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Simon

Während ich auf meinen PC starre, werde ich ein ungutes Gefühl nicht los: Etwas ist in den vergangenen Wochen zwischen Vicky und mir verloren gegangen.

Zwar haben wir noch keine handfeste Krise und legen Streitigkeiten schnell bei, trotzdem geraten wir für meinen Geschmack mittlerweile zu oft aneinander. Meistens sogar wegen unbedeutender Kleinigkeiten.

Habe ich bei dem Elternabend Luis wirklich zu wenig in Schutz genommen, oder war meine Strategie, eine Auseinandersetzung mit Frau Klaasen zu vermeiden, richtig?

Hat Vicky bewusst in meiner Gegenwart mit Pasqualle geflirtet? Oder wollte sie lediglich freundlich sein zu diesem Vin Diesel für Kurzsichtige?

Aber warum wundere ich mich überhaupt über die Entwicklung? Die letzten Monate waren geprägt vom Alltagsstress. Das Zusammenleben von je zwei Erwachsenen, Kindern und Hunden kostet eine Menge Energie, und wegen unserer Jobs kommen wir kaum zum Durchatmen.

Das muss sich dringend ändern.

Vicky ist – von Tilda abgesehen – das Kostbarste, was es in meinem Leben gibt. Insofern sollte es doch möglich sein, kleine Auszeitinseln zu schaffen, in denen wir eine Weile nicht an unsere Verpflichtungen denken müssen.

Ich drehe mich in meinem Arbeitssessel herum und betrachte den Wandkalender, der hinter mir hängt. Am nächsten Wochenende ist Tilda bei Marion und Luis bei Thomas. Von Freitagabend bis Sonntagabend bietet sich also eine Gelegenheit, mit Vicky etwas Schönes zu unternehmen. Dank des erfolgreichen Immobilienprojektes muss ich noch nicht einmal Rücksicht auf die Finanzen nehmen. Wir könnten uns in einem Restaurant in Rom mit Blick auf den Vatikan kulinarisch verwöhnen lassen. Oder in Barcelona die Ramblas entlang flanieren. Oder in Amsterdam mit einem Hausboot durch die Grachten fahren.

All das klingt verlockend, hat allerdings einen entscheidenden Nachteil: Wir wären stundenlang unterwegs, um den jeweiligen Ort zu erreichen. Nein. Ich will lieber in der Nähe bleiben, um diese wertvollen achtundvierzig Stunden optimal auszunutzen.

Nachdem ich einige Minuten gegrübelt habe, erinnere ich mich, wo Vicky und ich uns zum ersten Mal begegnet sind. Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Hätte mir damals Silvio oder Tobias prophezeit, dass ich in anderthalb Jahren schwer verliebt sein werde in die zickige Saunagängerin – ich hätte denjenigen direkt in die Nervenheilanstalt gefahren.

Ich surfe auf die Homepage des am Stadtrand gelegenen Hotels, das über einen großzügigen Relax- und Thermalbereich verfügt. Unter dem Punkt ›Arrangements‹ finde ich tatsächlich ein Angebot, das meinen Vorstellungen entspricht. Ein komplettes Wochenende in einer der Juniorsuiten, freien Eintritt in den Wellnesstempel und ein 5-Gänge-Menü im hoteleigenen Restaurant am Samstagabend. Perfekt! Als ich den Preis sehe, schlucke ich zwar, trotzdem beschließe ich, meiner Liebsten das Vergnügen zu gönnen.

Vorausgesetzt, ich kann unser haariges Problem lösen.

Die beiden Hunde haben sich gemütlich im Wohnzimmer auf ihre Lieblingsdecke gekuschelt. Jimbo sieht mich interessiert an, als ich den Raum betrete, Amy hingegen scheint zu schlafen.

»Gleich gehen wir raus«, verspreche ich.

Der Rüde nimmt das mit ausgeprägtem Desinteresse zur Kenntnis, gähnt demonstrativ und senkt den Kopf.

