde dich hier
bestimmt nicht allein lassen.«
»Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen, Styx.« Der
Vampir warf seinem Meister einen warnenden Blick zu. »Aber ich bin
der Kommission verpflichtet, und diese hat mir Befehle erteilt, die
ich nicht einfach ignorieren kann.«
Kalter Ärger brannte in Styx’ dunklen Augen, bevor
er widerwillig nickte. »Du wirst Kontakt zu mir aufnehmen, wenn du
meine Hilfe benötigst?«
»Selbstverständlich.«
Anna musste Conde Cezar nicht ansehen, um zu
wissen, dass er sich ihrer bewusst war. Er mochte mit dem
attraktiven Mann sprechen, der einem Aztekenhäuptling ähnelte, aber
ihr gesamter Körper bebte permanent durch das Gefühl seiner
unverwandten Aufmerksamkeit. Es war Zeit,
mit der Umsetzung ihres Plans zu beginnen. Ihres hastig
zusammengeschusterten Plans, dem dümmsten aller Zeiten.
Sie unterdrückte ein hysterisches Lachen. Er war
sicher nicht der beste, sondern gehörte eher zu der Art
Hackenzusammenschlagen-und-beten-dass-nicht-alles-zum-Teu-fel-geht,
aber er war alles, was sie im Augenblick hatte. Die Alternative
zuzulassen, dass Conde Cezar auf ein Neues für zwei Jahrhunderte
verschwand und sie mit quälenden Fragen zurückließ, war keine
wirkliche Option. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen.
Als sie die Nische fast erreicht hatte, die zu
einer Reihe von Fahrstühlen führte, wurde Anna von einem Arm
aufgehalten, der sich um ihre Taille schlang und sie gegen einen
stahlharten männlichen Körper zog.
»Du hast dich nicht im Geringsten verändert,
querida. Du bist noch immer so wunderschön wie in der Nacht,
in der ich dich zum ersten Mal zu Gesicht bekam.« Seine Finger
zogen einen Pfad der Verführung auf ihrer nackten Schulter.
»Obgleich du nun weit mehr Einblicke gewährst.«
Eine Explosion von Gefühlen erschütterte Annas
Körper bei seiner Berührung. Es waren Empfindungen, die sie schon
seit langer Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte. »Sie haben sich
offenbar ebenfalls nicht geändert, Conde! Sie wissen immer noch
nicht, wie man seine Hände bei sich behält.«
»Das Leben ist kaum lebenswert, wenn ich meine
Hände bei mir behalte.« Die kühle Haut seiner Wange streifte ihre,
als er ihr ins Ohr flüsterte: »Vertrau mir, ich muss es
wissen.«
Anna rollte mit den Augen. »Sicher.«
Die langen, schlanken Finger umfassten einen kurzen
Moment ihre Taille fester, bevor er sie langsam umdrehte, sodass
sie den beunruhigenden Blick aus seinen dunklen Augen erkennen
konnte. »Es ist lange her, Anna Randal.«
»Hundertfünfundneunzig Jahre.« Geistesabwesend hob
sie die Hand, um sich über die Haut zu reiben, die immer noch von
seiner Berührung prickelte. »Nicht, dass ich mitzählen
würde.«
Die vollen Lippen zuckten. »Nein, natürlich
nicht.«
Sie schob das Kinn vor. »Wo waren Sie?«
»Hast du mich vermisst?«
»Fishing for compliments?«
»Noch immer nichts zugeben wollen, was?«, spottete
er. Bewusst ließ er seinen Blick über ihren Körper gleiten und
hielt bei der silberfarbenen Gaze inne, die zart ihre Brüste
bedeckte. »Wäre es einfacher, wenn ich gestände, dass ich dich
vermisst habe? Selbst nach hundertfünfundneunzig Jahren erinnere
ich mich genau an den Duft deiner Haut, an die Sehnigkeit deines
schlanken Körpers, an den Geschmack deines …«
»Blutes?«, fauchte sie und weigerte sich, die Hitze
zuzulassen, die sich in ihrem Unterleib sammelte. Nein, nein,
nein. Diesmal nicht.
