24

Simon

Keine Ahnung, warum ich mich auf die Couch gelegt habe. Eine Etage unter mir steht ein bequemes Bett, während ich auf dem Sofa jede einzelne Bandscheibe spüre. Außerdem macht mich das Ticken der Küchenuhr, das ich durch die geschlossene Tür deutlich höre, wahnsinnig. Allerdings schläft Tilda in Luis’ Zimmer, und wenn ich runtergegangen wäre, hätte ich mich vollkommen einsam gefühlt. Zudem hatte ich gehofft, Vicky würde sich als Zeichen ihres guten Willens zu mir legen – doch falls ich mir das nicht einbilde, höre ich schon ihr penetrantes Schnarchen. Offensichtlich hat sie keine Einschlafprobleme. Im Gegensatz zu mir geht es ihr mit Sicherheit blendend. Ob sie von der hässlichen Qualle träumt?

Verdammt! Wenn mich nicht alles täuscht, werde ich sie wohl verlieren. Dann werde ich den Rest meines Lebens daran denken, sobald ein Münsteraner ›Tatort‹ läuft. Wobei: Den würde ich einfach nicht mehr gucken; am besten gefallen mir eh die Dortmunder Folgen. Bei Hauptkommissar Faber ist die TV-Welt wenigstens ein düsteres Abbild der Realität.

Wie konnte sich diese wunderschöne Liebe bloß so schnell in Luft auflösen? Nur weil ein minderattraktiver Mann nebenan eingezogen ist und Vicky gar nicht merkt, wie sehr sie sich ihm an den Hals wirft? Oder waren wir von Anfang an nicht das Traumpaar, für das ich uns gehalten habe? Haben uns lediglich die Kinder zusammengeführt?

Wie konnte sie so nebenbei übers Heiraten reden? Wir haben beide traumatische Ehen hinter uns, und sie tut, als könnte man spielend leicht einen neuen Versuch starten. Bedeutet ihr der Schritt so wenig? Natürlich denke ich permanent darüber nach. Aber die Entscheidung ist derart gewaltig, dass ich sie aktuell nicht treffen kann. Vicky hingegen würde anscheinend im Vorübergehen einer Zweitehe ihre Zustimmung erteilen. Zwischen unseren Anschauungen liegen Welten – was jedoch noch nicht mal das größte Problem ist.

Wieso hat sie in meinen Sachen geschnüffelt? Meine Privatsphäre ist mir heilig. Wir leben schließlich in einem freien Land. Ein Schnüffelministerium gibt es hier nicht, und falls es eins geben würde, würde ich unter keinen Umständen mit einer der begabtesten Mitarbeiterinnen zusammenwohnen wollen. Verärgert schlage ich die Bettdecke zurück und stehe auf. Bin ich halt allein! Sollte Julius Tildas Vater sein und Vicky mich wegen Pasqualle verlassen, wird das ja eh zu einem Dauerzustand werden.

Jimbo hebt müde den Kopf, Amy schläft seelenruhig weiter. Den weiblichen Wesen in unserem Haushalt scheint es prächtig zu gehen – so selig, wie die schlummern.

»Bleib liegen«, flüstere ich ihm zu.

An der Schlafzimmertür verharre ich kurz und lausche. Okay. Keine Schnarchgeräusche – das habe ich mir wohl eingebildet. Soll ich hineingehen und mich zu ihr legen? Ihre Nähe suchen? Könnten wir uns in dieser verkorksten Nacht versöhnen?

Doch will ich das überhaupt? Immerhin hat sie in meinen Unterlagen gewühlt und es dann auch noch so dargestellt, als wäre es ihr gutes Recht.

Nein! Mit einer solchen Person werde ich mich nicht wieder vertragen.

