29

Vicky

Was für ein Tag. Ich starre zum vermutlich hundertsten Mal auf Simons Handy, das herrenlos auf dem Schuhschrank liegt. Ob er noch weitere Geheimnisse hat, die sich mir beim Handyschnüffeln offenbaren würden? So tief möchte ich nicht sinken, dennoch würde ich das Gerät gern an mich nehmen, weil es sich wie sein verlängerter Arm anfühlt. Simon fehlt mir entsetzlich, und ich atme tief ein und aus, um mich selbst zu beruhigen.

In einer Stunde kann ich endlich die Kinder ins Bett bringen und brauche nicht mehr den Pausenclown für sie zu spielen, was mich langsam aber sicher an den Rand des Wahnsinns bringt. Simon muss doch irgendwann mal vom Revier zurückkommen! Wie lange behält die Polizei ihn denn noch da? Niemand wird wegen einer solchen Bagatelle über Nacht festgehalten. Glaube ich zumindest, und das hat auch eine Nachfrage bei Cordula ergeben, die sich mit durchgedrehten Männern auskennt.

»Der ist früher wieder da, als dir recht ist. Genieß die freie Zeit, Süße, denn wenn er zurückkommt, fliegen die Fetzen. Bis dahin würde ich mir an deiner Stelle ein paar Streicheleinheiten bei Pascal holen.« Die hat leicht reden. Ich vermisse meinen Schatz nun mal und mache mir Sorgen um ihn. Er schämt sich bestimmt und möchte nach Hause. Mein armer, durchgeknallter Liebling.

»Macht ihr euch bettfertig?«, bitte ich die Kleinen, die mit dem Ausmalen eines Übungsblattes für die Schule beschäftigt sind.

»Jetzt schon?«, antworten sie wie aus einem Mund.

»Ja, ich will euch noch was vorlesen, und sonst muss ich mich so beeilen.« Vor allem brauche ich dringend eine Beschäftigung, um nicht verrückt zu werden.

»Da kommt jemand«, sagt Luis grinsend, als es an der Tür klingelt.

»Dann müssen wir auch noch nicht ins Bett«, ergänzt Tilda, spitzt die Lippen und malt weiter.

Ich laufe in den Flur. Das wird er sein!

»Sim…«, rufe ich, halte jedoch inne, als nicht mein Freund vor mir steht, sondern Larissa und Herr Schulze.

Enttäuscht lasse ich die Schultern sinken.

»Na, was gibt’s?«

»Nur nicht den Mut verlieren, Frau Mahler.« Herr Schulze lächelt mir aufmunternd und geradezu väterlich zu. »Das wird schon, lassen Sie uns mal machen. Ich brauche ohnehin eine Aufgabe, deshalb werde ich mich jetzt um die Kinder kümmern.«

Hä? Warum das denn? Er drängt sich an mir vorbei, lässt die mitgebrachten Pantoffeln zu Boden fallen und schlüpft hinein, nachdem er sich seiner Straßenschuhe entledigt hat. Okay … »Enkel sind meiner lieben Irmtraud und mir versagt geblieben. Ab heute werde ich diese Lücke mit der Rasselbande im Haus füllen. Kinderchen! Kommt mal zu Onkel Günther! Wollt ihr eine Runde Mau-Mau spielen?«

Ich drehe mich zu Larissa um, die einen Schlüsselbund in der Hand hält und damit vor meiner Nase herumwedelt.

»Kannst du mir bitte schön erklären, was hier los ist?«, frage ich unsere Babysitterin. Sie steckt in einem übergroßen Overall in Tarnfarben, dessen Reißverschluss fast bis zum Bauchnabel geöffnet ist und einen spektakulären Ausblick auf einen mit ›Minions‹ bedruckten BH bietet. »Wieso will Herr Schulze auf Luis und Tilda aufpassen und nicht du? Und was ist das für ein Schlüssel?«

»Der gehört zu dem Kübelwagen, mit dem ich dich jetzt entführe werde. Zieh dir was über, wir müssen los. Hopphopp! Schuhe und Jacke an. Es ist alles geregelt, vertrau mir.«

Überrumpelt und komplett verwirrt befolge ich ihre Befehle, während sie kurz die Kinder begrüßt, dem neuen Babysitter die wichtigsten Dinge erklärt und dann zu mir zurückkommt. Widerstandslos lasse ich mich von einer gerade volljährig Gewordenen aus dem Haus zum Parkplatz schieben, wo wir vor einem olivgrünen Ungetüm von Auto stehenbleiben.

»Ist das der Kübelwagen?«, erkundige ich mich wenig geistreich.