»Aber natürlich.« Auf seinem schönen Gesicht war
nicht einmal ein Anflug von Reue zu erkennen. »Daran erinnere ich
mich auch. So süß, so köstlich unschuldig.«
»Sprechen Sie leiser!«, befahl sie.
»Mach dir keine Sorgen.« Er trat noch näher an sie
heran. So nahe, dass der Stoff seiner Hose ihre nackten Beine
streifte. »Die Sterblichen können mich nicht hören, und das
Feenvolk weiß, dass es einem Vampir auf der Jagd besser nicht in
die Quere kommt.«
Anna keuchte und riss die Augen auf. »Vampir? Ich
wusste es! Ich …« Sie presste die Hände gegen ihren rebellierenden
Magen und sah sich in der überfüllten Halle um. Sie durfte ihren
Plan nicht vergessen. »Hören Sie, ich will mit Ihnen sprechen, aber
nicht hier. Ich habe ein Zimmer im Hotel.«
»Oh, Miss Randal, laden Sie mich etwa auf Ihr
Zimmer ein?« In den dunklen Augen war Belustigung zu erkennen. »Ich
bin nicht diese Art von Dämon, wissen Sie?«
»Ich will nur reden, sonst nichts.«
»Natürlich.« Er lächelte. Es war die Art von
Lächeln, die die Zehen einer Frau dazu brachten, sich in ihren
Pumps zu krümmen.
»Ich meine es ernst …« Sie unterbrach sich selbst
und schüttelte den Kopf. »Ach, egal. Kommen Sie mit?«
Die dunklen Augen des Mannes verengten sich. Es
wirkte, als ob er spürte, dass sie ihn von der Menge wegzuführen
versuchte. »Ich weiß noch nicht. Du hast mir nicht besonders viel
Anreiz geboten, um einen Raum zu verlassen, der voll ist mit
schönen Frauen, die durchaus daran interessiert scheinen, weitaus
mehr mit mir anzustellen als sich zu unterhalten.«
Anna zog die Augenbrauen in die Höhe. Sie war nicht
mehr die leichte Beute, die er anscheinend in Erinnerung hatte.
»Ich bezweifle, dass diese Frauen noch interessiert an Ihnen wären,
wenn sie wüssten, dass sich unter der attraktiven Eleganz ein
Monster versteckt. Wenn Sie es zu weit treiben, dann erzähle ich es
den Damen gern.«
Seine Finger glitten leicht über ihre Arme. »Die
Hälfte der Gäste besteht selbst aus Monstren, und die andere Hälfte
würde dir niemals glauben.«
Wie konnte eine so kalte Berührung eine solche
Hitze
in ihrem Blut entstehen lassen? »Hier sind noch andere
Vampire?«
»Einer oder zwei. Die anderen gehören zum
Feenvolk.«
Das hatte er schon vorher erwähnt. »Welches
Feenvolk?«
»Elfen, Kobolde, einige Naturgeister.«
»Das ist doch Blödsinn«, flüsterte sie und
schüttelte den Kopf, da sie gezwungen schien, in ihrer eigenen
seltsamen Existenz eine weitere Verrücktheit zu akzeptieren. »Und
das ist alles Ihre Schuld!«
»Meine Schuld?« Er sah sie zweifelnd an. »Ich habe
das Feenvolk nicht erschaffen, und ganz gewiss habe ich es nicht zu
dieser Feier eingeladen. Trotz all seiner Schönheit ist es treulos
und gerissen und hat nicht den geringsten Sinn für Humor.
Allerdings besitzt sein Blut ein gewisses Prickeln.Wie Champagner
…«
Anna deutete mit dem Finger direkt auf seine Nase.
