26
Simon
Ihre Bitte, dass ich keine vorschnellen Entscheidungen treffen soll, hallt in meinem Kopf wider.
Was hat Vicky damit gemeint? Will sie diejenige sein, die den Schlussstrich zieht, oder wieso war es ihr ein Anliegen, mich um Geduld zu bitten? Ist sie eher eine Schlussmacherin als eine Verlassene? Sie hat damals die Scheidung eingereicht, weil ihr Thomas auf der Nase herumgetanzt ist. Ob sie von der Schule aus wirklich zur Arbeit fährt? Oder legt sie einen Zwischenstopp bei einer Rechtsanwältin ein?
Wobei … wir sind ja gar nicht gesetzlich liiert, sie kann die Sache einfach so beenden.
Nein! Obwohl ich total übermüdet bin und mein Gehirn nicht gerade auf Hochtouren läuft, sehe ich ein, dass es einen anderen Grund geben muss.
Ich gehe zu meinem Kaffeeautomaten und stelle eine Espressotasse unter den Ausguss. Entgegen meiner Gewohnheit wähle ich den stärksten Kaffeegrad. Die Maschine mahlt die Bohnen, kurz darauf fließt die schwarze Flüssigkeit in die Porzellantasse.
Wofür benötigt sie Zeit?
Ich nippe an dem heißen Getränk und denke fieberhaft nach. Vicky plant eindeutig etwas. Aber was?
Als die belebende Wirkung des Espressos einsetzt, fällt endlich der Groschen.
Bevor sie sich von mir trennt, will sie mit der Qualle Rücksprache halten, ob er sich zu ihr bekennt. Sagt er Ja, wird sie unsere Beziehung augenblicklich lösen. Ist sein Interesse jedoch ausschließlich sexueller Natur, wird sie wahrscheinlich von mir eine neue Chance für uns beide fordern.
Was für ein blöder Wichser! Ein Mann ohne jegliches Ehrgefühl, der eine funktionierende Partnerschaft zum Einstürzen gebracht hat. Ich hasse ihn!
Doch letztlich muss der Nachbar nur seine Wichsgriffel von ihr lassen. Sobald Vicky keine Alternative parat hat, wird sie wohl ihr Verhalten überdenken und sich bei mir entschuldigen. Dann denke ich gerne meinerseits darüber nach, ob ich ihr verzeihen kann.
Ein wenig mehr Koffein würde sicher meinen Kreislauf anregen. Noch einmal bereite ich mir einen Espresso zu. Schokolade als Ergänzung wäre jetzt nett – doch dieses Thema hatten wir ja schon letzte Nacht.
Nachdem ich die hastig leergetrunkene Tasse in die Spüle gestellt habe, gehe ich zielstrebig zur Wohnungstür.
Pasqualle – nun wirst du mich kennenlernen. Mir stiehlt niemand mein Mädchen!
Ungeduldig drücke ich die Klingel. Da mir nach zwei Sekunden noch nicht geöffnet worden ist, hämmere ich wütend gegen die Tür.
»Was soll das?«, ertönt es von innen.
»Mach endlich auf!«, brülle ich. »Oder traust du dich nicht, mir in die Augen zu sehen?« Überrascht spüre ich, dass ich zum ersten Mal seit Stunden wieder voller Elan bin. Die Zeit der Rache ist gekommen. Ich hebe die Faust und hole aus, um meiner Forderung Nachdruck zu verleihen.
Dummerweise öffnet er die Tür in diesem ungünstigen Moment. »Wieso machst du so einen Lärm?«, will er genervt wissen.
Da meine Hand ins Leere trifft, verliere ich das Gleichgewicht und stolpere ihm zwei Schritte entgegen, ehe ich unsanft von ihm aufgehalten werde. Er stößt mich rücksichtslos zurück.
