11
Vicky
»Was schluckst du denn da schon wieder?«, frage ich Simon und unterdrücke ein Grinsen.
Er steht im Bad und wirft heimlich eine Pille ein. Dummerweise hat er vergessen, die Tür zu schließen, sodass ich ihn im Vorbeigehen erwische. Wir wollen ins Bett gehen, die Kinder schlafen bereits, und Erotik liegt in der Luft. Ich fühle mich gut. Seit Wochen denke ich zum ersten Mal weder an Babys, noch an Schulprobleme. Ich möchte einfach nur mit meinem Liebling zusammen sein.
Bei mir geht es abends im Bad schnell: Ich putze mir die Zähne, schminke mich in Windeseile ab, ziehe ein Nachthemd an, fertig. Simon hingegen hat immer viel zu tun. Er überlegt, welchen Schlafanzug er anziehen soll, verteilt die Zahnbürsten in die farblich passenden Becher, weil er der Einzige in der Familie ist, der sich dafür interessiert. Anschließend läuft er mindestens zweimal durch die komplette Wohnung, um sich zu vergewissern, dass wir auch nirgends Strom verschwenden. Und dann ist da eben dieser ausgeprägte Hang zur Hypochondrie.
»Ich nehme nur was gegen meine Hausstauballergie«, antwortet er bockig und will mit der Schulter die Tür zuschieben.
Mit dem Fuß stoppe ich den Versuch, trete hinter ihn und schlinge die Arme um seinen muskulösen, warmen Bauch. Ach, wie ich ihn liebe und begehre. Keine Ahnung, ob meine Begeisterung für diesen Mann jemals abflauen wird – ich vermute: nie. Ich finde sogar seine Marotten süß.
»Hausstauballergie, soso … Soll das heißen, dir ist es hier zu dreckig?« Ich lasse die Hände tiefer gleiten und beobachte seinen Gesichtsausdruck im Spiegel. Wie jung er aussieht, wenn er sich entspannt.
»Milben sind überall, das hat nichts mit Dreck zu tun. Was machst du da eigentlich? Willst du etwa einen sterbenskranken Kerl verführen?«
»Genau das habe ich vor«, flüstere ich.
»Auch wenn du mich für ein Weichei hältst – ich sorge mich lediglich um meine Gesundheit.« Er schließt die Augen und brummt.
»I wo, du bist doch kein Weichei. Und nun komm endlich mit.«
»Geh schon mal vor, ich muss noch schnell was holen«, sagt er, schiebt mich von sich und verlässt das Bad.
Hä? Das hat er noch nie gemacht. Seine körperliche Reaktion ist eindeutig, warum also weist er mich ab? Bin ich ihm nicht mehr sexy genug?
Hätte ich doch nur in neue Dessous investiert! Tja, dumm gelaufen, nun habe ich den Salat. Wenn er sich nicht in drei Minuten im Schlafzimmer einfindet, schnappe ich mir den Laptop und kaufe online Unterwäsche für zweihundert Euro. Mindestens.
Ratlos krieche ich ins Bett und setze mich mit dem Rücken an die Wand. Simon kommt rein, in der Hand ein Kuvert, und stellt sich feierlich in T-Shirt und Boxershorts vor mir auf.
»Gib her, was versteckst du da?«, frage ich.
»Hier, mein Liebling, das ist für dich beziehungsweise für uns. Ich hoffe, es gefällt dir.«
Begierig schaue ich in die Karte und stoße einen Freudenschrei aus. Ein Wellnesswochenende in dem Hotel, in dem wir uns kennengelernt haben!
»Wie schön, danke, ach herrlich, Liebster, womit habe ich das verdient?«, juble ich und falle ihm um den Hals.
Ich bin wirklich der größte Glückspilz unter der Sonne. Was ist er nur für ein aufmerksamer Mann!
