KAPITEL 2
London, 1814
 
Anna schrie leise auf, als sie in die dunkle Schlafkammer gezogen und die Tür hinter ihr zugeschlagen wurde.
»Suchst du etwas, querida?« Eine sanfte Stimme schwebte in der Nachtluft. Sie hatte einen Akzent und jagte Anna einen eigenartigen Schauder über den Rücken. »Oder etwa jemanden?«
»Conde Cezar?«
»Ja, ich bin es.«
Anna taumelte nach hinten, bis sie gegen eine Wand stieß, und verfluchte ihr verdammenswertes Pech. Wie zur Hölle konnte es geschehen, dass sie etwas so Einfaches vermasselte wie das Bewachen ihrer Cousine? Sie hatte nicht nur keine Ahnung, wohin Morgana verschwunden war, sondern es war ihr auch gelungen, sich von dem einzigen Mann erwischen zu lassen, der sie in einer Weise beunruhigte, die sie nicht vollständig begriff.
»Sie … Sie haben mich erschreckt. Mir war nicht bewusst, dass jemand hier war.«
»Nein?« Eine Kerzenflamme loderte auf, und der unglaublich gut aussehende Herr kam zum Vorschein. Er ging auf sie zu und blieb dann direkt vor ihr stehen. »Dann bist du mir nicht absichtlich vom Ballsaal hierher gefolgt?«
Eine Röte stieg Anna in die Wangen, die ebenso sehr von seiner Nähe herrührte wie von ihrer Verlegenheit.Trotz der Tatsache, dass sie bereits ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hatte ihr noch niemals ein vornehmer Herr solche Aufmerksamkeit gezollt. Das war einfach … wunderbar.
»Selbstverständlich nicht. Ich … ich suchte nach einem Dienstmädchen, das mir dabei helfen soll, einen Riss in meinem Saum zu flicken.«
»Also schleichst du nicht nur herum, sondern lügst auch noch.« Ohne Vorwarnung legte er seine Hände gegen die Wand, eine auf jeder Seite ihres Kopfes, wodurch sie in der Falle saß. »Das sind wohl kaum anziehende Eigenschaften bei einer jungen Dame. Es ist kein Wunder, dass du dich nur in dunklen Ecken wiederfindest, während die anderen Damen sich in den Armen gut aussehender Bewerber vergnügen.«
Sie sog scharf die Luft ein und wünschte sich sofort, dies nicht getan zu haben, da nun ihre Sinne von seinem Sandelholzduft benebelt wurden. »Wie können Sie es wagen?«
Er lachte leise und senkte dann schamlos den Kopf, um seine Wange an der ihren zu reiben. »Einfach so.«
Lieber Gott im Himmel! Anna erbebte, ihr ganzer Körper reagierte auf seine Berührung. Was geschah mit ihr? Weshalb fühlte sich ihr Magen an, als sei er voller Schmetterlinge? Und weshalb schlug ihr Herz so heftig gegen ihre Rippen, als wolle es ihren Brustkorb verlassen? »Ich bin keine Lügnerin.«
Seine Lippen berührten eine Stelle direkt unter ihrem Ohr. »Dann gestehe, dass du mir gefolgt bist.«
Ein Wimmern kam Anna über die Lippen, bevor sie den Rest ihrer erschütterten Selbstbeherrschung zusammenzuraffen versuchte. »Na schön. Ich bin Ihnen gefolgt.«
Er drückte seinen Mund gegen ihre Kehle, beinahe so, als koste er von ihr. »Weshalb?«
Anna musste sich anstrengen, um klar denken zu können. »Weil meine Tante mir die Aufgabe übertragen hat, ein wachsames Auge auf meine Cousine zu haben, und als ich bemerkte, dass Sie nur wenige Augenblicke aus dem Ballsaal schlichen, nachdem sie behauptet hatte, sich einen Moment entschuldigen zu müssen, befürchtete ich, dass Sie beide eine Zusammenkunft arrangiert hätten.« Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, als er eine besonders sensible Stelle entdeckte. Ihr wurde bewusst, dass seine Hände die Wand verlassen hatten, um jetzt an den Bändern am Rückenteil ihres Kleides zu ziehen, und sie zwang sich, sich protestierend zu versteifen. »Und zu Ihrer Information: Ich verweile in den dunklen Ecken, weil das von armen Verwandten erwartet wird.«
»Ah, die graue Maus verfügt also über Zähne«, spottete er und zwickte sie leicht.
