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Simon
Ratlos starre ich auf den Bildschirm. Google ist jedoch völlig unbeeindruckt und erwartet meine Suchfeldeingabe. Wie könnte ich mein Problem umschreiben, ohne zu Pornoseiten oder obskuren ausländischen Versandapotheken gelockt zu werden?
Ich trommle mit den Fingern auf den Schreibtisch, bis ich mir eingestehe, dass ich nicht nach der korrekten Formulierung suche, sondern lediglich Zeit schinde. Deswegen tippe ich endlich ein paar Wörter ein:
Zeugungsunfähigkeit Mann im Alter
Mir werden etwa achttausend Ergebnisse angezeigt, was ich nicht allzu viel finde. Bevor ich mir einen ersten Artikel dazu durchlese, ersetze ich das Wort ›Mann‹ durch ›Frau‹ und bekomme zwanzigtausend Resultate. Laut Doktor Google ist es also um das 2,5fache wahrscheinlicher, dass es an Vicky liegt. Ein Gedanke, der mich beruhigt. Sollte es ihretwegen nicht klappen, könnte ich besser damit umgehen.
Noch einmal tausche ich die beiden Begriffe aus und überfliege die Suchergebnisse. Ein Artikel trägt die nicht vollständig sichtbare Überschrift ›Auch bei den Männern nimmt die Zeugungsfähigkeit ab 40 …‹. Ich klicke darauf und lese den Text zweimal aufmerksam durch.
Au weia!
Angeblich geht es mit der Qualität der Spermien bereits ab Mitte dreißig bergab. Na, da hab ich mir ja einen tollen Zeitpunkt ausgesucht, um erneut Vater werden zu wollen. Aufgrund dieser neuen Erkenntnis verändere ich meine Suchanfrage.
Spermaqualität Mann im Alter
Oha! Über fünfzigtausend Ergebnisse.
Okay, wenn ich die alle einzeln durchgehen würde, wäre es für eine Vaterschaft tatsächlich zu spät, doch eins scheint ziemlich sicher zu sein: Selbst für das starke Geschlecht tickt die biologische Uhr.
Ticktack.
Die Geräusche meiner Wanduhr dringen an mein Ohr und signalisieren mir, wie es um meine Zeugungskraft steht. Jede Sekunde, die verrinnt, ist verlorene Zeit. Wo treibt sich eigentlich Vicky rum? Arbeiten. Klar. Aber sollten wir nicht die Abwesenheit der Kinder nutzen, um die Chance auf ein kleines Geschwisterchen zu erhöhen?
Ich greife zu meinem Handy und formuliere eine WhatsApp-Nachricht.
Hi Baby! Was hältst du davon, eine Pause einzulegen und herzukommen?
Bis zu ihrer Antwort vergehen nur ein paar Augenblicke.
Ist was mit Luis?
Nein. Die Kinder sind in der Schule.
Musst du weg und brauchst einen Hundesitter? Du könntest Gloria fragen.
Anscheinend versteht sie mich nicht.
Auch das nicht. Ich wechsle jetzt die Bettwäsche, und danach machen wir es uns gemütlich. Einverstanden?
Bettwäschewechsel? Super! Da freue ich mich schon aufs Kuscheln.
Anhand der Statusmeldung sehe ich, dass sie noch nicht fertig ist.
HEUTE ABEND!!! Du Spinner!!!!
Das folgende Kusssmiley versöhnt mich zwar mit ihrer Reaktion, ändert aber nichts daran, dass ich langsam panisch werde. Ich fürchte, Vicky könnte sich einen anderen suchen, wenn sie meinetwegen nicht schwanger wird.
Ticktack.
Das Geräusch schwillt in meinem Ohr immer weiter an, bis es fast wie ein nerviger Alarmton klingt.
Wobei … Stopp!