»Wir hatten in den vergangenen Wochen einfach zu wenig Zeit für uns«, erklärt er, »da dachte ich mir, eine kleine Auszeit vom Alltag wird uns wieder näher zusammenbringen.«
Hm. Fühlt er sich mir nicht mehr nah? Ich verstehe zwar, was er meint, aber spontan übernehmen in meinem Kopf die Sorgen das Kommando. Vermutlich bin ich total durchgeknallt – anstatt mich einfach nur über die Überraschung zu freuen, wittere ich mangelnde Liebe. Das darf er mir auf keinen Fall anmerken. Ich nutze das angeborene weibliche Talent zur perfekten Schauspielerei und ersetze die Verlustangst durch Betreuungssorgen.
»Das ist unglaublich süß von dir, tausend Dank. Ganz bestimmt tut uns das gut. Ach, ich kann es kaum erwarten. Nächstes Wochenende schon … Also, wenn wir kinderfrei haben. Oh, was ist mit den Hunden? Verdammt, Simon, die können unmöglich mit.«
»Baby, ich bin nicht blöd. Jimbo und Amy werden von Gloria betreut.«
»Von Gloria?« Okay, meine Ursprungssorge wird jetzt durch eine andere ersetzt. »Nicht dein Ernst!«
»Doch. Sie hat sich anfangs etwas geziert, aber dann hat der Ostwind ihr die Erlaubnis gegeben, und schwupp, war unser Betreuungsproblem wie weggeweht.«
»Der Ostwind?«
»Du kennst ja Gloria, sie hatte ihre esoterischen Anwandlungen.«
Da war doch was … Ich mache an der Stelle weiter, wo ich im Bad unterbrochen wurde, und flüstere: »Hier gibt es höchstens erotische Anwandlungen, ist das in Ordnung für dich?«
Mein Brummbär reagiert auf seine Art.
Ich schließe die Augen und genieße seine …
»Mama! Ich kann nicht einschlafen!«
Oh Gott, mein Herz bleibt fast stehen. Ich schnappe nach Luft, winde ich mich aus Simons Umarmung und schaue über seine Schulter direkt in Luis’ Gesicht. Müde steht mein Kleiner im viel zu langen T-Shirt seines Vaters mit ›King of the Road‹-Aufdruck in der Tür und scheint nicht beeindruckt zu sein von dem, was er sieht.
»Wir haben gekuschelt«, sage ich wie zur Entschuldigung.
»Uns war kalt«, ergänzt Simon und zieht die Decke hoch.
Auch das interessiert meinen Sohn wenig.
»Darf ich bei euch schlafen?«
Er macht drei Schritte in unsere Richtung, und ich springe aus dem Bett.
»Nein, das geht nicht, weil wir noch … was besprechen müssen. Ich bringe dich wieder in dein Zimmer, mein Schatz. Komm, ich decke dich zu.«
»Früher durfte ich in dein Bett. Und Tilda durfte bei Simon ins Bett, hat sie mir selbst erzählt. Das ist unfair, immer wollt ihr was besprechen. Tilda hat gesagt, das stimmt gar nicht, ihr knutscht nämlich rum. Lügen ist verboten.«
Er redet sich in Rage, während ich ihn sanft durch den Flur bugsiere und mich redlich bemühe, ihn zu beruhigen.
»So, psst, sei bitte leise, du willst bestimmt nicht, dass Tilda aufwacht.«
»Doch, will ich.«
»Aber das ist rücksichtslos«, flüstere ich pädagogisch wertvoll.
So beiläufig wie möglich schlage ich die Bettdecke auf und befördere mein Kind darunter. »Wenn jemand schläft, den man lieb hat, sollte man ihm seinen Schlaf gönnen. Verstehst du das?«
»Hm, ja.«
Mahnend lege ich den Zeigefinger an meine Lippen. Er kuschelt sich ein und seufzt.
