6
Simon
Nachdem wir die ersten zwei vollen Schulwochen hinter uns gebracht haben, entwickelt sich langsam ein morgendliches Ritual. Luis sitzt lustlos am Frühstückstisch, während Tilda dem bevorstehenden Schultag freudig entgegensieht. Da Vicky im Job zurzeit eine Menge Stress hat, saust sie normalerweise direkt nach dem Frühstück Richtung Büro, während ich die Kinder zur Schule fahre.
»Au weia«, sagt sie, als wir Montagmorgen an der Tür stehen, um uns wie immer mit einem innigen Kuss zu verabschieden. »Kommt es mir nur so vor, oder ist Luis noch mieser drauf als letzte Woche?«
»Na ja, was erwartest du? Die beiden haben ihr freies Wochenende genossen. Da kann die Aussicht auf eine neue Schulwoche schon für schlechte Laune sorgen. War das bei dir früher anders?«
Besorgt schaut Vicky zur Küche. »Tilda freut sich doch auch.«
»Die hat halt meine Strebergene geerbt«, entgegne ich augenzwinkernd.
»Bestimmt warst du in deiner Schulzeit total unbeliebt, weil du vorn gesessen und immer aufgezeigt hast. Hattest du eigentlich eine Brille?«
»Eine topmodische sogar. Acht Dioptrien. Panzerglas. Und was meine Beliebtheit anbelangt: Meine Klassenkameradinnen habe ich trotzdem um den Finger gewickelt.«
»Wahrscheinlich haben sie nur so getan, um abschreiben zu dürfen.«
»Nein, ich hatte andere Vorzüge.« Ich packe Vicky und ziehe sie an mich, um sie von meinen Qualitäten zu überzeugen.
»Iih, Ekelalarm«, schreit Luis, nachdem meine Lippen eine Millisekunde auf den Lippen seiner Mutter gelegen haben. »Ihr seid so bäh.«
Ob Kinder einen Detektor eingebaut haben, um ihre Eltern in intimen Situationen zu erwischen? Um das Ganze zu überspielen, gebe ich Vicky einen Klaps auf den Po. Ein schwerer Fehler, wie ich gleich darauf feststelle.
»Ey«, ruft Luis. »Hau meine Mami nicht.«
Er kommt zu mir gelaufen und holt mit der Hand aus.
»Aua!«
Seine Faust ist statt auf meinem Hintern genau auf meinem Hüftknochen gelandet.
»Luis! Lass das!«, ermahnt ihn Vicky.
Obwohl sie es in normalem Tonfall sagt, scheint der Kleine den Tränen nahe zu sein.
»Ihr seid voll fies! Immer meckern alle an mir rum!«
Wütend stampft er in Richtung der Treppe, mit der wir die beiden Wohnungen verbunden haben.
»Haben wir in letzter Zeit zu oft geschimpft?«, flüstert Vicky.
»Überhaupt nicht«, beruhige ich sie.
Sie blickt hektisch auf ihre Armbanduhr. Offensichtlich ist sie hin- und hergerissen. »Verdammt! Ich muss zur Arbeit.«
»Dann los! Ich kümmere mich darum.«
Sie hat bereits ihre Hand am Türgriff, als sie es sich anders überlegt.
»Nein! Das hier ist wichtiger!« Rasch rennt sie ihrem Sohn hinterher.
Ich gehe unterdessen unschlüssig zu Tilda, die noch am Küchentisch sitzt.
»Was ist mit Luis?«, fragt sie besorgt.
»Wenn ich das wüsste«, erwidere ich.
»Ich glaube, das ist wegen Frau Klaasen.«
»Meinst du?«
»Sie hat ihn am Freitag ausgemeckert.«
»Das habt ihr gar nicht erzählt«, sage ich überrascht.