Der Warnton ist nicht eingebildet, sondern kommt aus dem Hausflur und mischt sich mittlerweile mit dem Gejaule der Hunde. Rasch renne ich vom Arbeitszimmer in die Diele und reiße die Tür auf. Im Flur riecht es angebrannt, und der Geruch kommt eindeutig aus dem Erdgeschoss.
Die Nguyens oder Schulze?
Bereitet Frau Nguyen eine vietnamesische Mahlzeit zu, oder ist Herr Schulze, der wahrscheinlich jahrelang von seiner Gattin bekocht wurde, in der Küche überfordert?
Nachdem ich den Schlüssel eingesteckt habe, ziehe ich die Tür zu und laufe nach unten. Tatsächlich quillt unter Schulzes Wohnungstür Rauch hervor. Ich drücke die Klingel und muss unwillkürlich an Glorias unheilvolle Prophezeiung denken. Der alte Griesgram reagiert nicht. Beunruhigt hämmere ich gegen die Tür.
»Herr Schulze? Hören Sie mich?«
Was würde ich nun dafür geben, wenn er herausgestürmt käme und mir eine Strafanzeige wegen Lärmbelästigung androhen würde.
»Scheiße!«, fluche ich.
Hört er mich wegen des Rauchmelders nicht, oder liegt er bewusstlos auf dem Küchenboden? Da ich das Handy nicht mitgenommen habe, hetze ich zurück nach oben. Genau in dem Moment, als ich die Tür aufschließe, ertönt aus dem Erdgeschoss ein Hustenanfall. Ich hechte wieder hinunter und sehe Herrn Schulze völlig fertig in der Tür stehen. In der Hand hält er eine gusseiserne Pfanne mit einem Kohlebrikett. Zumindest sieht es wie ein Brikett aus. Könnte allerdings auch ein Hackfleischklumpen sein, der etwas zu lange gebraten wurde.
Erneut hustet mein Nachbar. Ich nehme ihm rasch die qualmende Pfanne ab, sie ist bleischwer, bestimmt ein Erbstück in dritter Generation. Weil die Wohnungen alle denselben Grundriss haben, finde ich das Badezimmer auf Anhieb. So vorsichtig wie möglich stelle ich das Ding in die Badewanne und lasse Wasser hineinlaufen. Es zischt und dampft, dann ist die größte Gefahrenquelle neutralisiert.
Einen Augenblick bewundere ich fassungslos das schreckliche Siebzigerjahre-Ambiente des Bads. So wie man sich nicht von einem Verkehrsunfall abwenden kann, fällt es mir schwer, mich von diesem scheußlichen Anblick zu lösen. Als ich mich losgerissen habe, gehe ich in die Küche und klettere auf einen Stuhl, um den Rauchmelder abzuschalten.
Endlich Stille.
Herr Schulze lehnt bedröppelt an der Wand.
»Alles in Ordnung?«, frage ich. »Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein, nicht nötig«, erwidert er leise.
»Was ist denn passiert?«
»Ich hatte Hunger, und die von Irmtraud eingefrorenen Mahlzeiten sind aufgegessen.«
In seiner Stimme schwingt ein leichter Vorwurf mit. Warum hat sie nicht besser für mich vorgesorgt?
»Buletten dürften nicht schwer zu machen sein, dachte ich. Aber irgendwas ist schiefgelaufen. Man gibt doch das Hackfleisch ins Öl, sobald das Öl dampft, oder?«
»Nein, das ist viel zu spät«, belehre ich ihn.
»Hm, ach so, deswegen.«
»Warum haben Sie die Pfanne nicht einfach vom Herd genommen, als sich der Rauch entwickelt hat?«
»Tja.« Hilflos zuckt er mit den Schultern. »Für so was war Irmtraud zuständig.« Tränen stehen ihm in den Augen. »Sie fehlt mir so.«
Einen Freund würde ich jetzt in den Arm nehmen und ihm versichern, dass alles gut wird. Stattdessen räuspere ich mich verlegen und starre auf meine Schuhspitzen.