Anna krallte die Finger in ihr Kleid, um sie unter Kontrolle zu bekommen, während er sie unaufhörlich mit winzigen Küssen bedeckte. »Ich bin keine Maus.«
»Da hast du wohl recht.« Er wich ein Stück zurück, um ihr gerötetes Antlitz zu betrachten, und zupfte mit den Fingern an dem Mieder ihres Kleides, um das enge Korsett darunter zu enthüllen. »Du, querida, bist viel eher eine Spitzmaus.«
Anna bemerkte die Kränkung nicht. Das war wohl auch nicht weiter verwunderlich. Sie befand sich allein und halb nackt mit einem fremden Mann in einem Schlafgemach, und obgleich ihr Verstand ihr sagte, sie solle erschrocken sein, zitterte ihr Körper, als ob er von einem Fieber geschüttelt würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie von einem Herrn verführt. Und sie war hilflos gegen diese steigende Flut der Leidenschaft. »Es ist offensichtlich, dass Morgana nicht hier ist«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Ich muss in den Ballsaal zurückkehren.«
»Befürchtest du, dass deine Abwesenheit entdeckt werden könnte? Dass du möglicherweise den Ruf deiner Cousine gerettet haben könntest, aber den eigenen geopfert hast?«
»Dort gibt es niemanden, der bemerkt, ob ich abwesend bin oder nicht.«
Etwas Finsteres und Machtvolles blitzte in den dunklen Augen auf. »Gefährliche Worte sprichst du da«, wisperte der Mann.
Anna gab einen erstickten Schrei von sich, als ihr Kleid zu Boden fiel und er die Hand ausstreckte, um ihr die Spitzenhaube vom Kopf zu nehmen. »Mylord …«
Er stöhnte auf, als ihr das Haar über den Rücken fiel, und seine Finger strichen rastlos durch die dichten Strähnen.»Solch wunderschönes Haar, wenn es nicht unter dieser hässlichen Haube verborgen ist! Die Farbe von frisch geschleudertem Honig.« Er zog an ihren Locken, damit sie ihren Kopf in den Nacken legte und er sein Gesicht in der Wölbung ihres Halses vergraben konnte. »Du riechst nach süßen Feigen. Wonach wirst du wohl schmecken?«
»Gott«, wisperte sie, als er erneut die Arme um sie schlang und sie spürte, wie ihr das Korsett vom Körper gerissen wurde, gefolgt von ihrem dünnen Unterkleid. Nun trug sie nichts mehr außer ihren Strümpfen und ihren hochhackigen Schuhen.
»Du hättest mir nicht folgen sollen,Anna. Ich hatte bereits eine andere, die begierig darauf war, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Doch du bist in das Spiel eingedrungen, und nun musst du ihren Platz einnehmen.«
»Nein.« Ihre Hände hoben sich, um sich gegen seine Brust zu drücken. Oder zumindest war das ihre Absicht gewesen. Es war nicht ihre Schuld, dass sie stattdessen unter seinen Mantel glitten, um über das feine Leinen seines Hemdes zu streichen. »Lassen Sie mich, sonst …«
Er ließ seinen Mund über ihr Schlüsselbein und über den Ansatz ihrer Brüste gleiten. »Sonst was, meine schöne Beute?«
Großer Gott, sie war nicht mehr in der Lage zu denken, denn eine ungemeine Lust wirbelte durch ihren Körper. In Wahrheit wollte sie auch gar nicht denken, sondern diese Lust voll und ganz auskosten. Sie wollte in seiner Berührung ertrinken, in der Zartheit seiner Lippen, die jetzt sanft an ihrer harten Brustwarze sogen, in dem Sandelholzgeruch, der ihre Knie weich werden und Schweiß auf ihren Handflächen entstehen ließ. »Ich … ich werde schreien«, murmelte sie.
Er lachte leise über ihre absurde Drohung. Schließlich zerrte sie an seinem Hemd, um endlich die vollkommen glatte Haut darunter spüren zu können.
