KAPITEL 14
Dies also war die Frau, die verantwortlich für das Feuer war, das ihre Tante getötet und fast auch ihrem eigenen Leben ein Ende gesetzt hätte. Anna reckte das Kinn, und ihr Körper erbebte nicht nur vor Angst. »Na ja, mich umzubringen hat leider nicht so ganz geklappt«, sagte sie. Sie wusste, dass das ein lahmer Spruch war, aber es war das Beste, was ihr unter diesen Umständen einfiel.
Morgana schien nun außer sich vor Wut. »Wie konntest du das Feuer überleben? Der Zauber, den ich verwendete, hätte dich töten sollen.«
»Ich habe selbst ein paar Kräfte.« Und eine gesunde Dosis Glück.
Die Elfenkönigin spuckte fast vor Abscheu, und der fruchtige Geruch war inzwischen so stark, dass er in Annas Magen ein flaues Gefühl verursachte. Vielleicht war aber auch einfach ihre furchtbare Angst daran schuld.
»Ich hätte dich augenblicklich töten sollen, sobald ich argwöhnte, wer du bist!«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
Das Bild von Morgana wurde schärfer und klarer. Als ob jemand an einem Schalter gedreht hätte.
»Ich musste mir ganz sicher sein. Ich musste mich überzeugen, dass du diejenige mit den Kräften bist, die ich gespürt hatte, bevor ich es riskierte, meine Präsenz zu enthüllen.«
»Deine Präsenz zu enthüllen?« Anna zitterte vor uraltem Schmerz. »Meinst du damit, ein Haus niederzubrennen und dabei eine unschuldige Frau zu töten? Sag mir, war Tante Jane überhaupt mit mir verwandt?«
»Natürlich nicht«, antwortete Morgana spöttisch. »Sie war nur eine törichte alte Frau mit einem Verstand, der erbärmlich leicht zu kontrollieren war.«
Meine Güte! Wie hatte sie nur unter demselben Dach mit dieser Frau leben können, ohne die Bösartigkeit zu spüren, die ihre Seele vergiftet hatte?
»Und was ist mit meinen richtigen Eltern?«, brachte Anna hervor, und ihre Hände drückten die Finger des armen Levet, bis er aufquiekte. »Hast du sie getötet?«
Morgana lachte und hob die schlanken Finger, um sich damit durch ihre wilden Locken zu fahren. »Ich tötete eine große Anzahl deiner Verwandten. Ich kann nur vermuten, dass sich deine Eltern unter ihnen befanden.«
»Äh … Anna«, flüsterte Levet.
Anna ignorierte den Gargylen und bemühte sich, ihre Kräfte im Zaum zu halten. »Warum? Warum versuchst du mich zu töten?«
»Anna! Sacrebleu!«, bellte Levet und riss an ihrem Arm, bis sie ihn nicht länger ignorieren konnte. »Wir sind im Begriff, in das Portal hineingezogen zu werden!«
Zu spät wurde Anna klar, dass das schimmernde Glühen tatsächlich wuchs und die äußeren Ränder, die nach ihr zu greifen schienen, sich inzwischen bis zu der Stelle erstreckten, an der sie stand. »Mist!« Vergeblich wehrte sie sich gegen die Macht, die sie bewegungslos machte. »Wie halte ich es auf?«
Morgana streckte in einer arroganten Geste eine Hand aus. »Das kannst du nicht, meine Süße! Sehr bald werden wir dieses öde Spiel hinter uns gebracht haben.«
»Levet?«, krächzte Anna.
Der Gargyle warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Es wäre nicht schlecht, wenn Sie jetzt Ihre Kräfte anwenden würden.«
Morgana lachte. »Sie kann mich nicht besiegen. Ich bin eine Königin. Meine Kräfte sind grenzenlos.«
Anna konnte die eigenartigen Energiewellen fühlen, die ihr Gesicht streiften. »Haben Sie nicht einen Zauberspruch parat oder so?«, wandte sie sich an Levet.
