32

Simon

Der Kuss ist intensiv, zärtlich, leidenschaftlich. Aber vor allem wischt er alle Zweifel weg, die ich in letzter Zeit verspürt habe. Wie konnte ich nur unsere Liebe in Frage stellen? Manchmal bin ich wirklich ein Idiot.

Nachdem sich unsere Lippen voneinander gelöst haben, schaue ich ihr in die Augen und entdecke darin die reinste Zuneigung. Sanft streichle ich ihr Gesicht.

»Da bin ich endlich«, bestätige ich.

»Ich habe dich vermisst«, flüstert sie.

»Nicht so sehr wie ich dich.« Ich trete einen Schritt nach hinten und mustere sie von oben bis unten.

»Was ist?«, fragt sie verunsichert.

»Du bist die schönste Frau der Welt.«

Vicky kichert vergnügt. »Spinner! Ich habe ja noch meine Arbeitskleidung an. Irgendwie war dieser Tag seltsam.«

»Extrem seltsam«, stimme ich zu. »Fürs Erste ist mein Bedarf an solchen Tagen gedeckt.«

»Das ist gut. Meiner nämlich auch.«

Ich deute in die Richtung, aus der ich gekommen bin. »Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?«

»Warum nicht.«

Hand in Hand schlendern wir los, und ich ahne, dass ich mich nicht um ein paar peinliche Geständnisse werde drücken können.

»Es tut mir leid, wie ich mich aufgeführt habe«, beginne ich stockend. »Verzeih mir.«

Vicky will zu einer Erwiderung ansetzen, doch ich rede schnell weiter.

»Anfangs habe ich dir nichts von dem Test erzählt, weil ich mir ziemlich sicher war, dass es nicht an meinen Spermien liegen kann.«

»Eigentlich finde ich es süß, dass du so tapfer warst. Ich hoffe, du hattest beim Urologen wenigstens ein bisschen Spaß.«

»In der Praxis habe ich es nicht hinbekommen.«

Vicky lacht. »Allzeit bereit ist nicht dein Motto, oder?«

»Außerhalb unserer Wohnung sind die Zeiten für mich vorbei.«

»Das höre ich gern.«

»Dann kam das niederschmetternde Ergebnis. Es ist nicht schön, schwarz auf weiß zu lesen, wie unfähig die eigenen Spermien sind. Klar, eine natürliche Zeugung muss nicht ausgeschlossen sein, allerdings wäre es ein Glückstreffer. Das hat gleich zwei Ängste in mir ausgelöst: dass ich vielleicht gar nicht Tildas Vater bin, und dass du mich verlassen könntest, wenn wir kein Kind zusammen bekommen können.«

»Hast du das ernsthaft angenommen?«

An ihrer Tonlage erkenne ich, wie sehr sie das verletzt, trotzdem beschließe ich, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ja«, gestehe ich.

»Ich liebe dich«, sagt sie. »Ein gemeinsames Kind wäre toll, aber wir haben doch schon zwei fantastische Kinder. Alles Weitere wäre bloß eine Zugabe.«

Mitten auf dem Gehweg küssen wir uns erneut.

»Danke«, flüstere ich anschließend.

»Das hättest du spüren müssen«, sagt sie, und den leicht vorwurfsvollen Ton habe ich mir wohl redlich verdient.

Während wir uns der Hausnummer einundneunzig nähern, erzähle ich Vicky von Marions Tagebüchern.

»Du hast wirklich darin gelesen?«, hakt sie nach.

»Und einen hohen Preis dafür bezahlt. Ansonsten hätte ich mir einreden können, dass die Qualität meiner Spermien im Laufe der Jahre schlechter geworden ist. Stattdessen muss ich nun permanent an diesen Julius denken.«

»Du bist Tildas Vater. So oder so«, beruhigt mich Vicky. »Selbst wenn du sie nicht gezeugt haben solltest. Außerdem sieht sie dir echt ähnlich. Vom Charakter ganz zu schweigen. Ich habe keinen Zweifel daran, wer ihr Erzeuger ist.«

»Ich hoffe, du hast recht.«

»Spielst du mit dem Gedanken, einen Vaterschaftstest durchführen zu lassen?«

»Nein. Dazu bräuchte ich Marions Einverständnis, und ich will keine schlafenden Hunde wecken.«

»Wenn du dich nur einen Tag mit Tilda beobachten könntest – also, ich meine, von einer neutralen Position aus –, würden sich deine Bedenken sofort in Luft auflösen. Du bist ihr Vater. Punkt. Hör in Zukunft einfach immer auf mich, und dein Leben wird schöner sein.«

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«

Vor Glorias Erbschaft bleiben wir stehen, und ich erzähle Vicky, was ich über das Haus weiß. Da ich die Tür nicht zugezogen habe, können wir uns drinnen ein wenig umsehen.

»Gloria hat diesen Mann sehr geliebt, und eines Morgens, als sie aufgewacht ist, lag er tot neben ihr im Bett.«

»Oh Gott, ist das traurig«, sagt Vicky. »Und gleichzeitig so herzergreifend romantisch.«

Wir befinden uns mittlerweile in der oberen Etage, als sie mich an sich zieht und sagt: »Du musst mir eins versprechen.«

»Was denn?«

»Wir dürfen uns nie wieder so schlimm streiten. Zumindest müssen wir es versuchen. Deal?«

»Deal!«

Erneut küssen wir uns leidenschaftlich und sinken dabei zu Boden. Der nackte Beton ist unbequem, doch in diesem Moment würde ich mich sogar auf spitze Glasscherben legen, nur um Vicky nah zu sein. Damit sie ihren Kopf einigermaßen weich betten kann, ziehe ich mein Hemd aus, knülle es zusammen und schiebe es ihr unter den Kopf.

»Jetzt gehst du aber ran«, gurrt sie. »So schnell hast du ewig nicht mehr angefangen, dich auszuziehen.«

»Oh, so war das gar nicht gemeint. Eigentlich wollte ich bloß …«

»Wehe!« Vicky stupst mir gegen die Nase.

An ihrem Blick erkenne ich, dass es ihr wirklich ernst ist. Sie will keine Minute länger warten, um unsere Versöhnung zu besiegeln. Zumal wir zu Hause wegen der Kinder wohl erst am späten Abend Ruhe hätten. Voller Sehnsucht streicheln wir uns gegenseitig und entledigen uns rasch der übrigen Klamotten. Mit den Händen erforschen wir den Körper des anderen, als wäre es unsere Premiere. Schließlich knie ich mich zwischen ihre Beine, die sie ein Stück auseinandernimmt, küsse sie überall, und dann vereinigen wir uns. Wir geben uns völlig der Leidenschaft hin. Da keine Kinder anwesend sind, die wir versehentlich wecken könnten, lieben wir uns laut und genussvoll. Ich berühre mit den Lippen ihre Ohrläppchen, und über ihr Stöhnen hinweg flüstere ich ihr ein paar schmutzige Sachen ins Ohr. Wir steigern Tempo, Lautstärke und Lust. Vicky kommt wenige Sekunden vor mir, und angestachelt von ihrem hübschen, vor Glücksgefühl verzerrten Gesicht, stoße ich das letzte Mal tief zu, ehe ich meine langsamen Nichtschwimmerspermien auf den Weg schicke.

Erschöpft sacke ich anschließend auf ihr zusammen.

»War das schön«, flüstert sie und streichelt dabei meinen Rücken.

»Ich liebe dich so sehr, Vicky.«

»Und ich dich, Simon.«