Ich verlasse die Wohnung und laufe zu Gloria hoch. Bislang hatten Vicky und ich nie einen Grund, uns um einen Hundesitter zu kümmern. Nun könnte dieses Versäumnis die Wochenendpläne ruinieren. Unruhig drücke ich die Klingel.

»Ja-ah«, ertönt es aus dem Inneren.

Anscheinend hat Gloria gute Laune. Sie öffnet mir die Tür mit einem strahlenden Lächeln.

»Mein Lieber! Wie komme ich zu der unerwarteten Ehre?«

»Hallo, Gloria«, begrüße ich sie und versuche, mich nicht von ihrem pinkfarbenen Lippenstift irritieren zu lassen. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

»Alles, was du willst.«

»Am Wochenende haben Vicky und ich kinderfrei, was ich nutzen möchte, um mit ihr wegzufahren.«

Übertrieben begeistert klatscht sie in die Hände. »Tolle Idee! Soll ich die Karten befragen, welches das beste Ziel wäre? Herein mit dir!«

Sie packt meinen Arm und zieht mich in die Wohnung. Völlig überrumpelt stolpere ich ihr hinterher.

»Ach, das ist schön, dass du inzwischen so ein ausgeprägtes Vertrauen in die spirituellen Mächte besitzt und extra herkommst, um mich zu konsultieren. Bestimmt finden wir einen Ort, an dem die Sterne euren Kinderwunsch nachhaltig fördern werden.«

»Wa… was?«, stammle ich.

»Hältst du mich etwa für blind? Es ist offensichtlich, dass ihr euch weiteren Nachwuchs wünscht, bisher aber keinen Erfolg hattet.«

»Woran siehst du das?«

Gloria winkt wortlos ab. Als wäre es pure Zeitverschwendung, darüber zu reden. Stattdessen greift sie zu einem Packen Tarotkarten und fängt an, sie zu mischen.

»Also, ehrlich gesagt, habe ich schon entschieden, wohin wir fahren.«

Überrascht hält sie inne und sieht mich verwundert an. »Warum bist du dann hier?«

»Wir würden jemanden benötigen, der die Hunde währenddessen hütet.«

»Oh«, erwidert sie wenig erfreut.

»Das wäre wirklich wichtig«, ergänze ich. »Nicht zuletzt wegen des Kinderwunsches. Patentante Gloria. Wie klingt das in deinen Ohren?«

Ich hoffe, Vicky reißt mir nicht den Kopf ab, wenn ich ihr gestehe, zu welchem Preis ich uns das kinderfreie Wochenende erkauft habe.

»Mhm«, brummt sie. »Was sagst du dazu, Ruru?«

Sie starrt in die roten Glasaugen des ausgestopften Tieres. Ihre Lippen bewegen sich, doch die gemurmelten Worte sind zu leise, als dass ich sie verstehen könnte. »Meinst du echt?«, fragt sie schließlich.

»Was meint sie denn?«, hake ich nach.

»Psst«, zischt sie und beginnt erneut, die Karten zu mischen. Einige Sekunden später breitet sie sie auf dem Tisch um Ruru herum aus. »Huch, damit hätte ich nicht gerechnet. Ist ja interessant. Spannend.«

»Welche Botschaft entdeckst du in den Karten?«, erkundige ich mich, obwohl ich ihr Schauspiel langsam albern finde. Soll sie mir doch einfach sagen, dass ihr das zu viel wird. Ob ich Silvio oder Tobias darum bitten kann? Wer von den beiden wäre wohl der fürsorglichere Hundesitter?

»Ich soll den Ostwind um Rat fragen«, erklärt Gloria.

»Den Ostwind?«, wiederhole ich ungläubig.

»Genau.«

Sie dreht sich zu den Kreuzen um, die an den Fenstern baumeln, und stößt sie einzeln an. Die Schmuckstücke klimpern. Fasziniert lauscht meine schrullige Nachbarin den Geräuschen.

»Das hätte ich nicht gedacht«, sagt sie zuletzt.