»Oui, aber …«
»Aber was?«
»Meine Zaubersprüche funktionieren nicht immer so gut.«
»Na toll.«
Die grauen Augen waren rund vor Angst, als der Dämon Annas Finger schmerzhaft drückte. »Tun Sie es jetzt, Anna!«
Anna kniff fest die Augen zusammen. Ein Teil von ihr machte sie darauf aufmerksam, dass es nicht weniger wahrscheinlich war, dass gleich das Dach über ihnen einstürzte, als dass sie gerettet wurden, aber angesichts der seltsamen Energie, die sie zu umgeben begann, wusste Anna, dass sie etwas tun musste. Irgendetwas.
Sie entriegelte die Türen in ihrem Geist und konzentrierte sich auf das Blut, das durch ihre Adern strömte. In diesem Blut befand sich die Energie, die mit jedem Tag, der verging, stärker wurde. So stark, dass sie sich alles andere als sicher war, was gleich passieren würde. Zögernd öffnete Anna wieder die Augen, begegnete dem triumphierenden Smaragdblick von Morgana le Fay und ließ es zu, dass sich ihre zunehmende Macht um sie herum entlud.
 
Cezar befand sich gerade auf dem Rückweg zu Dantes Villa, als er Annas Not spürte.
Er hatte Stunden inmitten der Bücher vergeudet und nach irgendeinem Hinweis auf Morganas Schwachstellen gesucht. Doch in dieser Zeit hatte er nichts weiter entdeckt als ein obskures Gedicht, das ebenfalls nur das bestätigt hatte, was er bereits gemutmaßt hatte. Schließlich war es der herannahende Tagesanbruch gewesen, der ihn aus den Tunneln vertrieben hatte, zurück auf die Straßen von Chicago. Er hatte sich knapp von Jagr verabschiedet, der ihn mit wachsamem Blick belauert hatte, und machte sich auf den Weg in den Norden der Stadt.
Er war nur noch einige Häuserblocks entfernt, als er spürte, wie ihn die erste Woge der Furcht überkam. Es dauerte einige Zeit, bis er tatsächlich wusste, dass es Annas Gefühle waren, die er wahrnahm. Als Vampir konnte er in den Seelen derjenigen lesen, die ihm nahestanden, und sogar ihre Emotionen spüren, wenn diese stark genug waren. Aber dies war anders. Dies war weitaus persönlicher. Weitaus intensiver. Es fühlte sich beinahe so an, als seien sie … verbunden.
Cezar hatte keine Zeit, um sich Sorgen wegen der alarmierenden Gefühle zu machen, die seinen Körper durchströmten. Er dachte nur an eins: Anna. Blitzartig brachte er die letzten Meter hinter sich und stürzte in das riesige Haus.
Die Tür schwang mit so viel Wucht auf, dass die Bilder an den Wänden zu wackeln begannen.
»Anna?«, brüllte er und steuerte auf die Treppe zu, als plötzlich Dante vor ihm auftauchte. Cezar blieb abrupt stehen und starrte seinen Freund an. »Wo ist sie?«
Ein Ausdruck, der Kummer bedeuten konnte, zeigte sich auf dem schmalen Gesicht. »Cezar, hör mir zu …«
»Verdammt, Dante!« Cezar packte den anderen Vampir an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Sag mir, wo sie ist!«
»Wir wissen es nicht«, murmelte Dante.
Cezar schüttelte ihn ein weiteres Mal, und kalte Angst bildete sich in seiner Magengrube.
Abby erschien neben ihm und berührte ihn leicht am Arm. Unter normalen Umständen hätte diese leichte Berührung ausgereicht, um ihn flüchten zu lassen. Der Geist in Abby verfügte über die hässliche Angewohnheit, Dämonen in Flammen aufgehen zu lassen. Nun fuhr er nicht einmal zusammen.
»Cezar, ich weiß, dass du aufgeregt bist«, sagte sie.
»Aufgeregt?«, knurrte er und starrte sie zornig an. »Ich bin weit darüber hinaus, nur aufgeregt zu sein!«
Abbys Gesicht blieb ruhig, obwohl die Lichter um sie herum aufflackerten und mehr als eine Glühbirne unter der Woge seiner Macht platzte. Offensichtlich war sie daran gewöhnt, mit wütenden Vampiren umzugehen. »Ich weiß«, sagte sie sanft. »Aber wenn wir Anna und Levet finden wollen, dürfen wir uns nicht gegenseitig an die Gurgel gehen!«
Cezar nickte niedergeschlagen. Er war vernünftig genug, zu wissen, dass Abby recht hatte. Wenn Anna in Gefahr war, benötigte er alle Hilfe, die er bekommen konnte, um sie zu retten. Doch im Augenblick wollte er nicht vernünftig sein. Was er wollte, war, die Stadt Stein für Stein auseinanderzunehmen, bis er Anna wieder in den Armen hielt!