»Bist du besoffen?«, fragt er spöttisch. »Um diese Uhrzeit? Arme Vicky! Mit dir hat sie ja echt einen tollen Fang gemacht.«
Der Spott in seiner Stimme bringt das Fass zum Überlaufen. Außerdem hat er mich tätlich angegriffen. Insofern habe ich das Recht, mich innerhalb einer gewissen Spanne reflexartig zu wehren. Praktischerweise ist meine rechte Hand weiterhin zur Faust geballt. Mein Sehfeld engt sich ein, und ich nehme sein Kinn ins Visier. Es wird eine solche Befriedigung sein, ihn zu Boden zu schlagen. Wie ein bislang verschollener Klitschko-Bruder führe ich den Boxschlag aus und treffe meinen Widersacher perfekt am Kinn.
»Uff«, stöhnt er und wankt nach hinten.
»Autsch!«, schreie ich gleichzeitig. »Scheiße! Tut das weh.« Von meiner Faust schießt eine Schmerzwelle durch den kompletten Arm.
Pascal hingegen versucht, sein Gleichgewicht zu halten, indem er nach mir greift. Obwohl er mein Hemd zu fassen bekommt, stürzt er – und reißt mich mit. Wir geben unterschiedliche Überraschungslaute von uns, als er auf den Boden prallt und ich auf ihm lande.
»Lass los!«, rufe ich und verpasse ihm eine Ohrfeige. Meine flache Hand erzeugt ein herrliches Geräusch, das mich sogar den Schmerz im Arm vergessen lässt. »Das passiert Idioten wie dir, die anderen die Frauen wegnehmen.«
»Spinnst du?«, fragt er und klingt dabei total weinerlich.
Könnte Vicky uns sehen, würde sie endlich erkennen, dass er keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem heldenhaften Schauspieler hat.
Ich rapple mich auf und betrachte ihn von oben. Weichei!
»Ich zeig dich an!«, brüllt er, während er gleichzeitig ein Stück von mir weg rutscht. »Das wirst du büßen!«
»Was ist denn hier los?«, erklingt eine wohlbekannte Stimme. »Ist der friedvolle Zusammenhalt der Hausgemeinschaft in Gefahr?«
Gloria hat sich hinter mir aufgebaut und wirkt ein wenig erschrocken.
»Friedvoll? Der Scheißkerl hat mich niedergeschlagen!«
»Du hast es nicht anders verdient. Deinetwegen verlässt mich Vicky!«
»Sie haben das gesehen, oder?«, fährt Pasqualle fort, als er sich das Kinn reibt. »Er hat mich ohne Vorwarnung verprügelt. Grundlos. Einfach so!«
»Grundlos?«, wiederhole ich verbittert. »Du mieses Schwein!« Ich trete nach vorn, um ihn für diese dreiste Behauptung erneut zu bestrafen. Ein unerwartet starker Arm hält mich zurück.
»Mach das nicht«, bittet mich Gloria. »Sonst bringst du womöglich das kosmische Gleichgewicht durcheinander.«
Sie zieht mich aus der Diele unseres Nachbarn, so wie es Tilda normalerweise mit Luis macht. Ich werfe einen letzten Blick auf mein jämmerlich aussehendes Opfer. Kein Mann, in den man sich verlieben kann. Dann folge ich Gloria.
»Wir gehen hoch zu mir«, bestimmt sie. »Dort bekommst du etwas zur Beruhigung.«
In ihren vier Wänden dirigiert sie mich zu einem Sessel im Wohnzimmer und sorgt mit leichtem Druck dafür, dass ich mich hinsetze.
»Was ist da eben passiert?«, fragt sie besorgt. »Du hast körperliche Gewalt angewendet, mein Lieber. So kenne ich dich gar nicht.«
»Vicky«, stammle ich. Mehr bringe ich nicht heraus, denn auf einmal werde ich von einem heftigen Schluchzen geschüttelt. »Es ist so … so … schreck…«
»Du benötigst spirituelle Energie. Iss die hier.«
Erst jetzt fällt mir die gläserne Schüssel mit Schokokeksen auf, die sie mir entgegenhält. Zwar ist es viel zu früh für Süßkram, trotzdem greife ich beherzt zu.
»Ich bereite uns einen Tee zu. Bin gleich wieder bei dir.«
»Du bist lieb«, wimmere ich, während ich in den ersten Keks beiße.