»Japp«, erklärt sie stolz. »Geile Karre, was? Gehört meinem Kumpel Flo. Er meint, alles, was ich im Wagen zwischen die Finger kriege, darf ich benutzen, haha! Kannst ja gleich mal im Handschuhfach rumwühlen, ob da was Brauchbares drin ist. Vermutlich nur Männerkram. Der Kübel ist jedenfalls schon älter als meine Mutter. Ich finde ihn wunderwunderschön. So, nun steig mal ein, Vicky.«

Auch dieser Anweisung leiste ich gehorsam Folge und rutsche in einen tiefen Recaro-Sitz mit roten Hosenträgergurten. »Was man so unter wunderwunderschön versteht«, murmle ich und beobachte Larissa beim Starten.

Laut knatternd springt der Motor an, und sie lacht.

»Ich liebe dieses Auto. Fast wie im Panzer, nur in friedlicher Mission unterwegs. Festhalten, ich bin noch nicht so vertraut mit dem Allradantrieb.«

Mit einem Ruck landen wir auf der Straße. Ich wage einen weiteren Vorstoß, obwohl ich ahne, dass sie mir nichts verraten wird. »Und wann lerne ich das Ziel unseres Ausflugs kennen? Ich will ja nicht ungeduldig wirken, aber ich habe einen hammerharten Tag hinter mir und bin nicht wirklich in Stimmung für ein lustiges Abenteuer.«

»Das wirst du sehen, wenn wir angekommen sind. Ich habe versprochen, die Klappe zu halten, also tue ich das auch. Berichte du doch mal, wie der ganze Trouble mit Simon eigentlich angefangen hat. Mir werden immer nur Bruchstücke hingeworfen. Larissa, fahr mal hierhin, Larissa, mach mal das … Na ja, von mir aus. Neugierig bin ich trotzdem.«

Jetzt ist es auch schon egal. Mein Leben gleicht einer Baustelle, und ich beschließe, einfach mal loszulassen. Die Kinder werden unter Herrn Schulzes Aufsicht schon nicht sterben, und Simon ist im Knast sicher untergebracht. Es kann also überhaupt nichts passieren. Ich erzähle Larissa alles. Dass mein Süßer auf einmal keinen Sex mehr wollte. Und dass er anfing, Heimlichkeiten vor mir zu haben. Ich berichte von seiner Eifersucht auf Pascal und von seiner möglichen Zeugungsunfähigkeit. Unsere Babysitterin hört aufmerksam zu, streichelt zwischendurch begeistert über die militärisch anmutenden Armaturen des Kübelwagens und kommentiert mit vielen ›Ahs‹ und ›Ohs‹.

»… und weißt du was«, beende ich meinen Vortrag, »mir wird immer klarer, wie unwichtig es ist, ob Simon mir nun noch ein Baby machen kann oder nicht. Ich liebe ihn so sehr, ich will ihn unter keinen Umständen verlieren. Klar, ein gemeinsames Kind wäre schon noch großartig gewesen, aber ich habe mich da auch ziemlich reingesteigert. Simon und ich gehören zusammen, nur das zählt. Und das werde ich ihm auch als Allererstes sagen, wenn er endlich wieder bei mir ist. Du weißt nicht zufällig, wann er zurückkommt, Larissa?«

»Meine Lippen sind versiegelt. Oh, fuck, was ist das denn? Ey, der Wagen wackelt voll, spürst du das auch?«

Und ob ich das spüre. Irgendwas stimmt mit der Karre nicht, was eigentlich nicht verwunderlich ist. Das Gefährt war bestimmt seit Ewigkeiten nicht beim TÜV. Würde mich kein bisschen erstaunen, wenn wir ohne Nummernschilder unterwegs wären. Wir fahren durch ein Wohngebiet mit mehrgeschossigen Häusern am anderen Ende unserer Stadt, als der Kübel immer stärker stottert und komische Geräusche von sich gibt.

»Fahr rechts ran«, sage ich.

In dem Moment ertönt auch schon ein lauter Knall, und wir kommen halb auf der Straße, halb auf dem Bordstein zum Stehen.

»Na, super! Flo bringt mich um«, jammert Larissa. »Er hat zwar gesagt, dass irgendwas mit dem Kühler nicht rundläuft, aber er meinte, wenn ich vernünftig fahre, würde nichts passieren. Du bist meine Zeugin, Vicky, ich bin doch vernünftig gefahren, oder?«

»Definitiv. Wenn Flo rumzickt, schick ihn zu Tante Vicky, die haut ihm auf die Zwölf. Äh … und was passiert jetzt?«

Larissa reibt sich das Kinn und überlegt. »Du hast einen wichtigen Termin, da musst du hin, also rufen wir dir ein Taxi, und ich sehe zu, dass ich Flo erreiche. Ich weiß nämlich nicht, ob ich den Pannendienst informieren soll. Könnte durchaus sein, dass die Karre gar nicht angemeldet ist …«

Ich hab’s geahnt. Mahnend schaue ich sie an. »Larissa, das kommentiere ich jetzt nicht.«

»Hihi«, macht sie nur, greift verlegen nach ihrem Handy und bestellt ein Taxi. Patent ist sie ja. Ich weiß schon, warum ich ihr so unbesorgt die Kinder anvertraue. Sie kommt besser klar als wir Erwachsenen, von denen der eine im Knast sitzt und die andere sich widerstandslos entführen lässt.