»Es ist Ihre Schuld, dass Sie mich gebissen haben!«
»Ich nehme an, das kann ich nicht leugnen.«
»Und das bedeutet, dass Sie dafür verantwortlich
sind, dass mein Leben so verkorkst ist!«
»Ich habe nicht mehr getan, als einige Schlucke von
deinem Blut zu trinken und …«
Sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Wagen Sie es
ja nicht!«, zischte sie und funkelte warnend einen Kellner an, der
gerade auf sie zukam. »Und ich werde das ganz bestimmt nicht hier
diskutieren.«
Er lachte leise und ließ seine Finger über ihre
Schultern gleiten. »Du würdest alles tun, damit ich dich auf dein
Zimmer begleite, nicht wahr, querida?«
Sie machte hastig einen Schritt nach
hinten.Verdammt sollten er und seine aufregenden Berührungen sein!
»Sie sind wirklich ein totales Arschloch.«
»Das liegt in der Familie.«
Familie? Anna wandte den Kopf, um den großen,
ebenfalls atemberaubenden Mann anzusehen, der vom anderen Ende der
Halle finstere Blicke herüberwarf. »Gehört er zufällig zu Ihrer
Familie?«
Ein nicht zu deutender Ausdruck trat auf sein
schönes Gesicht. »Man könnte sagen, er ist eine Art
Vaterfigur.«
»Er sieht nicht aus wie ein Vater.« Anna warf dem
Fremden absichtlich ein Lächeln zu. »Er sieht gut aus. Vielleicht
sollten Sie ihn mir vorstellen.«
Cezars Finger umfassten ihren Arm mit festem Griff.
»Eigentlich waren wir zu deinem Zimmer unterwegs, schon
vergessen?«, knurrte er dicht an ihrem Ohr.
Ein leichtes Lächeln bildete sich auf Annas
Antlitz. Ha! Es gefiel ihm anscheinend nicht, wenn sie Interesse an
einem anderen Mann zeigte. Das geschah ihm recht. Doch ihr Lächeln
verblasste schnell, als plötzlich der bekannte Apfelduft wieder in
der Luft lag.
»Anna …«, gurrte eine honigsüße Stimme.
»Mist«, murmelte sie und beobachtete, wie Sybil mit
der Wucht einer Lokomotive auf sie zusteuerte.
Cezar legte einen Arm um ihre Schulter. »Eine
Freundin von dir?«
»Wohl kaum. Sybil Taylor geht mir schon seit fünf
Jahren auf die Nerven. Ich kann mich nicht einmal umdrehen, ohne
über sie zu stolpern.«
Cezar erstarrte und forschte mit sonderbarer
Neugierde in Annas Gesicht. »Tatsächlich? Was hast du denn mit
einer Elfe zu schaffen?«
»Einer … was? Quatsch!« Anna schüttelte den Kopf.
»Sybil ist Anwältin. Sie ist etwas sonderbar, da haben Sie recht,
aber …« Ihr wurde das Wort abgeschnitten, als der
Conde sie plötzlich mit sich zog und mit einer Handbewegung die
Fahrstuhltüren öffnete.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Anna darüber
gestaunt, dass sie sofort einen Aufzug zur Verfügung hatten, aber
jetzt musste sie sich bemühen, auf den Beinen zu bleiben, als sie
grob in die Kabine gezogen wurde und sich die Türen schlossen.
»Meine Güte! Ist es nötig, dass Sie mich durch die Gegend schleifen
wie einen Sack Kartoffeln, Conde?«
»Ich denke, wir sind über die Formalitäten hinaus,
querida. Du kannst mich Cezar nennen.«
»Cezar.« Sie runzelte die Stirn und drückte den
Knopf für ihr Stockwerk. »Haben Sie keinen Vornamen?«
»Nein.«
»Das ist ja merkwürdig.«
»Nicht für mein Volk.« Die Aufzugtüren öffneten
sich, und Cezar zog Anna in den runden Korridor, der auf der einen
Seite über Türen zu den Hotelzimmern verfügte und auf der anderen
freie Sicht auf die Eingangshalle bot, die zwölf Stockwerke unter
ihnen lag.
»Hier entlang.« Anna ging durch den Flur und hielt
vor ihrer Tür an. Sie hatte schon ihre Schlüsselkarte in den
Schlitz gesteckt, als sie bei der plötzlichen Erinnerung an die
Nacht innehielt, in der sie versucht hatte, Conde Cezar zu
besiegen.
Die Nacht, die ihr ganzes Leben veränderte …