»Sagt mir, was ihr wisst.«
Nach einem kurzen Seitenblick zu Dante holte Abby tief Luft. »Anna und Levet sind in ihre Räume gegangen, um zu üben, wie sie ihren Geist abschirmen kann. Sie waren weniger als eine halbe Stunde da drinnen, als ich ihnen einen Snack gebracht habe und feststellen musste, dass sie verschwunden waren.«
»Du hast nichts gehört?«
»Gar nichts.«
»Was ist mit dem Zimmer? Wurde es …«
Als seine Stimme brach, klopfte ihm Dante beruhigend auf die Schulter. »Es gab kein Anzeichen für einen Kampf. Kein Blut. Aber da gibt es etwas, das du selbst sehen solltest.«
Cezar ließ sich widerwillig die Treppe hinaufführen. Dios. Sein gesamter Körper erbebte durch den wilden Drang, sich auf die Jagd zu begeben. Anna befand sich dort draußen … irgendwo. Und gleichgültig, wie groß ihre Kräfte auch sein mochten, sie brauchte ihn.
Als er den Raum betrat, in dem Anna für nur so kurze Zeit gewohnt hatte, blieb er stehen. Ihr süßer Duft durchdrang seine Sinne. Er schloss die Augen und ließ das noch immer spürbare Gefühl von ihrem Wesen in seinen Körper einsickern.
»Cezar?«, fragte Dante leise.
Mit einem abwehrenden Kopfschütteln zwang sich Cezar, tiefer in das große Zimmer zu gehen, das in verschiedenen Gelbtönen gehalten war. Sein Blick glitt über das Himmelbett und den französischen Kleiderschrank, und er bemerkte, dass alles seine Ordnung zu haben schien. Falls es hier einen Kampf gegeben hatte, dann hatte er auf sehr ordentliche Art stattgefunden.
Als er gerade im Begriff war, das Fenster zu überprüfen, fiel ihm plötzlich der nur allzu vertraute Geruch auf. »Granatäpfel«, knurrte er. »Morgana.«
»Das dachten wir uns schon«, flüsterte Abby. Sie kniete sich auf den Boden neben einen Brandfleck, der den handgewebten Teppich verunstaltete. »Dieser Fleck ist neu.«
Cezar runzelte die Stirn. »Magie?«
»Ja, auch wenn ich nicht genug darüber weiß, um sicher sagen zu können, was für eine Art von Magie«, gab Abby zu.
»Es muss wohl ein Portal gewesen sein«, stieß Dante hervor, und in seinen silbernen Augen blitzte Zorn auf. Ihm gefiel jegliche Zauberei kein Stück besser als Cezar. »Es gibt keine andere Methode, mit der Morgana meine Sicherheitsvorkehrungen hätte umgehen können.«
»Morgana hat Anna.« Cezars kalte Furcht wurde durch glühende Wut ersetzt. Die Königin der Elfen musste sterben.
Und zwar jetzt gleich! Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte blindlings aus dem Raum, ging die Treppe hinunter und betrat den Eingangsbereich, bevor Dante ihm mit einem Satz den Weg versperrte und ihn zwang, auf der Stelle anzuhalten.
»Cezar, warte doch mal!«, fuhr er ihn an, und seine Muskeln zitterten unter der Anstrengung, den zornigen Cezar zurückzuhalten. »Du kannst nicht nach draußen stürmen, ohne zu wissen, wohin du willst! Sehr bald wird die Morgendämmerung beginnen.«
Doch Cezar winkte ab. In seinen Zorn mischte sich ein roher, stechender Schmerz, der in ihm das Bedürfnis weckte aufzuheulen. »Ich kann nicht hier bleiben!«
Dante weigerte sich, seinen Griff zu lockern. »Warte zumindest, bis Viper und Styx eintreffen! Wir können nichts tun, bis wir wissen, wie wir Morgana finden. Konntest du in Jagrs Büchern etwas entdecken?«
In dem Wissen, dass er Dante ablenken musste, wenn er die Villa verlassen wollte, griff Cezar in seine Tasche und reichte ihm das Stück Papier, das er benutzt hatte, um den Originaltext abzuschreiben. »Nichts bis auf ein vages Gedicht, das sich auf Morganas Rückzug nach Avalon bezieht.«
Dante lockerte seinen Griff, glättete das Papier und las laut vor:
»Aus der Asche des Grabes ihres Bruders
Soll der Weg ihres Niedergangs an den Tag kommen.
