15
Vicky
»Frau Mahler, hier ist Besuch für Sie, ein Herr Mahler.« Der vorwurfsvolle Unterton des Pförtners ist kaum zu überhören. Ist die etwa verheiratet, obwohl sie mit dem Deerberg liiert ist?, lautet die stumme Anklage. Dabei könnte es sich theoretisch auch um meinen Bruder handeln. Tut es aber leider nicht. »Kann ich ihn zu Ihnen hochschicken?«
»Ja, lassen Sie meinen Exmann bitte rein.«
Was will der denn, wieso stört er mich bei der Arbeit? Gut, ich arbeite gerade sowieso nicht, sondern schreibe mir E-Mails mit Cordula. Aber immerhin bekommt das niemand mit, ganz im Gegensatz zu Thomas’ Auftritt.
Er macht sich nicht mal die Mühe, anzuklopfen. Dynamisch reißt er die Tür auf, sagt: »Hey, ich hoffe, ich störe nicht«, und kommt mit ausladenden Schritten näher.
»So mittel. Alles okay soweit? Warum hast du nicht angerufen? Im Büro ist es ehrlich gesagt nicht optimal.«
»Ich weiß, Vicky, ich weiß.« Theatralisch wischt er sich mit der flachen Hand übers Gesicht.
Vermutlich erzählt er mir gleich was von irgendeiner Krise, die er gerade durchmacht. Dabei zweifelt er eigentlich nie an etwas. Schon gar nicht an sich selbst.
»Es könnte sein, dass ich in einer Krise stecke.«
Bingo.
»Definiere Krise«, sage ich und bitte ihn per Handzeichen, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen.
Er entledigt sich seiner schwarzen Lederjacke, spannt die Brustmuskeln an, knackt hörbar mit den Fingerknöcheln und setzt sich. Was ich früher attraktiv fand, empfinde ich heute nur noch als lächerlich. Die männliche Attitüde ist nichts weiter als überzogenes Gehabe. Ein Hosenknopf seiner Jeans ist wie zufällig geöffnet; güldene Boxershorts blitzen darunter hervor. Mit Sicherheit hat er stundenlang vorm Spiegel getestet, welcher Knopf strategisch am günstigsten offensteht, um einen Blick auf sein Gemächt zu offenbaren. Sein dunkelgraues T-Shirt ist versifft. Mein Ex hat seine besten Tage längst hinter sich.
»Nun ja, Püppi …«
»Nenn mich nicht Püppi.«
»Sorry, Macht der Gewohnheit. Nimm es als Kompliment, wir werden schließlich alle nicht jünger.«
»Was soll das denn heißen?« Arschloch. So bescheuert die Anrede ›Püppi‹ auch sein mag, zu alt bin ich dafür ja wohl noch lange nicht.
»Nun lass uns nicht streiten«, sagt er, beugt sich vor und greift quer über meinen Schreibtisch nach einer Kekspackung.
Was habe ich nur an diesem unverschämten Typen gefunden? Gott sei Dank hat Luis fast gar nichts von ihm geerbt.
»Ich würde gern ans Meer. Mal wieder weg von hier.«
»Du zitierst Cro? Fällt dir nichts Eigenes ein?«
»Ich zitiere gar nichts, hör mal! Ich lege dir gerade meine ehrlichsten Gefühle zu Füßen, und du denkst, ich singe ein Lied von dem Milchbubi mit Pandamaske. Das ist echt traurig!«
Schon klar. Ich glaube ihm kein Wort. Statt etwas zu erwidern, hebe ich nur die Augenbrauen und bedeute ihm, seinen Vortrag fortzuführen.
»Der Sinn des Lebens – wo ist der? Ich bin auf der Suche, ich weiß nicht mehr, wer ich bin, was ist mein Auftrag, wo soll ich hin?«
Ach Gottchen. Das ist neu. Jetzt hat er also eine Sinnkrise.
»Vielleicht«, schlage ich vor, »suchst du dir eine Arbeit, die dir richtig Spaß macht. Was hältst du davon?«
»Arbeit, Arbeit … Ist das wirklich der Grund des Daseins? Da muss doch noch mehr sein, etwas Größeres, verstehst du?«
Nee, versteh ich nicht. Zumindest nicht bei jemandem, der zuvor den Sinn des Lebens in Puffs und Spielhallen fand.