Das Gebäck schmeckt ganz anders als die Sachen, die Vicky backt. Intensiver und nicht übermäßig nach Schokolade, aber ziemlich lecker. Ich schiebe mir den Rest in den Mund und nehme mir vor, Gloria nach dem Rezept zu fragen. Unterdessen breitet sich Rauch in ihrem Wohnzimmer aus.
»Es brennt!«, rufe ich, ohne sonderlich verängstigt zu sein.
»Nein!«, beruhigt mich ihre Stimme. »Ich habe bloß ein paar Bewusstseinserweiterer angezündet.«
Ich breche in schallendes Gelächter aus. Bewusstseinserweiterer! Die Frau ist wirklich witzig! So ein lustiges Wort. Mein Magen knurrt unterdessen, und ich verzehre den nächsten Keks.
»Köstlich«, mümmle ich.
»Das hier solltest du trinken, um die Krümel hinunterzuspülen«, schlägt Gloria vor und hält mir ein dampfendes Teeglas entgegen. Ich inhaliere den würzigen Geruch.
»Wie das riecht! Herrlich.«
»Er mundet noch besser. Besonders in Kombination mit den Cannabiskeksen.«
»Karieskekse?«, pruste ich. »So lecker, wie die sind, geben sie Karius und Baktus bestimmt gut zu tun. Spülen wir die beiden Kerlchen also schnell hinunter.« Ich puste in das Glas und nippe vorsichtig daran. Das Getränk hat die perfekte Temperatur. »Du bist wie eine Mutter zu mir«, seufze ich und trinke einen längeren Schluck.
Ehe Gloria etwas erwidern kann, lenkt mich eine Bewegung ab. Überrascht schaue ich an ihr vorbei und stelle fest, dass Ruru die Flügel ausgebreitet hat.
»Oha! Gloria, wusstest du, dass dein Vogel lebt?«
Das Viech dreht den Kopf zu mir herum und schaut mich mit intensiv rötlich leuchtenden Augen an.
»Natürlich wusste sie das. Oder warum sollte sie mich sonst mitten im Raum stehen haben?«
Ich hebe meinen rechten Zeigefinger und deute in Richtung Eule. »Logisch!«
»Erzähl mir von deinen Sorgen«, fordert Ruru mich auf.
»Ach, es ist alles so schrecklich«, entgegne ich.
»Durch Schweigen oder Prügeleien wird es nicht besser.« Die Eule schnappt mit dem Schnabel nach etwas, das sich in ihrem Gefieder befindet, und im nächsten Moment schluckt sie ein Tier hinunter, dessen Schwanz wild zuckt.
»Wo kam das denn her?«, flüstere ich.
»Das war dein Kummer, den ich aufgegessen habe«, behauptet Ruru.
»Ich fühle mich aber noch immer traurig.«
»Weil du Geheimnisse in dir verschließt. In deinem Inneren können sie wachsen, sich vermehren und an dir zehren.«
Da das absolut vernünftig klingt, beschließe ich, der erstaunlich klugen Eule mein größtes Geheimnis anzuvertrauen. Ich beuge mich vor, um es nicht allzu laut aussprechen zu müssen.
»Eventuell kann ich keine Kinder zeugen«, wispere ich.
Ruru nickt bedächtig, erwidert jedoch nichts.
»Das könnte also heißen, jemand anders ist Tildas Vater. Es gibt gewisse Anzeichen. Marion hat mich damals mit einem Arbeitskollegen betrogen. Stell dir vor, Tilda findet das irgendwann heraus. Dann packt sie ihre Sachen und zieht zu dem Kerl. Das würde mir das Herz brechen. Sie ist das Wichtigste, was ich habe.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Weil … ich … nicht … ihr … Vater … bin«, erkläre ich und lege nach jedem Wort eine bedeutungsschwere Pause ein.
»Wird man denn nur durch den Akt der Zeugung zum Vater?«, fragt Ruru.
Ich denke über diese tiefsinnige Äußerung nach. »Ja«, sage ich schließlich.