In uraltem Blut werden sich Kräfte regen,
Artus’ Rache wird sich noch einmal erheben.«
Dante stieß einen unwilligen Laut aus, nachdem er dieses Geschwafel vorgelesen hatte. »Was zum Teufel soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, dass Morgana entschlossen ist, alle verbliebenen Nachkommen von Artus zu töten«, knurrte Cezar und schoss an Dante vorbei in Richtung Tür. »Und die Nächste auf ihrer Liste ist Anna.«
Er war nur noch einen Schritt von der Tür entfernt, als diese aufgestoßen wurde und Styx über die Schwelle trat.
Einen eigenartigen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen, als der uralte Vampir Cezar prüfend in das düstere Gesicht blickte. Dann hob Styx mit einer flüssigen Bewegung die Hand, und Cezar stellte fest, dass er mit genug Wucht durch die Vorhalle geschleudert wurde, um gegen eine Marmorsäule im Nachbarzimmer geschmettert zu werden, die sofort zerbarst.
Danach wurde alles schwarz um ihn.
 
Das war’s dann wohl.
Zu dieser Überzeugung kam Anna, als sie flach auf ihrem Rücken auf etwas lag, von dem sie nur vermuten konnte, dass es der Acker irgendeines Bauern war. Das war wirklich das allerletzte Mal, dass sie ihre verdammten Kräfte benutzte!
Alles, was sie hatte tun wollen, war, sich selbst und Levet aus Morganas Portal zu befreien. Sie hatte nur einen kleinen Teil ihrer Macht herausströmen lassen. Aber sobald der aufkommende Wind das Portal berührt hatte, waren Dinge explodiert. Wirklich und wahrhaftig explodiert. Dieses Schauspiel beinhaltete aufleuchtende Sterne, eine heftige Gehirnerschütterung, umherfliegende Teile (Levet und sie zum Beispiel) und eine Landung mit einem dumpfen Schlag, der durch Mark und Bein ging.
Das einzig Positive war, dass jetzt kein Portal mehr in Sicht war und der unerträgliche Geruch von Granatäpfeln durch den Duft von frisch gepflügter Erde und frischer Luft ersetzt worden war.
Anna, die sich fühlte, als sei sie mit einem Baseballschläger verprügelt worden, bemühte sich, sich aufrecht hinzusetzen. Sie drehte den Kopf in alle Richtungen, um Levet zu suchen, und wurde immer nervöser, als sie ihn nicht fand.
Schließlich fiel ihr Blick auf seine gedrungene Gestalt, die nur einige Meter entfernt zu sehen war. Er stand aufrecht, aber seine Flügel hingen herunter, und er inspizierte besorgt seinen langen Schwanz, als befürchte er, er habe Schaden davongetragen. Er konnte von Glück sagen, dass er den Schwanz überhaupt noch hatte.
»Bist du okay?«, brachte sie heraus und klopfte sich die Erdklumpen von ihren Jeans. Sie versuchte nicht einmal, ihr Haar glatt zu streichen, das sich anfühlte, als ob es zu Berge stünde.
Levet ließ seinen Schwanz los, und sein hässliches kleines Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er in die Dunkelheit spähte, die sie umgab. »Mir geht es gut, aber, mon dieu, wo sind wir hier?«
Anna schüttelte hilflos den Kopf. Es gab nichts anderes zu sehen als die Felder und ein paar verlassene Gebäude, die sich in der Nähe einer Schotterstraße zusammendrängten. In der Ferne war ein schwaches Leuchten am Himmel zu sehen, als ob die Lichter einer Stadt reflektiert würden, aber es gab keinen Wegweiser in der Nähe, um herauszufinden, welche Stadt es war. Sie konnten nur wenige Kilometer von Chicago entfernt sein oder sich genauso gut mitten im Nirgendwo befinden. »Ich habe keinen blassen Schimmer«, murmelte sie.