»Willst du einer Sekte beitreten, oder was? Spuck es schon aus, Thomas, ich hab zu tun. Was genau willst du mir eigentlich sagen?«
Er macht erneut die albernen Fingerknackgeräusche und schaut mich eindringlich an.
»Mein lieber Freund Rocky und ich wollen für ein paar Monate abhauen. Herausfinden, wer wir sind. Vielleicht abhängen, vielleicht ziellos rumgondeln, T-Shirts bepinseln, was weiß ich … Jedenfalls brauche ich dafür deine Hilfe.«
»Moooooment!« Ich glaub, mein Schwein pfeift! Durchatmen. Nur nicht aufregen. »Wir haben ein Kind, schon vergessen? Du kannst nicht aussteigen. Das kann ich auch nicht. Eltern haben ihre verdammte Pflicht zu erfüllen, auch du!« Ich werde laut und schrill, kann nichts dagegen tun. Wenn ich mich nicht beruhige, bewerfe ich ihn gleich mit den Kieselsteinen aus dem Tischbrunnen.
»Werd nicht pissig, Vicky, wir wollen beide das Gleiche, ehrlich!«
»Das wollen wir nicht! Ich will nicht aussteigen! Vergleich meine Wünsche nicht mit deinen absurden Ideen!«
»Doch, wir möchten das Beste für Luis. Du und ich. Reg dich nicht auf, bitte, hör mir erst zu. Und dann kannst du immer noch rumtoben, einverstanden?«
Ich atme tief ein und aus. Bestimmt haben er und sein dämlicher Kumpel Rocky eine Wahnsinnsidee, wie sie dem Sinn des Lebens auf die Spur kommen können »Okay. Erzähl.«
»Rocky hat einen geilen Trip angeboten bekommen. Drei Monate durch Südamerika mit einem Camper. Nur wir beide, keine Weiber oder so. Down to earth, back to the roots. Die Finanzierung ist gesichert, weil wir offiziell über das Abenteuer bloggen sollen. Aber das ist nur Fake, in Wirklichkeit verfasst jemand anders für uns die Beiträge. Rocky und ich machen also die Reise, und der Inhaber des Blogs bezahlt das. Genial, oder?«
»Warum fährt er nicht selbst? Das ergibt überhaupt keinen Sinn, Thomas, das klingt komplett plemplem. Weshalb sollten ausgerechnet Rocky und du durch Südamerika brettern, wo du noch nicht mal Spanisch kannst?«
»Das ist typisch für dich, diese kleinkarierte Denke. Man kann sich auch mit anderen Mitteln verständigen.«
»Klar, die Sprache der Liebe, wie konnte ich das vergessen?«, ätze ich. Vielleicht gehen Rocky und mein Verflossener als Chippendales für Arme auf große Tour.
»Lass uns wieder auf die sachliche Ebene zurückkommen. Der Typ mit der Kohle schuldet Rocky noch einen Riesengefallen. Ich kann nicht drüber sprechen, ist nicht ganz legal, haha, hat letztendlich null mit mir zu tun. Aber darum bleibt der Typ hier, und wir springen für ihn in die Bresche«, erklärt er.
Ich rolle die Augen. Wirklich ein wahnsinniges Opfer – drei Monate bezahlter Urlaub. Er ist ein wahrer Held. Herr, lass Hirn regnen. Der Vater meines Kindes hat einen Vollschaden.
»Und jetzt kommst nämlich du ins Spiel. Da möchte ich dich ins Boot holen«, sagt er.
»Mich?«, frage ich und rette die Kekse. »Na, da bin ich gespannt. Wo ist der Haken?«
»Haken würde ich es nicht direkt nennen. Ich wäre ja ein Vierteljahr völlig weg von der Bildfläche, ne?« Er reißt die Augen auf und sieht mich fragend an.
Verstanden.
»Und sobald ich weg bin, bin ich sozusagen an diesem Ort handlungsunfähig, ne?«
Ich nicke.
»Das heißt, drüben bin ich schon aktiv. Im Rahmen meiner Möglichkeiten, versteht sich. Wenn ich zurückkomme, bin ich vermutlich ein anderer Mensch. Besser, ruhiger, mehr bei mir. Soweit klar?«
Klar.