Fast geräuschlos schleiche ich die Treppe hinunter. Aber mit jeder Stufe wird mein Herz schwerer. Unten ist es vollkommen düster. Vor allem macht mir jedoch die Abwesenheit von Menschen zu schaffen. Ich schalte eine Deckenlampe an und sehe mich im Wohnzimmer um. Dabei wälze ich den Gedanken, wie viel Dreck es verursachen würde, die Zusammenlegung der beiden Wohnungen rückgängig zu machen. Besonders bei mir. Wenn das nötig werden sollte, beauftrage ich eine zuverlässige Firma und lasse es mir währenddessen in einem Luxushotel gutgehen. Allerdings nicht da, wo ich mit Vicky die Auszeit genossen habe. Da lauern zu viele Erinnerungen!

Darüber nachzudenken, wie viel Arbeit mich das alles kosten wird, lässt meinen Puls steigen. Das Ganze bloß, weil sie ihre Nase nicht aus meinen Angelegenheiten heraushalten konnte! Warum hat sie mir das angetan? Wieso hat sie sich auf dieses Niveau herabgelassen? Oh Gott! In wen habe ich mich da verliebt? Gefrustet laufe ich in die Küche und reiße eine Schublade auf. Trotz der späten Uhrzeit steht mir der Sinn nach Schokolade oder Chips. Leider befindet sich weder das eine noch das andere in meinen Vorräten. Ob Vicky wohl …

Nein! Ich werde nicht in ihrem Eigentum herumschnüffeln! Das würde sie garantiert gegen mich verwenden, wenn sie mich erwischen würde. Ha! So einfach mache ich es ihr nicht!

Dass mir Nervennahrung fehlt, treibt mich jedoch in den Wahnsinn! Weshalb lagern wir das ungesunde Zeug auch bei ihr? Immerhin bezahle ich die Hälfte der Lebensmittelkosten! Ungerecht! Wahrscheinlich futtert Luis immer Tildas Anteil heimlich auf, und mein Liebling sagt nichts, um nicht als Petze dazustehen.

Verärgert öffne ich die übrigen Schränke. Aber nirgendwo zwischen den Pfannen, Töpfen und Gewürzen hat sich ein Schokoriegel versteckt. Ich erinnere mich genau an die Packung Mini-Toblerone, die wir beim letzten gemeinsamen Einkauf aufs Kassenband gelegt haben. Davon habe ich bislang kein einziges Stück abbekommen. Wo sind die alle hin? Findet sie mich etwa zu fett? Will sie mir damit deutlich machen, dass ich nicht mehr so durchtrainiert bin wie die Qualle?

»Das lasse ich mir nicht länger bieten!«

Zornig werfe ich die Schranktür zu. Mit dem Süßkramdiebstahl hat sie die Grenze endgültig überschritten!

Ich gehe nach oben und finde die Tüte sofort. Allerdings sind nur noch drei der Miniriegel übrig. Drei! Bestimmt ist mein armer Schatz leer ausgegangen. Wir werden von den Mahlers nach Strich und Faden verarscht! Aus Prinzip nehme ich die übriggebliebenen Exemplare an mich, reiße die erste Verpackung auf und stopfe mir die Schokostücke in den Mund. Ohne den Geschmack richtig zu genießen, schlucke ich sie hinunter, sobald sie klein genug sind.

Ich muss Tilda vor diesem Irrsinn beschützen! Je schneller, desto besser. Statt länger darüber nachzudenken, beschließe ich, zu handeln. Möglichst leise nähere ich mich dem Kinderzimmer und drücke die Klinke hinunter. Hoffentlich machen mir Jimbo und Amy keinen Strich durch die Rechnung. Die Kinder schlafen friedlich in einem Bett, jedoch beansprucht Luis eindeutig mehr als die Hälfte des Platzes. Außerdem schnarcht er dezent. Scheint wohl eine Familientradition zu sein! Ich trete an die Bettkante, schlage vorsichtig die dünne Decke zurück und hebe Tilda heraus. Sie gibt grummelnde Geräusche von sich, die ich als Zustimmung werte. Wer möchte schon neben so einer Schnarchnase schlafen?

Die Hunde geben keinen Ton von sich, sodass ich Tilda ohne Zwischenfall nach unten transportieren kann. Nachdem ich sie hingelegt habe, streichle ich ihr über die Haare und küsse ihre verschwitzte Stirn.

»Träum was Schönes«, flüstere ich.