»Keine Angst.« Der Gargyle begann kleine Kreise zu drehen, wobei seine armen, ramponierten Flügel mitleiderregend flatterten. »Irgendwie werden wir wieder aus diesem Schlamassel schon herauskommen. Du darfst bloß nicht in Panik geraten.«
»Okay, Levet.«
»Wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Wir müssen …« Er lief immer weiter im Kreis. »Wir müssen nachdenken und dürfen nicht in Panik geraten. Das ist das Wichtigste.«
»Nicht in Panik geraten.«
»Richtig. Du darfst nicht in Panik geraten.«
Anna räusperte sich. »Levet.«
Der Gargyle blieb stehen und sah sie verwirrt an. »Oui?«
»Ich bin nicht diejenige, die hier gerade in Panik gerät.«
»Ja, ja, schon gut.«
Anna wartete ab, bis Levets Flügelschläge sich beruhigt hatten, und machte dann einen Schritt auf ihn zu. »Ich nehme nicht an, dass du ein Handy dabeihast?«
Levet rümpfte gekränkt die Nase über diese vollkommen vernünftige Frage. »Ich bin ein Gargyle! Ich benötige keine derartigen törichten Geräte.«
»Kannst du denn mit deiner Zauberei zu jemandem Kontakt aufnehmen?«
»Natürlich.«
Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung. »Gott sei Dank! Pass auf, du musst Cezar mitteilen, dass …«
»Warte, Anna«, unterbrach Levet sie und legte seine kleine Schnauze in Falten. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee wäre.«
Anna zählte bis zehn. Sie steckten mitten im Nirgendwo fest, und er wollte keinen Kontakt zu jemandem aufnehmen, der sie holte? »Warum nicht?«
»Ich kommuniziere durch Portale.«
Annas Hoffnung erstarb von einer Sekunde auf die andere. »Ach so.« Sie nickte verzagt. »Ja, ich glaube, wir sollten Portale für eine Weile meiden.«
»Genau das denke ich ebenfalls.«
Anna hob die Hand, um leicht den Siegelring zu berühren, der an der Kette um ihren Hals baumelte. Cezar hatte versprochen, dass sie ihn mit diesem Ring überall finden könne, aber leider beinhaltete er keine Gegensprechanlage. Sie blickte sich in der weiten Leere um und seufzte tief. Im Laufe der Jahre hatte sie genug Zeit in diversen verschlafenen Orten im Mittleren Westen verbracht, um zu erkennen, dass sie wahrscheinlich kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt waren. »Dann sieht es wohl so aus, als ob wir irgendeinen freundlichen Bauern finden müssen, der uns sein Telefon benutzen lässt.«
»Äh …« Levet rieb sich eins seiner Hörner. »Eigentlich benötige ich eher einen Ort, um mich zu verstecken.«
»Kann Morgana uns finden?«
Er zuckte die Achseln und warf einen Blick auf das rötliche Glühen am Rand des Horizontes. »Keine Ahnung, aber bald wird die Sonne aufgehen.«
»Schadet dir das?«
»Ich bin ein Gargyle,Anna«, erwiderte er, als sei sie etwas beschränkt. »Wenn die Strahlen der Sonne meine Haut berühren, verwandle ich mich in eine Statue.«
»Aha.« Anna, die sich wie eine Idiotin vorkam, nahm noch einmal ihre Umgebung in Augenschein, fand aber nichts bis auf ein verfallenes Haus samt Stall in ihrer Nähe. »Wie sieht es mit dem Stall aus?«, schlug sie vor.
Er schlug einmal heftig mit den hauchdünnen Flügeln. »Ein Stall? Bin ich eine Kuh?«
»Meine Güte, Levet!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Dann such doch einen besseren Platz!«
Levet drehte sich einmal um sich selbst und murmelte dann: »Ich nehme an, der Stall wird fürs Erste genügen.«
»Dann lass uns gehen.«
Gemeinsam stolperten sie über das unebene Feld. Annas Körper protestierte bei jedem Schritt. Sich aus einem Portal katapultieren zu lassen war offensichtlich etwas, das man vermeiden sollte, wenn einem seine Gesundheit lieb war. Sie fiel über einen losen Erdklumpen und stöhnte, als sie sich wieder aufrappelte.