»Ich glaube nicht, dass du schreien wirst, querida.« Mit einer geschmeidigen Bewegung hob er Anna hoch und schlang ihre Beine um seine Taille. In seinen dunklen Augen glühte schelmische Belustigung. »Es sei denn, du schreist vor Vergnügen.«
»Oh …«, hauchte sie.
Er hielt inne und hob eine Hand, um sie um ihre Wange zu legen. »Du bist mein, Anna Randal. Von dieser Nacht an wirst du mir gehören.«
Anna holte erschrocken Luft, als sie sah, wie sich seine Eckzähne in Fänge verwandelten. Lieber Gott, er würde … Ihre Gedanken zerstreuten sich, als er den Kopf senkte, und sie spürte, wie seine Fangzähne mit Leichtigkeit durch ihre Haut drangen. Sie fühlte keinen Schmerz, nichts außer einer berauschenden, überwältigenden Begierde, die dafür sorgte, dass sie sich unter ihm wand. »Bitte …«, stöhnte sie, und ihre Finger glitten durch sein dunkles Haar, als sie ihn anflehte, sie aus ihrem Elend zu befreien. »Bitte!«
»Si, si«, flüsterte er und drückte sie gegen die Wand, um sie in Position zu bringen und dann langsam mit seinem Penis tief in ihren sehnsuchtsvollen Körper einzudringen. Es war ein absolut überwältigendes Gefühl. Mit einem erstickten Keuchen bewegte er seine Hüften aufwärts, und seine Finger umfassten ihre Hüften so fest, dass sie wusste, er würde auf ihrer zarten Haut blaue Flecken hinterlassen. Aber das war etwas, worüber sie sich morgen Gedanken machen konnte. Heute Nacht zählte nichts außer Conde Cezar.
 
Cezar hätte kein Vampir sein müssen, um die Anspannung zu spüren, die Annas zierlichen Körper in Besitz genommen hatte, oder um zu vermuten, dass sie ihn absichtlich in ihr Hotelzimmer lockte - zu einem anderen Zweck als körperliche Nähe. Obgleich er dagegen nichts einzuwenden gehabt hätte. Es war hundertfünfundneunzig Jahre her, seit sein Körper auf eine Frau reagiert hatte. Nichts war mehr geschehen, seit er dieser Frau ihre Unschuld geraubt hatte und die Orakel eingetroffen waren, um ihn aus London fortzuholen. Nun stöhnte er unter der Mühe, die es ihn kostete, nicht die Hand auszustrecken und diese weiche, seidige Haut zu berühren. Dieses köstliche, frische Blut zu schmecken, das durch ihre Adern strömte. Darin zu ertrinken …
Als ob sie plötzlich den Hunger spürte, der auf einmal in seinem Körper tobte, schloss Anna die Tür auf und trat rasch über die Schwelle. Als sie sich umdrehte, um ihn anzusehen, bemühte sie sich, gelassen und entspannt zu wirken. Diese Anstrengung wurde jedoch durch ihren Puls vernichtet, der wie ein Schmetterling auf Amphetaminen an ihrer Kehle flatterte und hämmerte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie ihre silberne Handtasche umklammerte, als enthielte diese die Kronjuwelen der Königin von England. Oder einen Holzpflock …»Kommen Sie herein?«, fragte sie und biss sich auf die Unterlippe. »Oder brauchen Sie eine Extraeinladung?«
Er lehnte sich mit der Schulter gegen den Türpfosten und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht bei einem Hotelzimmer. Ich gehöre lediglich zu der Sorte, die von Natur aus vorsichtig ist.«
»Sind Sie nicht unsterblich?«
»Unsterblich in dem Sinn, dass ich nicht an Krankheiten oder Altersschwäche sterben kann, aber Vampire können getötet werden.«
»Und wie?«
Er lachte verhalten. »Du kannst ja wohl nicht erwarten, dass ich auf diese Frage antworte.«
»Warum denn nicht?«
»Das fällt unter die Kategorie ›von Natur aus vorsichtig‹.«
»Na schön.« In ihren haselnussbraunen Augen blitzte Verärgerung auf, dann drehte Anna sich um und trat in die Mitte des Hotelzimmers. Mit dem Geschick einer geschulten Kurtisane beugte sie sich nach vorn und bot so einen überwältigenden Blick auf ihren perfekten Po. »Wenn Sie die ganze Nacht im Gang stehen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich will aus diesen höllischen Pumps raus. Die haben mir schon den ganzen Abend die Zehen eingequetscht.«