Kaum habe ich die Kinderzimmertür geschlossen, fühle ich mich weniger allein. Nun ist es fast so wie früher. Tilda und ich gegen den Rest der Welt. Solange wir zusammenhalten, kann mich nichts umwerfen. Doch was, wenn ich gar nicht ihr Erzeuger bin? Wird sie sich dann eines Tages von mir abwenden? Meine Fantasie malt sich allerlei Schreckensszenarien aus. Irgendwann will sie vielleicht wissen, wem sie gewisse Charakterzüge zu verdanken hat und kontaktiert ihren leiblichen Vater. Sie verstehen sich prächtig, und anschließend beschließt sie, bei ihm einzuziehen. Oder sie bekommt eine schreckliche Erbkrankheit, die bloß heilbar ist, wenn Julius ihr Knochenmark spendet, wodurch die beiden zu einer verschworenen Einheit werden. Oder …

»Hör auf!«, befehle ich mir. »Geh ins Bett!«

Leider beendet mein Kopfkino auch dort nicht die Vorstellung des Grauens. Hat Katy Perry nicht mal davon gesungen, sich wie eine Plastiktüte zu fühlen, die vom Wind fortgeweht wird? Genauso geht es mir gerade. Schutzlos bin ich den sich abwechselnden Horrorvisionen ausgeliefert. Trennung von Vicky, fehlende Verwandtschaft zu Tilda, Trennung von …

Um diesen Kreislauf zu stoppen, stehe ich nach einer Weile wieder auf. Ich muss das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Wer sich treiben lässt, ist ein Opfer – und ein Opfer bin ich garantiert nicht.

Im Wohnzimmer fällt mein Blick auf die Holztreppe, die unsere Wohnungen verbindet. Meine Privatsphäre kann ich wohl nur schützen, indem ich Vicky den Zutritt verwehre. In meinem völlig übermüdeten Zustand habe ich die Vision, wie ich mit einer Axt das Holz kleinhacke. Ein guter Plan, den ich jedoch außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten durchziehen sollte; nicht, dass Herr Schulze noch in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Trotzdem ist der Grundgedanke richtig. Ob ich mit den in der Abstellkammer gehorteten Dingen einen Zaun errichten kann? Warum hat man eigentlich keinen Maschendraht zur Verfügung, wenn man ihn mal dringend benötigt? Typisch! Ich summe ›Maschendrahtzaun‹ vor mich hin und mustere die fünf großen Kartons, die ich in der Kammer gestapelt habe. Darin befinden sich hauptsächlich Bürounterlagen, die ich fürs Finanzamt aufbewahren muss, aber nicht bei der täglichen Arbeit benötige.

»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, flüstere ich mit einem diabolischen Grinsen.

Ich ziehe den ersten Karton von dem Stapel herunter und befördere ihn ächzend zur Treppe. Eigentlich müsste ich ihn ganz nach oben stellen – doch für diesen Kraftakt fehlt mir der Wille. Deshalb begnüge ich mich damit, ihn auf der vorletzten Stufe zu deponieren.

Ein paar Minuten später betrachte ich schweißgebadet mein Werk. Die Treppenkonstruktion ist breit genug, um zwei Kisten nebeneinander Platz zu bieten. Darauf habe ich zwei weitere gehievt und zur Krönung die fünfte obendrauf gestellt. Wunderbar! Endlich ist meine Privatsphäre vor unangemessenen Schnüffeleien geschützt. Nun muss ich mich mit Vicky Mahler lediglich noch über eine Umgangsregelung für die Hunde einigen. Außerdem spüre ich dank der körperlichen Tätigkeit einen Anflug von Müdigkeit.

»Papi?«, erklingt eine verwirrte Stimme.

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Tilda steht in meinem Schlafzimmer.

»Ja, Schatz?« Müde reibe ich mir die Augen.

»Warum war ich in meinem Bett?«

»Tja, das kann ich dir genau erklären.«

»Auf der Treppe steht Zeug im Weg. Wo ist Amy? Und Jimbo? Die können da nicht vorbei.«

»Also, Engelchen, das verhält sich wie folgt.« Um Zeit zu gewinnen, setze ich mich erst einmal auf.

