KAPITEL 14
Dies also war die Frau, die
verantwortlich für das Feuer war, das ihre Tante getötet und fast
auch ihrem eigenen Leben ein Ende gesetzt hätte. Anna reckte das
Kinn, und ihr Körper erbebte nicht nur vor Angst. »Na ja, mich
umzubringen hat leider nicht so ganz geklappt«, sagte sie. Sie
wusste, dass das ein lahmer Spruch war, aber es war das Beste, was
ihr unter diesen Umständen einfiel.
Morgana schien nun außer sich vor Wut. »Wie
konntest du das Feuer überleben? Der Zauber, den ich verwendete,
hätte dich töten sollen.«
»Ich habe selbst ein paar Kräfte.« Und eine
gesunde Dosis Glück.
Die Elfenkönigin spuckte fast vor Abscheu, und der
fruchtige Geruch war inzwischen so stark, dass er in Annas Magen
ein flaues Gefühl verursachte. Vielleicht war aber auch einfach
ihre furchtbare Angst daran schuld.
»Ich hätte dich augenblicklich töten sollen, sobald
ich argwöhnte, wer du bist!«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
Das Bild von Morgana wurde schärfer und klarer. Als
ob jemand an einem Schalter gedreht hätte.
»Ich musste mir ganz sicher sein. Ich musste mich
überzeugen, dass du diejenige mit den Kräften bist, die ich gespürt
hatte, bevor ich es riskierte, meine Präsenz zu enthüllen.«
»Deine Präsenz zu enthüllen?« Anna zitterte vor
uraltem Schmerz. »Meinst du damit, ein Haus niederzubrennen und
dabei eine unschuldige Frau zu töten? Sag mir, war Tante Jane
überhaupt mit mir verwandt?«
»Natürlich nicht«, antwortete Morgana spöttisch.
»Sie war nur eine törichte alte Frau mit einem Verstand, der
erbärmlich leicht zu kontrollieren war.«
Meine Güte! Wie hatte sie nur unter demselben Dach
mit dieser Frau leben können, ohne die Bösartigkeit zu spüren, die
ihre Seele vergiftet hatte?
»Und was ist mit meinen richtigen Eltern?«, brachte
Anna hervor, und ihre Hände drückten die Finger des armen Levet,
bis er aufquiekte. »Hast du sie getötet?«
Morgana lachte und hob die schlanken Finger, um
sich damit durch ihre wilden Locken zu fahren. »Ich tötete eine
große Anzahl deiner Verwandten. Ich kann nur vermuten, dass sich
deine Eltern unter ihnen befanden.«
»Äh … Anna«, flüsterte Levet.
Anna ignorierte den Gargylen und bemühte sich, ihre
Kräfte im Zaum zu halten. »Warum? Warum versuchst du mich zu
töten?«
»Anna! Sacrebleu!«, bellte Levet und riss an
ihrem Arm, bis sie ihn nicht länger ignorieren konnte. »Wir sind im
Begriff, in das Portal hineingezogen zu werden!«
Zu spät wurde Anna klar, dass das schimmernde
Glühen tatsächlich wuchs und die äußeren Ränder, die nach ihr zu
greifen schienen, sich inzwischen bis zu der Stelle erstreckten, an
der sie stand. »Mist!« Vergeblich wehrte sie sich gegen die Macht,
die sie bewegungslos machte. »Wie halte ich es auf?«
Morgana streckte in einer arroganten Geste eine
Hand aus. »Das kannst du nicht, meine Süße! Sehr bald werden wir
dieses öde Spiel hinter uns gebracht haben.«
»Levet?«, krächzte Anna.
Der Gargyle warf ihr einen verzweifelten Blick zu.
»Es wäre nicht schlecht, wenn Sie jetzt Ihre Kräfte anwenden
würden.«
Morgana lachte. »Sie kann mich nicht besiegen. Ich
bin eine Königin. Meine Kräfte sind grenzenlos.«
Anna konnte die eigenartigen Energiewellen fühlen,
die ihr Gesicht streiften. »Haben Sie nicht einen
Zauberspruch parat oder so?«, wandte sie sich an Levet.