»Luis wollte das nicht.«
»Worum ging es denn?«
»Ach, er ist mitten im Unterricht aufgesprungen und hat aus dem Fenster geguckt. Das fand sie doof.«
»Gab es denn etwas Interessantes zu sehen?«
»Ein Eichhörnchen ist am Baum vor unserem Fenster hochgelaufen.«
»Und Luis war der Einzige, den das interessiert hat?«
»Nein, ganz viele andere sind da auch hingelaufen. Luis war halt der Erste. Deswegen hat Frau Klaasen geschimpft.«
»Finde ich ein bisschen übertrieben von ihr.«
»Genau. Wann fahren wir eigentlich los?«
»Gleich. Sobald er sich beruhigt hat.«
Die Schultüren werden um zehn vor acht geöffnet – also zehn Minuten vor Beginn der ersten Stunde.
Da zahlreiche Kinder deutlich früher gebracht werden, führen zwei bis drei Lehrer ab halb acht Aufsicht auf dem Schulgelände.
Wie es der Zufall will, gehört Frau Klaasen an diesem Montagmorgen zu den Aufsichtspersonen. Nachdem ich mich von den Kindern verabschiedet habe und sie schnurstracks zu ihren Klassenkameraden gerannt sind, steuere ich die Pädagogin ebenso zielstrebig an.
»Guten Morgen, Frau Klaasen«, begrüße ich sie.
Sie sieht mich an, scheint mich aber nicht wiederzuerkennen.
»Guten Morgen«, erwidert sie trotzdem freundlich.
»Simon Deerberg, der Vater von Tilda.«
»Ah«, sagt sie und strahlt mich freudig an. »Ihre Tochter ist ein Goldstück. Sehr aufmerksam und wissbegierig. Kreuzbrav. Wunderbar! So eifrige Schüler wünscht sich jede Lehrerin.«
Ihre warmen Worte stimmen mich ein wenig milder, dennoch vergesse ich nicht, weswegen ich sie überhaupt angesprochen habe.
»Das höre ich gerne. In erster Linie würde ich Sie allerdings gern wegen Luis Mahler sprechen. Wir leben als Patchworkfamilie zusammen.«
Sofort verdüstert sich ihre Miene. »Ja, das habe ich schon mitbekommen. Luis stellt in meinen Augen die größte Gefahr für die Schulkarriere Ihrer Tochter dar.«
»Inwiefern?«
»Er macht ständig Quatsch und lenkt dadurch leider die anderen Kinder ab. Ganz besonders Tilda.«
»Haben Sie ein paar Beispiele für mich?«
»Am Freitag ist er mitten im Unterricht aufgesprungen und zum Fenster gelaufen.«
»Vielleicht gab es da etwas Interessantes zu sehen.«
»Angeblich ein Eichhörnchen. Plötzlich hing die halbe Klasse an den Fenstern.«
»Scheint mir nicht ungewöhnlich zu sein. Es gibt bestimmt kaum ein Kind, das Eichhörnchen nicht süß findet.«
»Das mag sein«, bestätigt sie. »Es gehört sich jedoch nicht, deswegen im Unterricht einfach aufzuspringen. Aber das war ja auch bloß ein Beispiel. Ich könnte Ihnen noch einige andere nennen, wobei das jetzt zu weit führen würde. Nein. Ich fürchte, die Einschulung kam für Luis ein Jahr zu früh. Entweder hinkt er in seiner Entwicklung den Gleichaltrigen hinterher, oder er ist grundsätzlich verhaltensgestört. Sie wissen ja, dieses Zappelphilippsyndrom. ADHS. Ich werde das noch ein paar Wochen beobachten und dann das Gespräch mit Frau Mahler suchen.«
»ADHS?«
»Ziemlich wahrscheinlich«, sagt sie und nickt nachdrücklich.