»Um mich frei zu fühlen, will ich mit Konsum, Besitz und Geld nichts zu tun haben. Mich einmal nur mit den Dingen beschäftigen, die wirklich existenziell für uns sind.«
»Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe, Thomas Mahler.«
Unbeirrt labert er weiter. »Kann ich für die Zeit die Unterhaltszahlungen aussetzen? Das wäre mir tierisch wichtig, Vicky. Du würdest mir einen Herzenswunsch damit erfüllen, echt wahr.«
»Weißt du, womit du mir einen Herzenswunsch erfüllen würdest?«
»Ich ahne es.«
»Fall auf der Stelle tot um.« Feindselig springe ich auf und verschränke die Arme vor der Brust. Ich gehe um den Tisch herum, bleibe vor dem Spinner stehen und schaue abschätzig zu ihm runter. »Das, mein Lieber, kommt überhaupt nicht in die Tüte. Ich arbeite hart für unser Leben, sehr hart. Von früh bis spät sitze ich in dieser miefigen Bude und lasse mich von meinem Chef, Kollegen und nervigen Kunden herumkommandieren. Wenn ich abends heimkehre, wartet dort unser Sohn sehnsüchtig auf seine Mutter. Gott sei Dank gibt es Simon, Tilda und die Hunde, ansonsten hätte mich das schlechte Gewissen vermutlich längst umgebracht. Und dann kommst du daher und willst den Unterhalt streichen, obwohl du ohnehin nur den Mindestsatz zahlst? Ich glaube, bei dir piept’s!«
Er schluckt und reibt sich nervös die Oberschenkel. »Und wenn ich im Gegenzug anböte, dass Simon Luis adoptieren kann?«
In meinen Ohren rauscht es. Er will nicht mehr Luis’ Papa sein? Wie kann er nur! Andererseits ein verlockender Gedanke … Simon ist ein so viel besserer Vater als Thomas, auch wenn der seinen Sohn durchaus liebt. Und der Kleine liebt seinen Papi. Bei einer Adoption käme ich meinem Traum von einer richtigen Familie näher, auch wenn Marion sich eher die Hand abhacken würde, als Tilda zur Adoption freizugeben. Was ich sehr gut nachvollziehen kann. Für kein Geld der Welt gäbe ich mein Kind her!
»Dass du das kannst«, flüstere ich fassungslos.
Tränen steigen mir in die Augen. Was würde Luis empfinden, wenn er realisieren müsste, dass sein Vater ihn nicht mehr will? Wie könnte ich ihm das erklären?
»Wieso weinst du denn?«, fragt Thomas hilflos. »Ich dachte, das würde dich vielleicht sogar freuen. Hm, vermutlich werde ich euch Frauen nie verstehen.« Er macht eine Pause und denkt nach. »Simon ist der Fang deines Lebens, das muss ich neidlos anerkennen. Alles, was ich dir nicht geben konnte, bekommst du jetzt von ihm – und du hast es wirklich verdient. Luis blüht ebenfalls total auf, seitdem ihr zusammenwohnt. Ständig erzählt er von Simon, Tilda, Jimbo und Amy. Ihr seid eine heile Familie wie aus der Werbung. Das wolltest du doch immer. Darum kam mir der Gedanke. Aber selbstverständlich liebe ich den Kurzen über alles, das weißt du doch. Oder?«
»Hm. Ja, klar weiß ich das. Trotzdem … Außerdem: ich brauche das Geld. Und wenn du so lange weg bist, würde Luis dich total vermissen. Sogar ich würde dich vermissen.«
»Ernsthaft? Das erklärt einiges …«, sagt er und setzt sein Verführerlächeln auf.
»Du Depp, doch nicht so. Nein, weil wir dann kein kinderfreies Wochenende mehr hätten. Das fände ich schon krass. Nee, Thomas, ich weiß echt nicht …«
»Denk doch in Ruhe drüber nach, auch zusammen mit Simon. Ich finde ihn wirklich voll okay, der ist ein super Daddy und dennoch kein Weichei. Er wäre quasi ein Ersatz, aber der richtige Vater bliebe natürlich ich. Besser für Luis sorgen könnte er sowieso, das ist klar.«
Mir geht ein Licht auf. »Hä, meinst du, du zahlst gar nichts mehr, falls ich zustimme?«
Was für ein Penner! Möglicherweise ist der Vorschlag mit der Adoption doch nicht so abwegig. Zumal dann endlich diese fürchterliche Einflussnahme des asozialen Rocky auf mein Kind entfiele. Erst neulich kam der Kleine nach einem Papa-Wochenende zurück und trällerte laut ›Zehn nackte Friseusen‹.