»Oui, aber …«
»Aber was?«
»Meine Zaubersprüche funktionieren nicht immer so
gut.«
»Na toll.«
Die grauen Augen waren rund vor Angst, als der
Dämon Annas Finger schmerzhaft drückte. »Tun Sie es jetzt,
Anna!«
Anna kniff fest die Augen zusammen. Ein Teil von
ihr machte sie darauf aufmerksam, dass es nicht weniger
wahrscheinlich war, dass gleich das Dach über ihnen einstürzte, als
dass sie gerettet wurden, aber angesichts der seltsamen Energie,
die sie zu umgeben begann, wusste Anna, dass sie etwas tun musste.
Irgendetwas.
Sie entriegelte die Türen in ihrem Geist und
konzentrierte sich auf das Blut, das durch ihre Adern strömte. In
diesem Blut befand sich die Energie, die mit jedem Tag, der
verging, stärker wurde. So stark, dass sie sich alles andere als
sicher war, was gleich passieren würde. Zögernd öffnete Anna wieder
die Augen, begegnete dem triumphierenden
Smaragdblick von Morgana le Fay und ließ es zu, dass sich ihre
zunehmende Macht um sie herum entlud.
Cezar befand sich gerade auf dem Rückweg zu Dantes
Villa, als er Annas Not spürte.
Er hatte Stunden inmitten der Bücher vergeudet und
nach irgendeinem Hinweis auf Morganas Schwachstellen gesucht. Doch
in dieser Zeit hatte er nichts weiter entdeckt als ein obskures
Gedicht, das ebenfalls nur das bestätigt hatte, was er bereits
gemutmaßt hatte. Schließlich war es der herannahende Tagesanbruch
gewesen, der ihn aus den Tunneln vertrieben hatte, zurück auf die
Straßen von Chicago. Er hatte sich knapp von Jagr verabschiedet,
der ihn mit wachsamem Blick belauert hatte, und machte sich auf den
Weg in den Norden der Stadt.
Er war nur noch einige Häuserblocks entfernt, als
er spürte, wie ihn die erste Woge der Furcht überkam. Es dauerte
einige Zeit, bis er tatsächlich wusste, dass es Annas Gefühle
waren, die er wahrnahm. Als Vampir konnte er in den Seelen
derjenigen lesen, die ihm nahestanden, und sogar ihre Emotionen
spüren, wenn diese stark genug waren. Aber dies war anders. Dies
war weitaus persönlicher. Weitaus intensiver. Es fühlte sich
beinahe so an, als seien sie … verbunden.
Cezar hatte keine Zeit, um sich Sorgen wegen der
alarmierenden Gefühle zu machen, die seinen Körper durchströmten.
Er dachte nur an eins: Anna. Blitzartig brachte er die letzten
Meter hinter sich und stürzte in das riesige Haus.
Die Tür schwang mit so viel Wucht auf, dass die
Bilder an den Wänden zu wackeln begannen.
»Anna?«, brüllte er und steuerte auf die Treppe zu,
als
plötzlich Dante vor ihm auftauchte. Cezar blieb abrupt stehen und
starrte seinen Freund an. »Wo ist sie?«
Ein Ausdruck, der Kummer bedeuten konnte, zeigte
sich auf dem schmalen Gesicht. »Cezar, hör mir zu …«
»Verdammt, Dante!« Cezar packte den anderen Vampir
an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Sag mir, wo sie
ist!«
»Wir wissen es nicht«, murmelte Dante.
Cezar schüttelte ihn ein weiteres Mal, und kalte
Angst bildete sich in seiner Magengrube.
Abby erschien neben ihm und berührte ihn leicht am
Arm. Unter normalen Umständen hätte diese leichte Berührung
ausgereicht, um ihn flüchten zu lassen. Der Geist in Abby verfügte
über die hässliche Angewohnheit, Dämonen in Flammen aufgehen zu
lassen. Nun fuhr er nicht einmal zusammen.
»Cezar, ich weiß, dass du aufgeregt bist«, sagte
sie.
»Aufgeregt?«, knurrte er und starrte sie zornig an.
»Ich bin weit darüber hinaus, nur aufgeregt zu sein!«
Abbys Gesicht blieb ruhig, obwohl die Lichter um
sie herum aufflackerten und mehr als eine Glühbirne unter der Woge
seiner Macht platzte. Offensichtlich war sie daran gewöhnt, mit
wütenden Vampiren umzugehen. »Ich weiß«, sagte sie sanft. »Aber
wenn wir Anna und Levet finden wollen, dürfen wir uns nicht
gegenseitig an die Gurgel gehen!«
Cezar nickte niedergeschlagen. Er war vernünftig
genug, zu wissen, dass Abby recht hatte. Wenn Anna in Gefahr war,
benötigte er alle Hilfe, die er bekommen konnte, um sie zu retten.