Wenn ich ehrlich bin, kann ich auch nicht glauben, dass ich nicht längst die Wohnung verlassen habe, um einen der beiden Jungs anzurufen. »Was hättest du nicht gedacht?«

»Dass ausgerechnet der kalte Ostwind sein Einverständnis gibt.«

»Äh«, stammle ich. »Heißt das, du passt auf?«

»Natürlich. Die Zeichen sind eindeutig. Dank der Hunde wird etwas Wunderbares passieren.«

Trotz ihrer skurrilen Art würde ich ihr nun am liebsten einen dicken Kuss auf die grell geschminkten Lippen drücken. »Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Jimbo und Amy sind absolut pflegeleicht. Ich erkläre dir Donnerstag oder Freitag, was du zu tun hast.«

»Willst du mich beleidigen?«, empört sie sich. »Ich hatte bereits sechs Hunde in meinem Leben, ich weiß, was zu tun ist.«

»Traumhaft! Umso besser! Also buche ich jetzt schnell die Überraschung für Vicky und mich.«

»Soll ich aus den Karten den bestmöglichen Moment für eure Vereinigung herausfinden?«

»Nein, nicht nötig.« Ich zwinkere ihr zu. »Wir wälzen uns einfach dauerhaft in den Federn, um die Chancen zu erhöhen.«

Gloria kichert. »Dann wünsche ich dir gutes Durchhaltevermögen. Ist ja in deinem Alter nicht mehr ganz so leicht.«

»Hallo?«, entfährt es mir entrüstet. »Ich bin achtunddreißig.«

»Eben drum!«

»Pah!«

Nachdem ich meine Kreditkartennummer eingegeben habe, erhalte ich kurz darauf die Bestätigung, dass wir von Freitag bis Sonntag das ›Luxus-Wellness-Weekend-Paket‹ gebucht haben. Ich drucke sie aus und überlege, wie ich sie Vicky am besten überreichen kann. Letztes Jahr hatte ich ihr anlässlich ihrer Beförderung im fußläufig zu erreichenden Einkaufszentrum eine Glückwunschkarte gekauft und auf dieser eine Einladung zu einem Restaurantbesuch ausgesprochen. Der Abend in dem Restaurant stellte sich später als Beginn unserer wundervollen Beziehung heraus. Aufgrund des durchschlagenden Erfolgs beschließe ich, das in gewisser Weise zu wiederholen.

»Jimbo! Amy! Ab nach draußen!«

Der Rudelführer hat gesprochen, vernimmt jedoch kein freudiges Pfotengetrappel. Na ja. Wahrscheinlich haben sie mich nicht gehört.

Nach einer ausgedehnten Runde in einem nahe gelegenen Wald steuern wir schließlich das kleine Einkaufszentrum an. Außer einem Lebensmittelladen, einem Kiosk, der als Postagentur fungiert, einem Blumengeschäft, einem Kosmetikstudio und einer Eisdiele beherbergt es auch einen Schreibwarenladen. Hier besorge ich immer alles, was ich fürs Büro benötige, weswegen mich der Besitzer stets sehr freundlich behandelt.

Ich binde die Hundeleinen an die entsprechende Vorrichtung und ermahne meine Tiere, schön zu warten. Dann betrete ich das Geschäft.

»Herr Deerberg«, begrüßt mich der Mann. »Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Ihnen sind sämtliche Büroutensilien ausgegangen.« Er schmunzelt über seinen eigenen Scherz.

Der etwa sechzigjährige Mann hat etwas Großväterliches an sich. Nicht zuletzt wegen seiner weißen Haare und des grauen Vollbarts erinnert er mich an Gandalf.