»Und Sie fällen Ihr Urteil, weil er im Unterricht aufspringt?«
»Er hat Schwierigkeiten, still zu sitzen. Zappelt dauernd herum. Konzentriert sich nicht auf den Unterrichtsstoff. Ich denke, die Diagnose ist eindeutig.«
»Sind Sie schon einmal auf die Idee gekommen, dass er einfach ein lebhafter Junge mit ausgeprägtem Bewegungsdrang ist?«
»Ach, wie oft höre ich diese Ausrede? Ausgeprägter Bewegungsdrang. Das ist mir zu simpel.«
»Tja, manchmal ist es halt so banal«, entgegne ich. »Kinder sind unterschiedlich. Manchen fällt es leichter, still zu sitzen und zuzuhören, andere toben lieber. Das sollten Sie als ausgebildete Pädagogin am besten wissen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Schnell drehe ich mich um und verlasse den Schulhof, bevor mir etwas herausrutscht, was sich für Luis oder sogar Tilda nachteilig auswirken könnte.
Am späten Vormittag klingelt mein Büroanschluss. Im Display lese ich den Namen ›Lessing‹. Herr Lessing ist Kreditberater bei meiner Bank und hat mir letztes Jahr die Finanzierung eines gewaltigen Projektes ermöglicht. Ich habe eigenverantwortlich ein Grundstück gekauft, darauf ein Mehrfamilienhaus geplant und die einzelnen Baufirmen engagiert, die seitdem mit der Realisierung meiner Pläne beschäftigt sind.
Vier der insgesamt acht Wohnungen sind bereits verkauft – mit Hilfe eines von der Bank beauftragten Maklers. In die Gewinnzone gelange ich, sobald sechs Einheiten einen neuen Besitzer gefunden haben. Deswegen bin ich noch immer nervös, wenn sich ein Bankmitarbeiter unerwartet meldet.
»Deerberg«, melde ich mich.
»Lessing, schönen guten Tag, Herr Deerberg. Wie geht es Ihnen?«
Ehe ich antworten kann, redet er allerdings schon weiter. »Na ja, spätestens nach meinem Anruf werden Sie sich fantastisch fühlen. Unser Makler hat am Wochenende drei Käufer aufgetrieben. Sie haben es endgültig geschafft. Das Projekt ist ein voller Erfolg!«
Am liebsten würde ich lauthals losjubeln, doch das würde reichlich uncool wirken – beziehungsweise so, als hätte ich anderes erwartet.
»Wunderbar!«, freue ich mich in angemessenem Tonfall. »Das sind tolle Nachrichten. Ein perfekter Wochenstart.«
»Machen wir es wie üblich? Ich schicke Ihnen Terminvorschläge für die zu leistenden Unterschriften per Mail, und Sie bestätigen oder schlagen Alternativen vor?«
»So handhaben wir es.«
Kaum habe ich aufgelegt, recke ich beide Fäuste in die Luft. Sollte keiner der Interessenten im letzten Moment einen Rückzieher machen, fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen.
Das muss gefeiert werden!
Gerade als ich zum Handy greifen will, um Vicky an der frohen Kunde teilhaben zu lassen, klingelt mein Smartphone. Silvio – einer meiner engsten Freunde – ruft an.
»Na, du Tosisi-Drittel«, begrüßt er mich. »Alles klar, Alter?«
Tobias, Simon, Silvio. Aus diesen Namen haben wir in der Schulzeit das Kürzel ›Tosisi‹ gebildet. Früher haben wir zahlreiche Frauenherzen gebrochen und ganze Nächte durchgefeiert. Heute sind wir alle ruhiger geworden, treffen uns dennoch regelmäßig, um Zeit miteinander zu verbringen und ein bisschen wehmütig an die Vergangenheit zu denken.
»Supergeil!«, erlaube ich mir eine kleine Anspielung auf den berühmten Werbeclip einer Supermarktkette. »Du rufst genau richtig an. Es gibt was zu feiern!«
»Na endlich!«, brüllt er in den Hörer. »Ihr heiratet! Yes! Tobias und ich organisieren eine fette Junggesellenabschiedsparty.«
»Nein! Das ist es nicht.«
»Hm«, brummt er. »Feigling!«
Silvio hatte sich bei meiner Hochzeit mit Marion geweigert, den Trauzeugen zu geben. Damals war Tobias eingesprungen, weswegen Silvio nun der Meinung ist, bei meiner – noch nicht konkret geplanten – zweiten Ehe automatisch in den Genuss dieses Privilegs zu kommen.