Doch im Augenblick wollte er nicht vernünftig sein. Was er wollte,
war, die Stadt Stein für Stein auseinanderzunehmen, bis er Anna
wieder in den Armen hielt!
»Sagt mir, was ihr wisst.«
Nach einem kurzen Seitenblick zu Dante holte Abby
tief Luft. »Anna und Levet sind in ihre Räume gegangen, um zu üben,
wie sie ihren Geist abschirmen kann. Sie waren weniger als eine
halbe Stunde da drinnen, als ich ihnen einen Snack gebracht habe
und feststellen musste, dass sie verschwunden waren.«
»Du hast nichts gehört?«
»Gar nichts.«
»Was ist mit dem Zimmer? Wurde es …«
Als seine Stimme brach, klopfte ihm Dante
beruhigend auf die Schulter. »Es gab kein Anzeichen für einen
Kampf. Kein Blut. Aber da gibt es etwas, das du selbst sehen
solltest.«
Cezar ließ sich widerwillig die Treppe
hinaufführen. Dios. Sein gesamter Körper erbebte durch den
wilden Drang, sich auf die Jagd zu begeben. Anna befand sich dort
draußen … irgendwo. Und gleichgültig, wie groß ihre Kräfte auch
sein mochten, sie brauchte ihn.
Als er den Raum betrat, in dem Anna für nur so
kurze Zeit gewohnt hatte, blieb er stehen. Ihr süßer Duft
durchdrang seine Sinne. Er schloss die Augen und ließ das noch
immer spürbare Gefühl von ihrem Wesen in seinen Körper
einsickern.
»Cezar?«, fragte Dante leise.
Mit einem abwehrenden Kopfschütteln zwang sich
Cezar, tiefer in das große Zimmer zu gehen, das in verschiedenen
Gelbtönen gehalten war. Sein Blick glitt über das Himmelbett und
den französischen Kleiderschrank, und er bemerkte, dass alles seine
Ordnung zu haben schien. Falls es hier einen Kampf gegeben hatte,
dann hatte er auf sehr ordentliche Art stattgefunden.
Als er gerade im Begriff war, das Fenster zu
überprüfen, fiel ihm plötzlich der nur allzu vertraute Geruch auf.
»Granatäpfel«, knurrte er. »Morgana.«
»Das dachten wir uns schon«, flüsterte Abby. Sie
kniete sich auf den Boden neben einen Brandfleck, der den
handgewebten Teppich verunstaltete. »Dieser Fleck ist neu.«
Cezar runzelte die Stirn. »Magie?«
»Ja, auch wenn ich nicht genug darüber weiß, um
sicher sagen zu können, was für eine Art von Magie«, gab Abby
zu.
»Es muss wohl ein Portal gewesen sein«, stieß Dante
hervor, und in seinen silbernen Augen blitzte Zorn auf. Ihm gefiel
jegliche Zauberei kein Stück besser als Cezar. »Es gibt keine
andere Methode, mit der Morgana meine Sicherheitsvorkehrungen hätte
umgehen können.«
»Morgana hat Anna.« Cezars kalte Furcht wurde durch
glühende Wut ersetzt. Die Königin der Elfen musste sterben.
Und zwar jetzt gleich! Er drehte sich auf dem
Absatz um und marschierte blindlings aus dem Raum, ging die Treppe
hinunter und betrat den Eingangsbereich, bevor Dante ihm mit einem
Satz den Weg versperrte und ihn zwang, auf der Stelle
anzuhalten.
»Cezar, warte doch mal!«, fuhr er ihn an, und seine
Muskeln zitterten unter der Anstrengung, den zornigen Cezar
zurückzuhalten. »Du kannst nicht nach draußen stürmen, ohne zu
wissen, wohin du willst! Sehr bald wird die Morgendämmerung
beginnen.«
Doch Cezar winkte ab. In seinen Zorn mischte sich
ein roher, stechender Schmerz, der in ihm das Bedürfnis weckte
aufzuheulen. »Ich kann nicht hier bleiben!«
Dante weigerte sich, seinen Griff zu lockern.