»Tilda könnte mich ruhig wecken, dann wäre sie trotzdem weiter meine beste Freundin.«
»Ich weiß, du bist auch ein besonders guter Freund. Nun schlaf schön. Gleich schau ich noch mal rein. Die Tür lasse ich angelehnt.«
Auf Zehenspitzen verlasse ich das Zimmer, peinlich darum bemüht, weder auf Hunde noch auf Star-Wars-Legofiguren zu treten. Jetzt werde ich hemmungslosen Sex haben, nur schnell ins Bad, den Sitz des Negligés überprüfen und …
»Simon? Simon! Och Mensch, du kannst doch jetzt nicht ernsthaft eingeschlafen sein.«
Deprimiert setze ich mich auf die Bettkante neben den Mann, der meine weiblichen Reize auch schon mal unwiderstehlicher fand. Früher wäre das nicht passiert.
»Hm?«, murmelt er und legt einen Arm auf meinen Oberschenkel. »Sorry, ich bin weggenickt.«
»Egal«, lüge ich. »Ich freu mich total auf das Hotel, danke für die Überraschung. Weißt du noch, wie bescheuert wir uns damals fanden?«
Ich muss lachen, als ich daran denke, wie er mir das erste Mal in der hoteleigenen Sauna begegnet ist. Wie ein eingebildeter Schnösel kam er mir damals vor, trotzdem fand ich ihn sofort attraktiv – auch wenn ich das natürlich niemals zugegeben hätte.
»Als könnte ich das vergessen, Baby. Du warst aber auch wirklich zickig. Und dann deine alberne Behauptung später im Fahrstuhl, ich sei schuld daran, dass er steckengeblieben ist.«
Er ist jetzt wieder hellwach, legt sich auf den Rücken und zieht mich auf sich. Sein Kuss schmeckt wie bei der Premiere, nur dass er gleichzeitig immer besser wird.
»Ich lasse mich eben nicht einfach so von jedem anmachen«, kichere ich. »Das wäre ja noch schöner.«
»Apropos schöner … du sahst umwerfend aus. Ich kann mich gut daran erinnern, wie bedauerlich ich es fand, dass eine so tolle Frau so arrogant und verbohrt sein kann.«
»Sag das noch mal«, fordere ich und drohe mit der Produktion eines Knutschflecks, indem ich mich an seinem Hals festsauge.
Wortlos packt er mich an den Handgelenken, und wir rangeln ausgelassen miteinander, bemühen uns aber, nicht allzu laut zu sein.
Umsonst bemüht.
Jimbo und Amy sind wie aus dem Nichts aufgetaucht und warten schwanzwedelnd darauf, mitspielen zu dürfen. Ihre Augen verfolgen jede unserer Bewegungen. Hätte ich doch nur die Kinderzimmertür geschlossen, verdammter Mist! Von der Schlafzimmertür ganz zu schweigen.
»Es soll wohl heute nicht sein«, stöhnt Simon. »Amy war bei der letzten Runde sowieso nicht totzukriegen, ich hab mich schon gewundert. Wollen wir ein paar Meter mit ihnen gehen, damit sie endlich Ruhe geben?«
Großartige Idee, wirklich. Inzwischen ist er hundeverrückter als ich. Man kann es auch übertreiben. Um nicht als unersättliches Sexmonster dazustehen, stimme ich gelassen zu. Möglicherweise leide ich unter einer Fehlfunktion. Wieso verspüre ich mehr Lust als er? Ich sollte meinen Hormonstatus überprüfen lassen.
»Klar, ein bisschen frische Luft kann nicht schaden, und die beiden freuen sich über den Abendbonus.«
Im Gegensatz zu mir.
Wir ziehen uns notdürftig an und trippeln zur Tür; eigentlich lassen wir die Kinder nicht gern allein, aber wegen einer zehnminütigen Abwesenheit wird uns das Jugendamt sicher nicht gleich mit Kindesentzug bestrafen.
Oder vielleicht doch.
»Papa? Wo geht ihr hin? Man darf seine Kinder nachts nicht im Stich lassen.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, gibt Tilda den Moralapostel. Sie trägt Luis’ ›Felix‹-Schlafanzug, was erklärt, warum er in Thomas’ dämlichem T-Shirt steckt, und vermutlich auch daran liegt, dass ein Junge nichts mit einem Hasen auf Weltreise zu tun haben möchte.