»Ist das alles, was dich bekümmert?«
»Wenn es bloß so wäre«, antworte ich geknickt. »Vicky und ich wollten ein gemeinsames Kind. Scheint aber nicht zu funktionieren. Dabei wünscht sie es sich so sehr. Bestimmt wird sie mich deswegen verlassen.«
»Hat sie das angedeutet?«, hakt Ruru nach.
Ich winke ab. »Du weißt ja, wie Frauen sind. Das, was sie sagen, ist nie das, was sie meinen. Sie verstecken ihre Botschaften zwischen den Zeilen. Wenn sie behaupten, alles sei in Ordnung, kannst du Gift darauf nehmen, dass sie dich am nächsten Morgen wecken, um mit dir zu reden. Wenn Vicky jetzt sagt, sie könne auch ohne ein weiteres Kind glücklich werden, sucht sie in Wahrheit nach dem richtigen Erzeuger. Und den hat sie ausgerechnet in der Qualle gefunden. Ist das nicht gemein?«
»Mich überzeugt deine Argumentation nicht.«
»Du bist halt ein Vogel«, entgegne ich trotzig. »In der Menschenwelt kennst du dich nicht aus.«
Ich bemerke, wie Gloria aufsteht und den Raum verlässt. Ruru indes dreht beleidigt den Kopf herum. Empfindliches Kerlchen. Da ich keine Lust habe, mich mit einer sensiblen Eule herumzuplagen, erhebe ich mich schwerfällig aus dem Sessel und gehe zielstrebig zur Wohnungstür. Unterwegs stoße ich mit dem Oberschenkel gegen einen Türrahmen, dann stehe ich im Hausflur. Als ich die Treppe hinuntergehe, sehe ich vor meiner Tür zwei blaugekleidete Personen warten.
»Ist denn schon Karneval?«, lache ich.
»Bitte?«, fragt einer der Männer.
»Ihre Kostüme finde ich ziemlich einfallslos. Polizisten. Auf so eine Idee kommen nur stupide Leutchen.«
»Sind Sie Herr Simon Deerberg?«
»Und Sie sind der Bulle von Tölz?«, frage ich den Schwergewichtigeren der beiden. Über meine humorvolle Erwiderung könnte ich mich ausschütten vor Lachen.
»Nein, ich bin Polizeiobermeister Klugschmitz …«
»Klugschiss«, gebe ich prustend zurück. »Herrlich. Sie sind eine Marke.«
Der Mann sieht mich böse an. »Wir sind wegen einer Anzeige hier. Ihr Nachbar Pascal …«
»Hören Sie mir bloß mit dieser Qualle auf. Blöder Wichser! Hurensohn!«
Ich hebe drohend eine Faust in Richtung seiner Tür. Hoffentlich beobachtet er uns durch den Spion.
»Nehmen Sie den Arm runter!«, fordert Klugschiss.
»Dies ist ein freies Land, und Sie sagen mir nicht, was ich zu tun habe, Herr Klugschiss.«
Im nächsten Moment packt er mich und drückt mich gegen die Wand.
»Leisten Sie keinen weiteren Widerstand!«
»Autsch!«, brülle ich. »Was erlauben Sie sich? Das hat Konsequenzen.«
»Allerdings«, bestätigt er.
Ehe ich etwas erwidern kann, spüre ich, wie er mir die Handgelenke fesselt.
»Was soll das? Sind Sie ein Perversling? Ich stehe nicht auf Ihre Fesselspielchen. Hilfe! Polizei!«
»Ist der Typ zugedröhnt?«, erklingt die Stimme des anderen Verkleideten.
»Das wird ein Drogentest auf der Wache zeigen.«
Unsanft werde ich zur Treppe gedrängt. »Jimbo! Amy! Helft mir.«
Aus dem Inneren der Wohnung vernehme ich zorniges Bellen.
»Hält der Kampfhunde?«
»Das klären wir später. Abmarsch!«
Verzweifelt versuche ich, mich gegen die Entführung zu stemmen, doch die beiden Kerle sind zu stark. »Hilfe!«, jammere ich erbärmlich.