»Warte
zumindest, bis Viper und Styx eintreffen! Wir können nichts tun,
bis wir wissen, wie wir Morgana finden. Konntest du in Jagrs
Büchern etwas entdecken?«
In dem Wissen, dass er Dante ablenken musste, wenn
er die Villa verlassen wollte, griff Cezar in seine Tasche und
reichte ihm das Stück Papier, das er benutzt hatte, um den
Originaltext abzuschreiben. »Nichts bis auf ein vages Gedicht, das
sich auf Morganas Rückzug nach Avalon bezieht.«
Dante lockerte seinen Griff, glättete das Papier
und las laut vor:
»Aus der Asche des Grabes ihres
Bruders
Soll der Weg ihres Niedergangs an den Tag kommen.
In uraltem Blut werden sich Kräfte regen,
Artus’ Rache wird sich noch einmal erheben.«
Soll der Weg ihres Niedergangs an den Tag kommen.
In uraltem Blut werden sich Kräfte regen,
Artus’ Rache wird sich noch einmal erheben.«
Dante stieß einen unwilligen Laut aus, nachdem er
dieses Geschwafel vorgelesen hatte. »Was zum Teufel soll das
bedeuten?«
»Es bedeutet, dass Morgana entschlossen ist, alle
verbliebenen Nachkommen von Artus zu töten«, knurrte Cezar und
schoss an Dante vorbei in Richtung Tür. »Und die Nächste auf ihrer
Liste ist Anna.«
Er war nur noch einen Schritt von der Tür entfernt,
als diese aufgestoßen wurde und Styx über die Schwelle trat.
Einen eigenartigen Augenblick lang schien die Zeit
stillzustehen, als der uralte Vampir Cezar prüfend in das düstere
Gesicht blickte. Dann hob Styx mit einer flüssigen Bewegung die
Hand, und Cezar stellte fest, dass er mit genug Wucht durch die
Vorhalle geschleudert wurde, um
gegen eine Marmorsäule im Nachbarzimmer geschmettert zu werden,
die sofort zerbarst.
Danach wurde alles schwarz um ihn.
Das war’s dann wohl.
Zu dieser Überzeugung kam Anna, als sie flach auf
ihrem Rücken auf etwas lag, von dem sie nur vermuten konnte, dass
es der Acker irgendeines Bauern war. Das war wirklich das
allerletzte Mal, dass sie ihre verdammten Kräfte benutzte!
Alles, was sie hatte tun wollen, war, sich selbst
und Levet aus Morganas Portal zu befreien. Sie hatte nur einen
kleinen Teil ihrer Macht herausströmen lassen. Aber sobald der
aufkommende Wind das Portal berührt hatte, waren Dinge explodiert.
Wirklich und wahrhaftig explodiert. Dieses Schauspiel
beinhaltete aufleuchtende Sterne, eine heftige Gehirnerschütterung,
umherfliegende Teile (Levet und sie zum Beispiel) und eine Landung
mit einem dumpfen Schlag, der durch Mark und Bein ging.
Das einzig Positive war, dass jetzt kein Portal
mehr in Sicht war und der unerträgliche Geruch von Granatäpfeln
durch den Duft von frisch gepflügter Erde und frischer Luft ersetzt
worden war.
Anna, die sich fühlte, als sei sie mit einem
Baseballschläger verprügelt worden, bemühte sich, sich aufrecht
hinzusetzen. Sie drehte den Kopf in alle Richtungen, um Levet zu
suchen, und wurde immer nervöser, als sie ihn nicht fand.
Schließlich fiel ihr Blick auf seine gedrungene
Gestalt, die nur einige Meter entfernt zu sehen war. Er stand
aufrecht, aber seine Flügel hingen herunter, und er inspizierte
besorgt seinen langen Schwanz, als befürchte er, er habe
Schaden davongetragen. Er konnte von Glück sagen, dass er den
Schwanz überhaupt noch hatte.
»Bist du okay?«, brachte sie heraus und klopfte
sich die Erdklumpen von ihren Jeans. Sie versuchte nicht einmal,
ihr Haar glatt zu streichen, das sich anfühlte, als ob es zu Berge
stünde.
Levet ließ seinen Schwanz los, und sein hässliches
kleines Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er in die
Dunkelheit spähte, die sie umgab. »Mir geht es gut, aber, mon
dieu, wo sind wir hier?«
Anna schüttelte hilflos den Kopf. Es gab nichts
anderes zu sehen als die Felder und ein paar verlassene Gebäude,
die sich in der Nähe einer Schotterstraße zusammendrängten. In der
Ferne war ein schwaches Leuchten am Himmel zu sehen, als ob die
Lichter einer Stadt reflektiert würden, aber es gab keinen
Wegweiser in der Nähe, um herauszufinden, welche Stadt es war. Sie
konnten nur wenige Kilometer von Chicago entfernt sein oder sich
genauso gut mitten im Nirgendwo befinden. »Ich habe keinen blassen
Schimmer«, murmelte sie.