»Wir lassen euch doch nicht im Stich«, übernehme ich die Verteidigung. »Amy und Jimbo müssen noch einen Haufen machen. Sie standen plötzlich neben unserem Bett und haben gebettelt.«
»Dann haben sie bestimmt nur Hunger. Luis und ich kriegen Angst, wenn ihr weggeht.«
»Luis schläft längst, und du legst dich jetzt auch wieder hin«, sagt Simon in dieser Tonlage, die keinen Widerspruch duldet. Das klappt immer. Er ist unter Umständen nicht mehr der Allerpotenteste – was herauszufinden wäre –, aber definitiv der Autoritärste.
»Kann Vicky nicht ohne dich gehen? Ich habe schon soo lange nicht mehr mit dir gekuschelt, Papi.« Sie schiebt ihre Unterlippe vor, und ich traue meinen Augen kaum: Die Kleinmädchenmasche funktioniert!
Zärtlich hebt er seine Prinzessin hoch und meint: »Das stimmt zwar nicht, weil wir dauernd kuscheln, aber heute mache ich eine Ausnahme und lege mich zu dir.« Er sieht mich flehend an. »Schatz, magst du ganz kurz …? Heute ist irgendwie der Wurm drin, und mein Mädchen braucht mich. Wir sehen uns gleich wieder.«
»Kein Problem«, antworte ich schnippisch.
Das ist albern. Ich sollte nicht beleidigt sein. Simon hat mir ein großartiges Geschenk gemacht, einfach so, ohne besonderen Anlass. Er spürt wie ich, dass wir ein bisschen Zeit für uns benötigen – aus genau dem Grund, aus dem ich jetzt missmutig mit den Hunden um den Block spaziere. Ständig werden wir gestört, nie haben wir unsere Ruhe. Dass es allerdings im Bett nur mittelmäßig läuft, ist neu. Ich will gefälligst keine Beziehungskrise haben!
»Hey, du siehst irgendwie traurig aus.«
Erschrocken trete ich zur Seite und knalle fast gegen einen Laternenmast. Pascal ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und schenkt mir ein warmes Lächeln. Balsam fürs geschundene Ego. Die Hunde schnüffeln im Gras, und wir beide schauen ihnen zu.
»Ich bin nicht traurig. Nur müde.«
Schon wieder eine Lüge. Fällt aber unter Notlüge, also wird mein Karmakonto nicht belastet.
»Dann solltest du schlafen gehen, dabei vergisst man die trüben Gedanken am besten.«
Spielerisch stupst er einen Ellenbogen in meine Rippen, und ich lache auf.
»Die ich ja nicht habe, die trüben Gedanken«, sage ich. »Alles ist perfekt.«
»Prima, das freut mich. Sag mal, hast du vielleicht einen Tipp für mich, wo man hier in der Gegend gut essen kann? Nicht Schickimicki, sondern normale Küche. Ich kenne mich noch nicht gut aus, und abends fehlt mir die Muße, lange nach einem passenden Restaurant zu suchen.«
»Oh, da gibt es einiges. Ich würde an deiner Stelle mit dem Spanier anfangen. Der ist spitze und hat neben spanischen Gerichten zusätzlich ein paar deutsche Klassiker auf der Speisekarte. Weißt du, wo der ist?«
»Ich glaube ja, aber du könntest mir den Weg sicherheitshalber zeigen. Und mir Gesellschaft beim Essen leisten. Hättest du Lust? Völlig unverfänglich natürlich.« Er hebt wie zur Verteidigung die Hände und zwinkert mir dabei spitzbübisch zu.
Verlegen senke ich den Blick. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich ihn wirklich unterhaltsam finde, ginge das eindeutig zu weit. Ich liebe Simon und könnte ihn niemals hintergehen – und was er von Pascal hält, habe ich inzwischen mitgekommen.
»Sorry, da passe ich. Verstehst du bestimmt, oder?«
»Absolut. Wäre ich dein Freund, würde ich das auch nicht zulassen.«