»Ach, Herr Schulze«, sage ich schließlich, »das kann doch jedem mal passieren. Wenn Sie wüssten, wie viele Unfälle ich am Anfang meiner Kochkarriere fabriziert habe. Da ist eine angebrannte Frikadelle nichts gegen.«
»Sie können kochen?«, wundert er sich. »Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«
Okay! Vielleicht wird es Zeit, mich zu verabschieden.
»Soll ich die Bratpfanne auf den Balkon bringen?«, biete ich ihm dennoch an. »Dort könnte sie auslüften.«
»Das wäre lieb.«
Als ich an ihm vorbeigehe, zieht er plötzlich erschrocken die Luft ein.
»Oh nein!«, flüstert er entsetzt.
Hektisch drehe ich mich um und rechne damit, dass eine Gardine in Flammen steht oder etwas ähnlich Schlimmes passiert ist. Ich kann jedoch nichts erkennen.
»Was ist?«, frage ich verunsichert.
»Sie dürfen niemandem davon erzählen«, fleht er eindringlich.
»Wieso?« Warum soll ich den actionreichsten Moment des Tages vor Vicky verheimlichen?
»Das wäre Wasser auf seine Mühlen.«
»Sie meinen Ihren Sohn?«
»Genau. Wenn Bernhard etwas davon erfährt, wird er mich als Gefahr für die Allgemeinheit bezeichnen.«
Womit er nicht ganz unrecht hätte – vorausgesetzt, das hier bleibt kein Einzelfall.
Offensichtlich sieht Herr Schulze mir meine Zweifel an. »Haben Sie nicht gerade selbst gesagt, Ihnen wären auch schon solche Unfälle passiert? Aber ich bin jetzt der lebensuntüchtige Rentner, oder was?«, redet er sich in Rage. »Na ja, hätte ich mir bei Ihnen denken können. Speku…«
»Stopp!«, unterbreche ich ihn wütend.
Tatsächlich hält er überrascht inne.
»Seit dem Tod Ihrer Frau versuchen Vicky und ich, freundlich zu Ihnen zu sein. Wir können uns nämlich sehr wohl vorstellen, wie schwierig das alles für Sie ist. Trotzdem schaffen Sie es immer wieder, uns vor den Kopf zu stoßen. Warum sind Sie so unsensibel? Ich habe eine Tochter und einen Quasi-Stiefsohn, deren Gesundheit mir am Herzen liegt. Es ist also kaum ein Verbrechen, wenn ich darüber nachdenke, ob so etwas wie heute noch einmal passieren kann und dann womöglich weniger glimpflich ausgeht. Für Sie und für die anderen Hausbewohner.«
Er scheint widersprechen zu wollen. Sein Mund öffnet sich, nur um kurz darauf wieder zuzuklappen.
»Bin ich so schlimm?«
»Ja«, sage ich ehrlich.
»Dann sind Sie bestimmt froh, wenn Bernhard seinen Willen bekommt.« Er klingt eher resigniert als verärgert.
»Nein. Bin ich nicht. Es ist eine Sauerei, dass er Sie gegen Ihren Wunsch zum Auszug drängt. So sollte man mit seinem Vater nicht umgehen.«
»Danke«, flüstert Herr Schulze. »Sie sind ja gar nicht so …« Im letzten Moment stoppt er seinen erneuten unbesonnenen Redefluss.
»Ups?«, frage ich.
»Ups«, bestätigt er und schmunzelt. Zum ersten Mal wirkt er in meiner Gegenwart weder zornig noch traurig, sondern irgendwie sympathisch.
Als ich ein paar Minuten später seine Wohnung verlasse, betritt gerade der neue Nachbar Pascal das Haus. Vicky hat in einem Nebensatz fallen lassen, dass er sie an Vin Diesel erinnert. Na ja, mich erinnert er mit seiner Glatze eher an Telly Savalas. Fehlt bloß ein Lolli zwischen den Lippen, und ich würde automatisch die Titelmelodie von ›Kojak‹ summen. Attraktiv ist ja wohl eindeutig anders.