»Dann ist sie schwanger?«, vermutet er.
»Daran arbeiten wir. Nein, es hat mit meinem Job zu tun.« Ich erzähle ihm von der aktuellen Entwicklung, und er bestätigt, dass wir den Durchbruch bei unserem Lieblingsitaliener begießen müssen.
»Wie sieht’s morgen Abend aus? Kannst du da?«
»Warte. Ich schaue eben nach, ob Vicky was vorhat, in dem Fall müsste ich auf die Kinder aufpassen.«
Ich laufe in die Küche, wo unser Familienplaner hängt – auf dem jedoch nichts eingetragen ist.
»Morgen passt mir gut«, sage ich. »Zwanzig Uhr?«
»Ich bin dabei und informiere Tobias, dass du die Rechnung übernimmst.«
»Schmarotzer! Ich habe zwei Kinder zu ernähren. Sollen die deinetwegen hungern?«
»Hauptsache, ich werde kostenlos gemästet.«
»Warum klappt es eigentlich mit Vickys Schwangerschaft nicht?«, fragt Tobias am folgenden Abend. »Erfüllt dein Sperma nicht die Qualitätsnormen?«
Beinahe spucke ich das köstliche Tiramisu aus, das sich in meinem Mund befindet.
»Bist du bescheuert?«, entgegne ich hustend.
»Wieso?«
»Dass mein Sperma 1A-Premiumqualität hat, merkt man ja wohl an Tilda«, weise ich ihn auf das Offensichtliche hin. »Also liegt es eher an Vicky.«
»Überzeugt mich nicht«, widerspricht Silvio. »Immerhin hat sie Luis zur Welt gebracht.«
»Das stimmt zwar, doch seitdem sind ein paar Jährchen ins Land gezogen.«
»Seit deinem Glückstreffer etwa nicht?«
Meine beiden besten Freunde haben Vicky so ins Herz geschlossen, dass es ihnen bloß natürlich vorzukommen scheint, die Schuld bei mir zu suchen. Wenn das so weitergeht, wird Vicky in einigen Jahren mit ihnen um den Block ziehen, während ich zu Hause sitze und babysitte.
»Männer sind bis ins hohe Alter zeugungsfähig«, erinnere ich sie. »Frauen nicht. Außerdem hat Vicky jahrelang die Pille geschluckt. Wahrscheinlich dauert es einfach, bis die ganzen Hormone abgebaut sind.«
»Was hältst du davon, dich testen zu lassen?«, will Tobias wissen, ohne auf mein Argument einzugehen.
»Ich spritze in keinen Becher«, reagiere ich empört – und offensichtlich etwas zu laut.
Eine ältere Dame am Nebentisch schaut irritiert zu uns herüber und schüttelt anschließend demonstrativ den Kopf.
»Wieso nicht?«, erkundigt sich Silvio.
»Aus Prinzip nicht«, flüstere ich. »Ich sag’s noch einmal: Tilda ist der beste Beweis, wie zeugungsfähig ich bin.«
Da der Italiener nur einen zehnminütigen Fußmarsch von unserer Wohnung entfernt ist, verabschiede ich mich vor dem Restaurant von meinen Freunden. Tobias und Silvio gehen zum Parkplatz, ich in die entgegengesetzte Richtung.
»Und viel Erfolg!«, ruft mir Tobias hinterher. »Vielleicht gelingt dir ja heute Nacht ein Treffer.«
Ich zeige ihm den Mittelfinger – so wie man halt unter Männern miteinander umgeht.
Mich testen lassen und in einen Becher onanieren? Die spinnen wohl! Als hätte ich das nötig.
Doch mit jedem Schritt, den ich mich meinem Zuhause nähere, verstärken sich die Selbstzweifel. Es ist schon seltsam, dass Vicky nicht schwanger wird.