»Verdammt …« Das war der offensichtlichste Köder, der Cezar je hingeworfen worden war. Ebenso gut hätte sie ein leuchtendes Neonschild, das rhythmisch »Nimm mich!« blinkte, aufhängen können. Cezar jedoch war ein Vampir, der sich das Vergnügen der Lust seit beinahe zwei Jahrhunderten nicht mehr gegönnt hatte. Er würde für eine Kostprobe dieser Frau jede Falle riskieren, jedes Risiko eingehen. »Das ist eine Versuchung, der ich nicht widerstehen kann«, gab er zurück, trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Als sie hörte, wie das Türschloss einrastete, wirbelte Anna mit erstaunlicher Schnelligkeit herum. Cezar sah das Silber aufblitzen, als sie sich mit einem Paar Handschellen auf ihn stürzte. Er hätte ihnen ausweichen können, als sie um seine Handgelenke einrasteten. Ein einziger Schlag von ihm hätte Anna und ihre verdammungswürdigen Folterinstrumente durch das Zimmer schleudern können. Stattdessen ließ er sie in dem Glauben, es sei ihr gelungen, ihn zu überwältigen. Die Handschellen brannten auf seiner Haut, aber sie waren nicht speziell angefertigt worden, um einen Vampir gefangen zu halten, und es waren genügend andere Metalle unter das Silber gemischt, um seine Wirksamkeit abzuschwächen. Außerdem war Cezars Widerstandsfähigkeit gegen Silber höher als die der meisten anderen Vampire. Er konnte sich selbst befreien, falls nötig. Und wenn Anna sich auf diese Weise sicherer fühlte … nun, dann würde er mitspielen.Vorerst.
Anna stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn mit einem selbstgefälligen Lächeln an. »Ha.«
»Ha?« Cezar zog spöttisch die Brauen hoch. »Du klingst wie ein Schurke in einem Schundroman. Hast du die Absicht, mich auf die nächstliegenden Bahngeleise zu werfen, während ich um Hilfe rufe?«
»Meine Absicht ist, einige längst überfällige Antworten zu bekommen.«
»Es besteht keine Notwendigkeit, mich meiner Freiheit zu berauben. Zugegeben, es könnte unter den richtigen Umständen Vergnügen bereiten, aber können wir uns nicht einfach setzen und uns unterhalten wie normale Menschen?«
»Aber wir sind nicht normal, oder, Cezar?«
»Das ist deine Meinung, querida.« Er fauchte, als sich die Handschellen an seinen Handgelenken bewegten.
Anna versuchte ihren Rambo-Modus beizubehalten, aber Cezar entging nicht, dass sie leicht zusammenzuckte. Selbst zwei Jahrhunderten war es nicht gelungen, ihr viel zu weiches Herz abzuhärten.
»Tut es weh?«, fragte sie.
Cezar hielt seine Handgelenke in die Höhe, um die Blasen zu zeigen, die seine Haut bereits verunzierten. »Es verbrennt mein Fleisch, was denkst du denn?«
Sie schluckte. »Sagen Sie mir, was Sie mir angetan haben, dann lasse ich Sie frei.«
»Anna, ich habe dir nichts angetan.«
»Ich weiß, ich bin keine Vampirin, aber offensichtlich hat Ihr Biss mich in etwas verwandelt …« Ihre Worte verklangen, während sie die Hand hob und gegen ihren Hals presste. Es war genau die Stelle, an der er vor all diesen Jahren ihr Blut getrunken hatte, das erkannte er, während eine besitzergreifende Begierde in ihm aufflackerte. »Etwas?«
»Etwas Seltsames.« Sie funkelte ihn an, und es wurde deutlich, dass sie ausschließlich ihn für ihre Andersartigkeit verantwortlich machte. »Sagen Sie mir, was mit mir nicht stimmt!«
»Mit dir stimmt alles, querida. Tatsächlich bist du nichts weniger als vollkommen.« Er hob seine gefesselten Hände. »Nun, abgesehen von einem Handschellenfetisch. Nächstes Mal werden wir Leder und Peitschen verwenden.«
»Lenken Sie nicht ab, Cezar! Etwas ist damals passiert.« Sie sah ihn verwirrt an. »Alles … hat sich verändert.«
Cezar lächelte über ihren unheilvollen Tonfall. Nahezu jeder würde die Entdeckung, unsterblich zu sein, als einen Glücksfall betrachten und nicht als einen Schicksalsschlag. »Was hat sich verändert?«
»Verdammt, das ist nicht witzig!«
»Anna, ich necke dich nicht«, beschwichtigte er sie. »Erzähl mir, was geschah, nachdem ich dich in jener Nacht verlassen hatte.«
Sie umschlang sich selbst mit den Armen, als fröstele sie plötzlich. »Nachdem wir …«
»Uns geliebt hatten?«, soufflierte er, als sie ins Stocken geriet.