»Keine Angst.« Der Gargyle begann kleine Kreise zu
drehen, wobei seine armen, ramponierten Flügel mitleiderregend
flatterten. »Irgendwie werden wir wieder aus diesem Schlamassel
schon herauskommen. Du darfst bloß nicht in Panik geraten.«
»Okay, Levet.«
»Wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Wir müssen
…« Er lief immer weiter im Kreis. »Wir müssen nachdenken und dürfen
nicht in Panik geraten. Das ist das Wichtigste.«
»Nicht in Panik geraten.«
»Richtig. Du darfst nicht in Panik geraten.«
Anna räusperte sich. »Levet.«
Der Gargyle blieb stehen und sah sie verwirrt an.
»Oui?«
»Ich bin nicht diejenige, die hier gerade in
Panik gerät.«
»Ja, ja, schon gut.«
Anna wartete ab, bis Levets Flügelschläge sich
beruhigt hatten, und machte dann einen Schritt auf ihn zu. »Ich
nehme nicht an, dass du ein Handy dabeihast?«
Levet rümpfte gekränkt die Nase über diese
vollkommen vernünftige Frage. »Ich bin ein Gargyle! Ich benötige
keine derartigen törichten Geräte.«
»Kannst du denn mit deiner Zauberei zu jemandem
Kontakt aufnehmen?«
»Natürlich.«
Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung. »Gott sei Dank!
Pass auf, du musst Cezar mitteilen, dass …«
»Warte, Anna«, unterbrach Levet sie und legte seine
kleine Schnauze in Falten. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine
so gute Idee wäre.«
Anna zählte bis zehn. Sie steckten mitten im
Nirgendwo fest, und er wollte keinen Kontakt zu jemandem aufnehmen,
der sie holte? »Warum nicht?«
»Ich kommuniziere durch Portale.«
Annas Hoffnung erstarb von einer Sekunde auf die
andere. »Ach so.« Sie nickte verzagt. »Ja, ich glaube, wir sollten
Portale für eine Weile meiden.«
»Genau das denke ich ebenfalls.«
Anna hob die Hand, um leicht den Siegelring zu
berühren, der an der Kette um ihren Hals baumelte. Cezar hatte
versprochen, dass sie ihn mit diesem Ring überall finden könne,
aber leider beinhaltete er keine Gegensprechanlage. Sie blickte
sich in der weiten Leere um und seufzte tief. Im Laufe der Jahre
hatte sie genug Zeit in diversen verschlafenen
Orten im Mittleren Westen verbracht, um zu erkennen, dass sie
wahrscheinlich kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt waren.
»Dann sieht es wohl so aus, als ob wir irgendeinen freundlichen
Bauern finden müssen, der uns sein Telefon benutzen lässt.«
»Äh …« Levet rieb sich eins seiner Hörner.
»Eigentlich benötige ich eher einen Ort, um mich zu
verstecken.«
»Kann Morgana uns finden?«
Er zuckte die Achseln und warf einen Blick auf das
rötliche Glühen am Rand des Horizontes. »Keine Ahnung, aber bald
wird die Sonne aufgehen.«
»Schadet dir das?«
»Ich bin ein Gargyle,Anna«, erwiderte er, als sei
sie etwas beschränkt. »Wenn die Strahlen der Sonne meine Haut
berühren, verwandle ich mich in eine Statue.«
»Aha.« Anna, die sich wie eine Idiotin vorkam, nahm
noch einmal ihre Umgebung in Augenschein, fand aber nichts bis auf
ein verfallenes Haus samt Stall in ihrer Nähe. »Wie sieht es mit
dem Stall aus?«, schlug sie vor.
Er schlug einmal heftig mit den hauchdünnen
Flügeln. »Ein Stall? Bin ich eine Kuh?«
»Meine Güte, Levet!« Sie stemmte die Hände in die
Hüften. »Dann such doch einen besseren Platz!«
Levet drehte sich einmal um sich selbst und
murmelte dann: »Ich nehme an, der Stall wird fürs Erste
genügen.«
»Dann lass uns gehen.«
Gemeinsam stolperten sie über das unebene Feld.