Levets kleine Hand griff nach ihr, um an ihrem Sweatshirt zu ziehen. »Anna, wir müssen uns beeilen!«
Mit einem erschöpften Lächeln ergriff sie seine kalten Finger und zog ihn durch eine Lücke in dem durchhängenden Zaun. Von da an kämpften sie mit dem Unkraut und den Brombeersträuchern, die die Vorherrschaft über den Vorgarten übernommen hatten. Schließlich erreichten sie die Stalltür, die zum Glück noch intakt war. Anna öffnete sie und führte den erschöpften Gargylen durch den schmutzigen Raum in die hinterste dunkle Ecke.
Der Stall war fast leer. Es gab noch einige verrostete Erntegeräte, die überall auf dem Boden verstreut waren, und einen Stapel alter Zeitungen, der allmählich von Mäusen zernagt wurde. Wer auch immer diese abgelegene Farm sein Zuhause genannt hatte, hatte sie schon vor langer Zeit für grünere Weiden verlassen.
»Hier«, sagte Anna und schob einen vergessenen Heuballen beiseite, um Levet in einer schmalen Box zu verstecken. Der Gargyle würde zumindest vor zufälligen Blicken geschützt sein, auch wenn er immer noch leicht zu entdecken wäre, wenn jemand den Stall gründlicher absuchte. Wo waren bloß all diese verdammten Vampirtunnel, wenn man sie mal brauchte?
Als Anna sich gerade einen eigenen Ort zum Verstecken suchen wollte, wurde sie von Levet aufgehalten, der sie an ihrem Sweatshirtärmel festhielt.
»Anna …«
»Ja?«
»Sobald die Sonne aufgeht, werde ich nicht mehr in der Lage sein, dir zu helfen. Wenn irgendetwas passiert, musst du fortlaufen und mich zurücklassen.« Er ließ sie los und griff nach einem vereinzelten Nagel, der in einer Bretterwand zurückgelassen worden war. Damit ritzte er etwas in den Boden. »Das ist Darcys Nummer. Du solltest sie sofort anrufen, sobald du ein Telefon findest.«
Anna drückte den Rücken durch. »Ich verlasse dich nicht, Levet.«
»Du musst! Mir kann niemand etwas anhaben, während ich meine Statuengestalt habe.«
Das schien Anna äußerst praktisch. Insbesondere, wenn Morgana sich für eine Zugabe entschied. »Überhaupt nichts?«
Levet antwortete nicht, sondern warf einen Blick zu dem kleinen Fenster, in dem sich der Tag mit blassrosa Dämmern ankündigte. »Anna - tut mir leid.«
Sie taumelte zurück, als der winzige Körper zu glühen begann und sich dann direkt vor ihren Augen zu Stein verhärtete.
Eigentlich hätte sie langsam an derart skurrile Dinge gewöhnt sein sollen. Davon hatte es in den vergangenen Tagen weiß Gott genug gegeben. Aber der Anblick des Gargylen, der sich von einem Lebewesen so mir nichts dir nichts in einen Brocken Granit verwandelte, ging weit über das hinaus, was sie bereit war, mit anzusehen. Sie stürmte aus der Box und hielt nur so lange inne, bis sie den Heuballen vor die Öffnung geschoben hatte. Dann durchquerte sie den Stall und kletterte die wackelige Leiter zum Heuboden hinauf.
Die Balken waren hier so niedrig, dass es einfacher war, auf Händen und Knien zu kriechen, als zu riskieren, sich den Kopf anzuschlagen. Sie testete vorsichtig die verzogenen Bretter mit dem noch spärlich vorhandenen Stroh darauf, bevor sie sie mit ihrem vollen Körpergewicht belastete. Dann kroch sie langsam in den hinteren Teil des Heubodens und öffnete die kleine Luke, die einen weiten Blick auf die Umgebung bot.
Von hier aus war sie imstande, alles im Auge zu behalten, das sich ihr näherte.
Was zur Hölle sie tun sollte, wenn der Stall tatsächlich angegriffen würde, war eine vollkommen andere Sache.