»Beinah«, entgegne ich. »Aber heute brauche ich nur eine Art Gutscheinkarte.«

»Zu welchem Anlass?«

»Ich schenke meiner Liebsten ein Hotelwochenende.«

»Oh là là. Nicht, dass Sie sich überfordern. In Ihrem Alter muss man ja langsam aufpassen.«

Er tritt um den Tresen herum, auf dem die Kasse steht, und geht zielstrebig zu einem Drehständer, in dem zahlreiche Karten stecken. Ich mustere unterdessen heimlich mein Spiegelbild in einem Spiegel, der über dem Kassentresen hängt. Habe ich graue Haare bekommen oder warum werde ich innerhalb einer Stunde zum zweiten Mal auf mein vermeintlich biblisches Alter angesprochen? Ich bin achtunddreißig, doch die Leute tun so, als sei ich dreiundachtzig. Frechheit!

»Diese ist perfekt«, sagt er und präsentiert mir eine edel wirkende, cremefarbene Karte. In dezent silberner Schrift steht ›Gutschein‹ darauf.

»Oh ja!«, stimme ich begeistert zu. »Schön ausgewählt.«

»Ach, das war nicht schwer. Ich habe einfach die teuerste genommen. Für Ihre Vicky ist schließlich bloß das Teuerste gut genug.«

»Da widerspreche ich nicht.«

Als ich den Laden verlasse, bleibe ich abrupt stehen. Aus dem Kosmetikstudio nebenan tritt eine aufgedonnerte Blondine, die mich freudig anstrahlt. Da ihre Füße wie bei unserer ersten Begegnung letztes Jahr in High Heels mit gemeingefährlich hohen Absätzen stecken, ist sie fast genauso groß wie ich. Für ihre Verhältnisse trägt sie ein züchtiges Dekolleté – trotzdem ist ihre beachtliche Körbchengröße nicht zu übersehen. Die langen, blonden Haare fallen über ihre Schultern und wirken heller, als ich sie in Erinnerung habe.

»Simon Deerberg, the sexiest Familienvater alive«, ruft sie laut und kommt zu mir gestöckelt.

»Hi, Pamela«, sage ich knapp.

Ihretwegen war es zu einem Bruch zwischen mir und Vicky gekommen; Pamela hatte ihrer Cousine Vicky gegenüber behauptet, sie habe etwas mit mir angefangen. Eine absurde Lügengeschichte, der Vicky jedoch leider Glauben schenkte.

Ich beuge mich zu den Hunden hinunter und löse die Leinen.

»Sind das etwa deine?«, fragt sie angewidert.

»Magst du keine Hunde?«

»Ich mag grundsätzlich nichts Haariges«, erwidert sie mit einem vermeintlich verruchten Unterton in der Stimme. »Apropos. Deine Schläfen werden grau. Sieht sexy aus.«

Ist das eine Verschwörung?

»Woran liegt’s?«, will sie wissen.

»Was?«

»Dein Alterungsprozess. Macht meine Cousine Stress?«

»Du spinnst ja. Die paar grauen Haare.«

»Letztes Jahr hattest du die noch nicht. Lass mich raten. Sie lässt dich zu selten ran.«

»Ganz im Gegenteil. Ich hatte nie zuvor so tollen und so häufigen Sex wie momentan.«

»Fällt mir schwer zu glauben. Mein prüdes Cousinchen dürfte kaum zur Sexgöttin mutiert sein.«

»Hm«, entgegne ich amüsiert und ziehe die Augenbrauen hoch. »Wenn du wüsstest.«

»Ach, erspar mir lieber die Details. Märchen gehören in ein Buch und nicht in meine Ohren. Aber falls es dir mal irgendwann nicht mehr ausreicht, dich in eine Fantasiewelt zu flüchten, darfst du mich gern anrufen. Ich bin nach wie vor interessiert, das nachzuholen, was wir damals verpasst haben.«

Sie macht einen Kussmund. Genau in dieser Sekunde bellt Jimbo sie an. Pamela zuckt erschrocken zusammen und fängt an zu jammern.

»Autsch! Verdammt! Jetzt habe ich mir vor Schreck auf die Zunge gebissen. Blöde Töle!«

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, woraufhin sie mir einen bösen Blick zuwirft und beleidigt von dannen rauscht.

»Braver Hund«, lobe ich Jimbo und kraule ihm das Fell.