»Nachdem wir Sex gehabt hatten«, korrigierte sie ihn, »bin ich eingeschlafen und erst aufgewacht, als es fast schon Morgen war. Ich hatte keine andere Wahl, als aus dem Fenster zu klettern und ins Haus meiner Tante zurückzuschleichen. Als ich da ankam …« Erneut verstummte sie, aber dieses Mal war es keine Verlegenheit, sondern ein uralter Schmerz, der sie plötzlich in seiner Gewalt hatte.
»Was war da, Anna?«, half er sanft nach. Er machte sich nicht die Mühe, den Versuch zu unternehmen, sie in seinen Bann zu ziehen. Als künftiges Orakel war sie wahrscheinlich immun gegenüber solchen Gedankenmanipulationen. »Sag es mir.«
»Das Haus war bis auf die Grundmauern abgebrannt«, zwang sie schließlich die Worte über ihre Lippen. »Zusammen mit meinen einzigen Familienangehörigen. Ich blieb allein zurück, ohne ein Zuhause und ohne jemanden, an den ich mich wenden konnte.«
»Dios!Wie ist das geschehen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Sein Gesicht nahm einen undurchdringlichen Ausdruck an, als ihm die Erkenntnis kam, dass die Orakel Annas Schwierigkeiten absichtlich vor ihm geheim gehalten hatten. Wenn sie nicht eingeschritten wären, hätte er Annas Not sicher gespürt. »Was hast du dann getan?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihr honigfarbenes Haar streifte über ihre nackten Schultern und erfüllte die Luft mit seinem bezaubernden Duft. Cezar erbebte, und seine Fangzähne sehnten sich nach einer Kostprobe. Der einzige Grund dafür, dass er der Versuchung widerstand, war die Erinnerung an das, was beim letzten Mal geschehen war, als er das Blut dieser Frau getrunken hatte. Er mochte nicht der klügste Vampir auf Erden sein, aber gelegentlich lernte er aus seinen Fehlern.
»Ich habe den Ausweg des Feiglings gewählt.« Annas Stimme klang verbittert, als sie sich in ihren Erinnerungen verlor. »Ich habe mich in den Büschen versteckt und ließ alle glauben, dass ich zusammen mit meiner Tante und meiner Cousine verbrannt wäre.«
»Weshalb?«
»Weil ich Angst hatte.«
»Angst wovor?«, drängte er sie, ernsthaft neugierig. Die Orakel waren nur mäßig mitteilsam, und obgleich sie enthüllt hatten, dass diese Frau geboren war, um eine der ihren zu werden, hatten sie kaum mehr erklärt. Sie konnte kein Mensch sein. Ihre Unsterblichkeit war der Beweis dafür. Und er konnte kein Dämonenblut in ihren Adern erkennen. Darüber hinaus hatte sie offenbar keine Ahnung von ihren Kräften. So blieb die ganze Angelegenheit im Dunkeln. Er wollte unbedingt Licht in die Sache bringen, bevor Anna von der Kommission geholt wurde.