»Hey«, begrüßt er mich übertrieben herzlich. »Alles gut?«
»Ich kann nicht klagen. Und bei dir?«
»Na, mit so netten Nachbarn fühle ich mich natürlich pudelwohl.«
Wie schleimig ist der denn?
»Deine Frau ist wirklich eine Wucht«, fährt er fort und zwinkert mir gönnerhaft zu. Bevor ich etwas Passendes erwidert habe, rümpft er die Nase. »Ist das dein Deo? Darf ich dir einen Wechsel empfehlen?« Er lacht über seinen eigenen Scherz, als hätte er sich soeben fünfzig Euro für den Witz der Woche verdient.
Die Tür der Nachbarwohnung wird geöffnet, und Frau Nguyen schaut heraus.
»Ist alles in Ordnung mit Herrn Schulze?«
»Sie sollen nicht immer tote Katzen braten. Das stinkt«, sagt Pascal mit einem imitierten asiatischen Dialekt und lacht sich halb tot.
Nach ein paar Sekunden merkt er jedoch, dass er der Einzige ist, der die Bemerkung witzig findet, und verzieht das Gesicht.
»Was stimmt mit euch nicht?«, fragt er.
»Ziemlich rassistisch, was du da von dir gegeben hast«, belehre ich ihn.
»Oh Mann, bist du etwa so ein Gutmensch? Entschuldigen Sie vielmals, liebe Frau Nachbarin. Selbstverständlich habe ich es nicht so gemeint.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, stampft er die Treppen hoch.
»Unfreundlicher Mann!«, schimpft Frau Nguyen, nachdem Pascal in seiner Wohnung verschwunden ist.
»Allerdings.« Ich erinnere mich plötzlich an einen Schulkameraden, der ebenfalls Pascal hieß und von uns allen irgendwann bloß noch ›Pasqualle‹ beziehungsweise abgekürzt ›Qualle‹ gerufen wurde.
Ob es wohl an dem Vornamen liegt, dass mir der Nachbar mit jeder Begegnung unsympathischer wird?
»Jetzt ruf da endlich an. Ist doch nichts dabei.« Ich sitze an meinem Schreibtisch und habe die Rufnummer eines Urologen herausgesucht, bei dem ich schon zweimal war. Ein sympathischer Mann, dennoch fällt es mir schwer, das Vorhaben durchzuziehen.
Jimbo und Amy kommen ins Zimmer und schauen mich erwartungsvoll an.
»Wollt ihr Gassi gehen?«, frage ich die beiden.
Sie wedeln aufgeregt mit den Schwänzen. Natürlich wäre es ein Leichtes, das Hundebedürfnis zum Anlass zu nehmen, den Anruf zu verschieben. Doch ich fürchte, dass ich es danach gar nicht mehr machen werde. Entschlossen greife ich also zum Hörer und wähle die Nummer.
»Praxis Doktor Kling«, meldet sich eine freundliche Frauenstimme nach ein paar Sekunden Wartezeit.
»Deerberg, guten Tag. Ich brauche einen Termin bei Ihnen.«
Innerlich atme ich durch. Nun ist es ausgesprochen, und es gibt kein Zurück.
»Haben Sie Beschwerden?«
Soll ich etwa der Assistentin Auskunft über den Grund meines Terminwunsches erteilen?
»Nein, eigentlich nicht. Es ist eher … vorsorglich.«
»Fein«, erwidert sie. »Wir sind nämlich derzeit ziemlich ausgelastet. Können Sie vormittags oder ausschließlich nachmittags?«
»Vormittags.«
»Wunderbar. Dann trage ich Sie für nächste Woche Freitag um elf Uhr ein, Herr Deerberg. Einverstanden?«
»Ja. Danke.«
Zehn Tage Galgenfrist. Vielleicht ist Vicky bis dahin ja schwanger, und ich kann den Termin absagen.