»Auch eine?«, fragt sie mich, nachdem sie auf dem Rücksitz eine Packung Zigaretten gefunden hat.

Ich habe noch nie geraucht, doch dies scheint mir die passende Situation für die erste Kippe meines Lebens zu sein. Paffend und hustend lehnen wir am Kübelwagen und warten auf mein nächstes Transportmittel. Eigentlich der perfekte Moment – wenn man sich die Probleme wegdenkt. Ich schließe die Augen und hoffe auf einen Nikotin-Flash, doch statt eines angenehmen Rauschzustands spüre ich eine leichte Übelkeit aufsteigen. Ich rauche tapfer weiter, bis ein weißer Mercedes mit gelbem Schild um die Ecke biegt.

»Tschüss, Larissa! Pass auf dich auf und lass dich nicht von fremden Männern anquatschen.«

»Du kennst mich doch, keine Sorge. Die wollen höchstens meinen Kübel, aber den werde ich verteidigen.« Sie ruft dem Taxifahrer, der die Fensterscheibe herunterlässt, zu: »Bringen Sie sie zur Spechtstraße neunzehn.«

Ich überlege, wo das sein könnte und was ich da eigentlich soll. Larissa und ich verabschieden uns mit einer festen Umarmung und Küsschen auf die Wange.

Ich setze mich auf den Rücksitz und starre auf den fast schwarzen Nacken des untersetzten, etwa fünfzigjährigen Mannes, der sofort mit tiefer Gospelstimme losquatscht.

»Guten Tag, ich bin Joe und bringe Sie zu Ihrem Mann. Oder wo wollen Sie hin, wenn ich fragen darf, Miss?«

»Das dürfen Sie gern fragen, aber ich weiß es selbst nicht. Ich habe die Adresse eben zum ersten Mal gehört und habe keine Ahnung, was ich da soll. Ich bin hier quasi eine Fremde.«

»Oh, das kenne ich von meinem Bruder aus Nigeria, er war hier auch ein Fremder. Er ist Häuptling in seinem Dorf und hat mich letztes Jahr in Deutschland besucht. Raten Sie mal, wie viele Kinder er hat!«

»Ihr Bruder aus Nigeria?« Das ist ja eine Marke. Ich muss grinsen, weil Joe mir vermutlich einen Bären aufbindet, aber seine Story gefällt mir.

»Ja. Okay, ich verrate es Ihnen. Er hat sechzehn Kinder. Von drei Frauen. Hahaha! Er meint, ich sei müde und faul. Raten Sie mal, wie viele Kinder ich habe!«

»Ich weiß nicht. Sagen Sie es mir.«

»Zwei. Ich habe nur zwei Kinder mit einer Frau. ›Joe‹, sagt mein Bruder, ›du bist sehr faul.‹ Zwei Kinder sind wenig für einen Mann. Aber er ist ein großer Häuptling in Nigeria, und ich bin ein kleiner Taxifahrer in Deutschland.«

»Ich finde Sie großartig, Joe.«

»Haha!« Er ist dermaßen gut gelaunt, dass er mich damit ansteckt, auch wenn ich allen Grund hätte, Trübsal zu blasen. »Mein Bruder hätte noch viel mehr Kinder, aber seine dritte Frau ist gebildet, sie ist Lehrerin. Nach dem dritten Kind hat sie zu meinem Bruder gesagt: ›Stopp! Mehr Babys will ich nicht.‹ Sonst hätte er noch mehr Töchter und Söhne.« Nach einer kurzen Atempause fährt Joe fort. »Als mein Bruder nach Deutschland geflogen ist, hatte er seine Häuptlingsklamotten an. Er stieg aus dem Flugzeug, und ich sagte: ›So kannst du hier nicht rumlaufen, hier trägt man Jeans und Sweatshirt.‹ Aber er meinte: ›Joe, ich bin ein Häuptling, und das soll jeder sehen.‹ Dann ist er immer mit diesen Sachen draußen rumgelaufen, und alle haben Riesenaugen gemacht. Der kleine Taxifahrer Joe hat einen Bruder, der aussieht wie der Prinz aus Zamunda, hahaha! So. Wir sind da, Miss.«

Huch. Ich habe gar nicht aufgepasst, wo wir langgefahren sind, sondern nur fasziniert Joes blumigen Erzählungen zugehört. Wir befinden uns vor einem großen, unbeleuchteten Gebäude, das unbewohnt zu sein scheint.

»Das ist die Adresse, die das junge Fräulein genannt hat«, sagt Joe. »Sind wir hier wirklich richtig? Es sieht aus wie in einer düsteren Ecke in Nigeria.«

»Weiß ich leider auch nicht, Joe. Ich schau mal nach. Können Sie bitte kurz auf mich warten, falls keiner da ist?«