»Ich weiß es nicht.« Sie zögerte. »Es war, als ob eine Stimme in meinem Hinterkopf mir einflüstern würde, ich sollte fliehen. Jetzt wirkt das lächerlich, aber damals war ich überzeugt, dass ich sterben würde, wenn ich aus dem Gebüsch käme.«
Eine Vorahnung? Die natürliche Fähigkeit, Gefahr zu spüren? Reines Glück? Dios. Die Liste der Möglichkeiten schien endlos. Er sah sie an und hielt ihren Blick mit dem seinen fest. »Das ist überhaupt nicht lächerlich, Anna.«
»Natürlich war mir damals nicht klar, dass Sie mich in irgendein Monster verwandelt hatten, das nicht sterben kann.«
Er lachte leise über ihren jetzt wütenden Gesichtsausdruck. »Ich habe dich nicht unsterblich gemacht, querida. Meine einzige Methode, das zu tun, bestünde darin, dich in eine Vampirin zu verwandeln, und da ich jeden reizenden Quadratzentimeter von dir im Spiegel erkennen kann und du über etwas verfügst, was ich nur als entzückende Sonnenbräune bezeichnen kann, ist es offensichtlich, dass du keine von uns bist.«
Doch Anna war nicht zufrieden. Ganz eindeutig wollte sie jemanden haben, dem sie die Schuld zuweisen konnte. Und dieser Jemand war Cezar. »Dann haben Sie mich mit einem Zauber belegt!«
»Vampire können nicht zaubern.«
»Dann …«
Cezar, der es langsam satthatte, den Sündenbock zu spielen, trat einen Schritt auf sie zu. Sie waren allein in einem Hotelzimmer, und er wollte keine Zeit damit vergeuden, der ewige Feind zu sein. Nicht, wenn sie den gewaltigen, brüllenden Hunger stillen konnten, der nun endlich zurückgekehrt war. »Anna, deine Unsterblichkeit hat nichts mit meinem Biss oder irgendeinem Zauber zu tun.« Seine Stimme nahm vor Verlangen einen heiseren Ton an. »Du wurdest als etwas Besonderes geboren.«
»Als etwas Besonderes?« Sie wich instinktiv zurück, als sie seine dunkle Begierde spürte. »Ein Soufflé backen zu können, das tatsächlich aufgeht, ist etwas Besonderes. Die amerikanische Nationalhymne richtig singen zu können, ist etwas Besonderes. Durch die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen zu kommen, ohne den Metalldetektor auszulösen, ist etwas Besonderes. Ich bin verdammt noch mal mehr als etwas Besonderes!« Unvermittelt versteifte sie sich und wandte das Gesicht zur Tür. »Mist.«
Cezar war augenblicklich in Alarmbereitschaft. »Was ist los?«
»Riechen Sie das?«
Cezar schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Wahrnehmung. Es war sehr schwach, aber unverkennbar. »Rauch.« Das Wort klang aus seinem Mund wie ein Fluch. Vampire und Feuer vertrugen sich nicht sonderlich gut miteinander. »Wir müssen hier verschwinden!«, befahl er und streckte seine Arme aus, die noch immer gefesselt waren. Er hätte sich selbst befreien können, aber zog es vor, dieses kleine Detail für sich zu behalten. »Anna, befreie mich, sonst werden wir beide sterben.«
Anna murmelte einige Flüche vor sich hin, während sie den Schlüssel in das Schloss der Handschellen gleiten ließ, die mit einem dumpfen Schlag auf den Boden fielen.
Cezar rieb sich geistesabwesend die mit Blasen übersäten Handgelenke und spürte mit seinen Kräften nach der Gefahr. Seine Fangzähne verlängerten sich, als ihm bewusst wurde, dass das Feuer nicht nur nahe war, sondern von magischer Beschaffenheit. Dies war ein vorsätzlicher Angriff auf Anna. »Das Feuer befindet sich direkt vor der Tür«, warnte er sie und bewegte sich reflexartig auf sie zu, um sie auf seinen Armen hinauszutragen. Die Orakel hatten ihm den Auftrag erteilt, diese Frau zu beschützen, doch selbst wenn nicht, wäre er durch die Abgründe der Hölle gegangen, um sie in Sicherheit zu bringen. Außerdem gab es zwischen ihnen noch eine unerledigte Angelegenheit. Eine Angelegenheit, die ihn selbst jetzt hart werden ließ und in ihm die verzweifelte Sehnsucht weckte, tief in sie einzudringen.