Annas Körper protestierte bei jedem Schritt. Sich aus einem Portal
katapultieren zu lassen war offensichtlich etwas, das man vermeiden
sollte, wenn einem seine Gesundheit lieb war. Sie fiel über einen
losen Erdklumpen und stöhnte, als sie sich wieder
aufrappelte.
Levets kleine Hand griff nach ihr, um an ihrem
Sweatshirt zu ziehen. »Anna, wir müssen uns beeilen!«
Mit einem erschöpften Lächeln ergriff sie seine
kalten Finger und zog ihn durch eine Lücke in dem durchhängenden
Zaun. Von da an kämpften sie mit dem Unkraut und den
Brombeersträuchern, die die Vorherrschaft über den Vorgarten
übernommen hatten. Schließlich erreichten sie die Stalltür, die zum
Glück noch intakt war. Anna öffnete sie und führte den erschöpften
Gargylen durch den schmutzigen Raum in die hinterste dunkle
Ecke.
Der Stall war fast leer. Es gab noch einige
verrostete Erntegeräte, die überall auf dem Boden verstreut waren,
und einen Stapel alter Zeitungen, der allmählich von Mäusen zernagt
wurde. Wer auch immer diese abgelegene Farm sein Zuhause genannt
hatte, hatte sie schon vor langer Zeit für grünere Weiden
verlassen.
»Hier«, sagte Anna und schob einen vergessenen
Heuballen beiseite, um Levet in einer schmalen Box zu verstecken.
Der Gargyle würde zumindest vor zufälligen Blicken geschützt sein,
auch wenn er immer noch leicht zu entdecken wäre, wenn jemand den
Stall gründlicher absuchte. Wo waren bloß all diese verdammten
Vampirtunnel, wenn man sie mal brauchte?
Als Anna sich gerade einen eigenen Ort zum
Verstecken suchen wollte, wurde sie von Levet aufgehalten, der sie
an ihrem Sweatshirtärmel festhielt.
»Anna …«
»Ja?«
»Sobald die Sonne aufgeht, werde ich nicht mehr in
der Lage sein, dir zu helfen. Wenn irgendetwas passiert, musst du
fortlaufen und mich zurücklassen.« Er ließ sie los und griff nach
einem vereinzelten Nagel, der in einer Bretterwand
zurückgelassen worden war. Damit ritzte er etwas in den Boden.
»Das ist Darcys Nummer. Du solltest sie sofort anrufen, sobald du
ein Telefon findest.«
Anna drückte den Rücken durch. »Ich verlasse dich
nicht, Levet.«
»Du musst! Mir kann niemand etwas anhaben, während
ich meine Statuengestalt habe.«
Das schien Anna äußerst praktisch. Insbesondere,
wenn Morgana sich für eine Zugabe entschied. »Überhaupt
nichts?«
Levet antwortete nicht, sondern warf einen Blick zu
dem kleinen Fenster, in dem sich der Tag mit blassrosa Dämmern
ankündigte. »Anna - tut mir leid.«
Sie taumelte zurück, als der winzige Körper zu
glühen begann und sich dann direkt vor ihren Augen zu Stein
verhärtete.
Eigentlich hätte sie langsam an derart skurrile
Dinge gewöhnt sein sollen. Davon hatte es in den vergangenen Tagen
weiß Gott genug gegeben. Aber der Anblick des Gargylen, der sich
von einem Lebewesen so mir nichts dir nichts in einen Brocken
Granit verwandelte, ging weit über das hinaus, was sie bereit war,
mit anzusehen. Sie stürmte aus der Box und hielt nur so lange inne,
bis sie den Heuballen vor die Öffnung geschoben hatte. Dann
durchquerte sie den Stall und kletterte die wackelige Leiter zum
Heuboden hinauf.
Die Balken waren hier so niedrig, dass es einfacher
war, auf Händen und Knien zu kriechen, als zu riskieren, sich den
Kopf anzuschlagen. Sie testete vorsichtig die verzogenen Bretter
mit dem noch spärlich vorhandenen Stroh darauf, bevor sie sie mit
ihrem vollen Körpergewicht belastete. Dann kroch sie langsam in den
hinteren Teil des
Heubodens und öffnete die kleine Luke, die einen weiten Blick auf
die Umgebung bot.
Von hier aus war sie imstande, alles im Auge zu
behalten, das sich ihr näherte.
Was zur Hölle sie tun sollte, wenn der Stall
tatsächlich angegriffen würde, war eine vollkommen andere
Sache.