»Na ja, wenn er per Gesetz nicht mehr mein Sohn ist, muss ich logischerweise nichts mehr für ihn abdrücken. Das ist der Preis der Freiheit.«
»Im Schönrechnen warst du schon immer ganz große Klasse. Na gut, ich denke drüber nach. Auch über deinen Selbstfindungstrip. Ich werde mit Simon über alles sprechen, mir raucht der Kopf. Du kommst auf Ideen, das ist unglaublich.«
»Tja, es gab Zeiten, in denen dich das angetörnt hat, Püppi.«
»Raus.«
»Ach, wir können uns doch nie lange böse sein. Ich lass dich jetzt allein. Tschüss.«
Er hat leider recht.
»Tschüss«, sage ich und seufze tief, fahre den Computer runter und mache Feierabend.
Vor unserer Wohnungstür stehen zwei mit Altglas gefüllte Müllbeutel, ordentlich mit Gummibändern verschlossen. Es handelt sich um unseren Müll, das erkenne ich bei genauerem Hinsehen. Seltsam. Es gibt niemanden in der Familie, der so was machen würde. Schon gar nicht Simon. Mülltrennung ist nicht gerade sein Spezialgebiet. Meines allerdings auch nicht.
Ich schließe die Tür auf und werde von den Hunden freudig begrüßt. Mein Blick fällt auf sorgsam aufgereihte Schuhe und blitzblanke Fliesen. Es riecht nach Zitrone und Keksen.
Moment mal … Svetlana! Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich wusste gar nicht, dass heute ihr erster Tag war.
Ihr erster Tag ist.
»Hallo, Vicky, da bist du ja! Nicht ausrutschen auf geschrubbte Boden, hörstu, Putze von Russland ist gleich fertig, hahaha!«
Sie hat einen lilafarbenen Hausanzug aus Nickistoff an und die Haare zu einem dicken Zopf geflochten. An den Füßen trägt sie gelbe Crocs mit Marienkäfer-Pins. Geschminkt ist sie heute gar nicht, und die Hände stecken bis zu den Ellenbogen in rosa Gummihandschuhen.
»Hey, das ist ja eine Überraschung. Kommst du klar? Hat Simon dir alles gezeigt?«
Wie fürchterlich naiv ich bin. Wehe, er hat ihr alles gezeigt.
»Ist angenähm hier, Chefin, mein Bester hat Einarbeitunk gemacht perfekt, ist großer Schatz, weißt du.«
»Weiß ich.«
Sie zwinkert mir zu. Erstaunlicherweise mag ich sie. Was daran liegen kann, dass sie meine Wohnung zum Glänzen gebracht hat. Wow! Andächtig gehe ich in die Küche und staune nicht schlecht.
»Du hast ja sogar die Gardinen gewaschen, ich fasse es nicht.«
»Ach, geht ruckizucki, hab ich Waschmaschine angemacht, dreht sich von allein, hahaha, dann aufhängen, Putze hat fertig. Kinder wollten backen.« Sie guckt schuldbewusst. Oh-oh. »Konnte nicht nein sagen, tut mir leid, hab ich zubereitet schnelle Plätzchenteig. Sind beide satt und gucken in Glotze. Böse?«
»Wieso sollte ich denn böse sein?«, frage ich entgeistert. Sie hat nicht allen Ernstes Kekse mit den Kindern gebacken – und das, obwohl die Küche aussieht wie neu? »Ich bin begeistert. Kommst du jetzt jeden Tag? Du bist ein Engel.«
»Komm ich zweimal in Woche, sagt Simon. Er hat hingelegt sich, musste ausschlafen. Männer!«
Na ja. Ich denke besser nicht darüber nach, dass Superwoman aus dem Ostblock meinen Liebsten geschafft haben könnte. Das wäre zu klischeehaft. Stattdessen streiche ich, nachdem Svetlana den Raum verlassen hat und sich an einem Türrahmen im Flur zu schaffen macht, verstohlen mit dem Zeigefinger über das oberste Brett des Gewürzregals.
Sauber. Ich liebe Putze von Russland.