»Halt!« Sie schlug ihm mit der Faust gegen die Brust. Als ob ihn das wirklich verletzen könne … »Was machen Sie da?«
Er brachte das Fenster durch Willenskraft dazu, sich zu öffnen, während er durch den Raum stürmte. »Ich sorge dafür, dass wir hier verschwinden können! Es sei denn, du ziehst es vor zu bleiben und deinen wunderschönen Körper den Flammen zu opfern.«
»Die Sprinkleranlage wird es löschen!«
»Nicht dieses Feuer! Es ist magisch, und das ist auch die Erklärung dafür, dass ich es nicht gleich spürte, als es begann.«
»Ein magisches Feuer? Um Gottes willen …« Annas Worte wurden zu einem schrillen Schreien, als Cezar mit ihr durch das Fenster sprang und sie auf die Michigan Avenue zustürzten. Mit einer Geschicklichkeit, die nur ein uralter Vampir zustande brachte, landete er mühelos auf den Beinen, während er sie noch immer fest in den Armen hielt. Er wurde mit einem erneuten Schlag gegen seinen Brustkorb belohnt.
»Himmel«, zischte Anna. »Sie haben mir einen Mordsschrecken eingejagt!«
»Hättest du es vorgezogen, in einem brennenden Zimmer zu bleiben?«
Sie zupfte an dem Saum ihres Kleides, der nach oben gerutscht war und einen winzigen rosafarbenen Tanga aufblitzen ließ. Cezars Erektion zuckte in stummem Tribut.
»Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich das nächste Mal warnen würden, bevor Sie aus einem zwölfstöckigen Gebäude springen«, erwiderte sie.
Er lachte, und sein Körper kribbelte vor Verlangen. Mi dios. Es war so lange her, seit er solche Gefühle empfunden hatte. Schon so lange war er in seiner kalten Existenz gefangen. »Nächstes Mal werde ich das tun, versprochen«, meinte er und ließ seine Lippen über ihre warme Wange gleiten.
Sie entzog sich seiner Berührung. Ihr stummer Rückzug kam jedoch kaum gegen ihre Leidenschaft an. Ach, Hormone … Sie waren eine wunderbare Sache.
»Es wird kein nächstes Mal geben!« Sie untermauerte ihre Behauptung mit einem weiteren Hieb gegen seine Brust. »Ich brauche niemanden, der mich rettet, weder Sie noch sonst jemanden.«
Er berührte mit der Zunge ihren wilden Pulsschlag, der an ihrem Hals pochte. »Du hast dich verändert, meine kleine Spitzmaus.«
»Ich hatte kaum eine andere Wahl.«
Cezar verstärkte seinen Griff. Diese verdammten Orakel! Sie hatten ihn genau in dem Moment abberufen, als diese verletzliche Frau ihn am nötigsten gebraucht hatte. »Nun, ich nehme an, das entspricht der Wahrheit.« Seine Berührung war beruhigend, als er mit seinen Lippen über ihr Schlüsselbein streifte und stumm ihren berauschenden Duft in sich aufnahm. Schließlich gelang es dem fernen Klang von Feuerwehrsirenen, Cezar dazu zu bringen, den Kopf zu heben. »Wir müssen hier verschwinden, bevor man entdeckt, dass du dich nicht länger in deinem Zimmer befindest.«
»Warten Sie …«
Er ignorierte ihren Protest und lief mit Anna auf den Armen die fast leere Straße entlang. Bald würde es hier nur so von Menschen wimmeln. Sie waren sonderbar besessen von Katastrophen. Und ein Feuer, das in einem Luxushotel ausgebrochen war, in dem sich die gesamte High Society von Chicago traf, erfüllte zweifelsohne die notwendigen Voraussetzungen für eine Katastrophe. »Es tut mir leid, querida, aber ich habe keine Zeit für Diskussionen.«
Sie wehrte sich gegen seinen Griff. »Lassen Sie mich runter!«
»Erst, wenn wir uns weit genug entfernt haben. Jemand möchte dich tot sehen, und ich habe nicht die Absicht, ihm diese Genugtuung zu gönnen.«
Sie wurde still, verblüfft durch seine unverblümten Worte. »Warum?«
»Warum was?«
»Warum ist es Ihnen nicht egal, ob ich lebe oder tot bin?«
Er blickte ihr in die wachsamen haselnussbraunen Augen, und mit einem Mal überkam ihn reiner männlicher Besitzerstolz. »Vor hundertfünfundneunzig Jahren sagte ich dir, dass du mir gehörst, Anna Randal«, knurrte er. »Niemandem ist es erlaubt, dir zu schaden!«