»Komm mit«, sagt sie und streckt mir eine Hand entgegen.

Offenbar erwartet sie, dass ich genauso überrascht sein werde wie sie. Da mein Gehirn noch nicht auf Hochtouren läuft, beschließe ich, ihr zu folgen. Vielleicht fällt mir unterwegs eine kindgerechte Erklärung ein, die meine Kleine von der Notwendigkeit der Grenzziehung überzeugt.

»Guck!« Fassungslos zeigt sie auf die Kartons.

»Tilda!«, ruft plötzlich eine verängstigte Vicky. »Süße, wo bist du?«

Anscheinend will meine Tochter dem Feind antworten, aber ich halte ihr rasch den Mund zu.

»Scheiße!«, entfährt es Vicky. »Tilda!«

Die honigsüße Verräterin entwindet sich meinem Griff.

»Ich bin hier unten!«, ruft sie und schaut mich vorwurfsvoll an.

Ich lasse enttäuscht die Schultern sacken.

»Geht’s dir gut?«, fragt Vicky.

»Ja. Guck mal!«

Vicky kommt die Treppe herunter. »Ich dachte, du wärst …« Abrupt bleibt sie stehen. »Was zum Teufel …« Sie sieht mich ungläubig an.

»Das nennt man Schutz der Privatsphäre«, entgegne ich. »In meinen Sachen wühlen? Hallo? Du hast hoffentlich nicht wirklich geglaubt, ich würde das akzeptieren.«

»Spinnst du?«, fährt sie mich an.

»Pass auf, wie du mit mir redest«, warne ich sie.

»Ich gehe in Luis’ Zimmer und sehe, dass Tilda da nicht mehr liegt. Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe?«

»Lächerlich! Was sollte ihr denn passiert sein? Hattest du Angst, sie könnte vom Schnarchen deines Sohnes geplatzt sein?«

»Nein!«, keift sie. »Ich hatte Angst, sie könnte schlafwandelnd die Treppe runtergefallen sein. Was veranstaltest du denn für ein Theater?«

»Ich schütze nur mein Eigentum!«, brülle ich zurück.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tilda mich mustert.

»Du hast die Kisten da hingestellt?«, fragt sie.

»Das erkläre ich dir später.«

»Wieso?«

»Weil dein Vater bescheuert ist!«, mischt sich Vicky ein.

Hat sie das Wort ›Vater‹ etwa gerade sarkastisch betont?

»Sagt die Frau, die ihren Sohn auf meine Kosten bereichert!«, erwidere ich wütend.

»Bitte?«

»Toblerone!« Anklagend richte ich einen Zeigefinger auf sie.

»Hat dir gestern Nacht ein Alien das Hirn rausgesaugt?«

»Nein. Mir wurden bloß die Augen geöffnet.«

Zu allem Überfluss taucht nun Luis neben seiner Mutter auf. Also genau jener Junge, den man sonst nie aus dem Bett bekommt.

»Luis!«, ruft Tilda und klingt wie eine Frau, deren Geliebter auf der falschen Seite der Mauer von Grenzschützern festgehalten wird.

»Tilda!«

Um die Dramatik zu steigern, fängt Amy an zu jaulen, während Jimbo kläfft.

»Das ist ja ein Irrenhaus hier!«, schreie ich.

»Und du bist der Oberirre!«, stellt Vicky wenig charmant fest.

Meiner Tochter wird das alles zu viel. Sie bricht in hemmungsloses Schluchzen aus. Um sie nicht weiter zu traumatisieren, packe ich sie an der Hand und ziehe sie hinter mir her in die Küche.

»Ich verstehe das nicht«, jammert sie herzzerreißend.

»Es tut mir leid, Engelchen. Die letzten Monate waren einfach ein schrecklicher Fehler, den wir jetzt ausbügeln müssen.«

Tränen schießen ihr in die Augen, und sie drückt sich an mich. Ich hebe sie hoch, sie schmiegt ihr Gesicht an meinen Hals, und im nächsten Moment weinen wir beide.